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#4: Verbindung suchen, finden, halten

Von fehlender Verbindung ist ja immer wieder die Rede. Wir nennen das Einsamkeit, verstehen sie als ungesund und schieben die schlechte Karte alle Jahre wieder anderen demografischen Gruppen zu.

Wenn Einsamkeit vor Corona noch vor allem “die Alten” betraf, war sie während und nach der Pandemie dann ein Problem “der Jugend”. Und heute, wo wir die Jahre 2020-2022 kollektiv verdrängt haben, diagnostizieren wir nicht mehr Covid sondern Einsamkeit als Epidemie und neue Männergrippe (aka “male loneliness epidemic”).

Aber wenn die Einsamkeit immer wieder anderen Bevölkerungsgruppen zugeschrieben wird, heißt das dann, dass sie auch immer wieder den Besitzer wechselt? Also, dass für die Alten und die Jugend das Problem jetzt gegessen ist, weil die Männer es nun an der Backe haben? Oder schauen wir uns die gleiche Einsamkeits-Statistik einfach immer nur durch verschiedene Linsen an, die so unterschiedlich gar nicht sind? Männer haben nunmal viele Überschneidungen mit den Gruppen “jung” und “alt”.

Und was ist mit den anderen Geschlechtern? Viele Fragen, viele Sorgen und wenig Ideen, wenn es darum geht, der Einsamkeit etwas entgegenzusetzen. Nämlich durch den Aufbau von Verbindung. Und nein, ich meine nicht zum Wlan - ganz im Gegenteil.

Blog

Ich habe diese Woche im Zeichen des Verbindung Findens verlebt und bei all den Aktivitäten, Gesprächen und Erkenntnissen ein zentrales, Verzeihung, verbindendes Element entdeckt: Musik.

Das mag für einige ein vollkommen un-überraschendes Ergebnis sein, aber bear with me here. Denn was mich überrascht hat, ist die Vielfältigkeit der Möglichkeiten und die relativ einfache Zugänglichkeit, mit der Musik beim Verbinden helfen kann. Mit anderen Menschen und dem eigenen Selbst. Und diese Woche habe ich mal ein paar exotischere Wege als die Jamsession mit der Band oder den Konzertbesuch mit Freund*innen ausprobiert.

Mit dem Selbst fing es an

Eine Freundin berichtete mir vor ein paar Wochen aufgeregt von all den Erfahrungen, die bei ihr in nächster Zeit anstanden. Aus ihrem begeisterten Redeschwall über Ecstatic Dance Circles und Mushroom Churches fiel ein Event heraus, das in mir einen Ton anschlug. Es sollte um Musik induzierte Trance gehen; high sein, aber eben auf Klängen statt Drogen. Beim ersten Mal habe sie jede Menge Bilder vor ihrem inneren Auge gesehen, schwärmte die Freundin. Wie auf einem Trip, nur eben ausgelöst durch laute Musik.

Ich kannte ja entspannende ASMR-ähnliche Soundbaths wie im Vabali, aber dabei nüchtern halluzinieren???

Klang spannend, also ging ich mit. 

Hermannplatz, Hinterhof. Ins Obergeschoss eines Gebäudes für Kreative und Kunstschaffende hatte ich am Abend der Musik-Meditation mein eigenes Thema mitgebracht. Ich hatte seit Tagen über unvollständige, da unbewusste Abschiede nachgedacht. Ein wiederkehrendes Motiv in meiner Geschichte, das mich schwermütig machte und mich die Sehnsucht nach Verbindung spüren ließ. Ich wollte dieses Thema endlich in Ruhe mit mir selbst bearbeiten, aber war dankbar, dabei nicht allein zu sein.

Der Raum roch leicht nach Kerzen, Räucherstäbchen und Reformhaus. Dieser typische, schwach säuerliche Geruch von Esoteriker*innen über 60. Verteilt auf gemütlichen Matratzen lagen ca. 15 andere Personen, die das hier gemeinsam mit mir erlebten. Die sich auch die Zeit nahmen, für mehrere Stunden nichts anderes zu tun, als mit den Ohren zu beobachten, was um sie herum geschah und zu fühlen, was das in ihnen auslöste. Wenn ich alleine versuche zu meditieren, bekomme ich FOMO. Macht man es zum Gruppenevent, habe ich endlich kein schlechtes Gewissen mehr, dass ich währenddessen nicht “produktiv” bin. Aber das ist ein anderes Thema.  

Nach einer kurzen Atemübung legten wir uns quasi kollektiv schlafen. Ich zog die Wolldecke über mich und die Schlafmaske über meine Augen. Und dann begann die Musik. 

Starke Bässe dröhnten schon bald aus den Lautsprechern. Da waren Tiergeräusche, Naturklänge, rhythmische Trommeln und in für mich fremden Sprachen klagende Stimmen. Auch live im Raum kamen Instrumente zum Einsatz, die alles zusätzlich zu einem haptischen Erlebnis machten. So intensiv spürbar waren die Vibrationen einer Trommel über meinem Körper, dass ich dachte, ihre Schallwellen wären sichtbar, würde ich mir die Schlafmaske vom Gesicht ziehen.

Aber dafür ging zu viel Interessantes hinter meinen geschlossenen Augenlidern ab. 

Ich würde nicht sagen, dass ich wie beim Träumen unkontrolliert durch mentale Bilder stolperte. Stattdessen imaginierte ich mich für die erste Stunde ganz absichtlich an unterschiedliche Orte und Zeitpunkte in meinem Leben, mit denen ich mich auseinandersetzen wollte. Aber irgendwann warf mein Hirn auch Bilder und Eindrücke aus, die sich nicht anfühlten, als hätte ich sie mir bewusst und mühsam selbst erdacht. Sie waren einfach da. Wie ein Serviervorschlag dafür, worüber ich als nächstes sinnieren sollte. 

Ich hatte mein Zeitgefühl vollständig verloren, als die Leiterin der Meditation uns irgendwann wieder in die Realität des Raums zurückholte. Als ich die Schlafmaske abnahm, war es deutlich dunkler als noch zuvor. Sonnenuntergang lag lange hinter uns, im Schein der Kerzen flackerten die verträumten Gesichter der anderen auf.

Für die nächsten zwanzig Minuten teilte die Gruppe Tee, Schokolade und Eindrücke über das gerade Erlebte. Ich blieb stumm, weil ich fühlte, dass es mir darum ging, die Verbindung zu meinen Gedanken und Erinnerungen zu halten, die die Meditation so stark in den Vordergrund gebracht hatte. Das eigene innere Erleben in Worte für die Außenwelt zu fassen, gibt ihm eine konkrete Form, in die es meistens nicht vollständig hineinpasst. Außerdem war ich unheimlich zufrieden damit, in der Gesellschaft einer kleinen, ruhigen Gruppe von Menschen nur die Verbindung zu mir selbst aktiv halten zu müssen. 

Ich wusste ja, ich würde mich ein paar Tage später geplanterweise sehr direkt und auf die schönste aller Arten mit vielen anderen Menschen verbinden. Nämlich beim One Day Choir.

Ein Tag, ein Chor, ein Song

Ich krieg schon wieder Gänsehaut, wenn ich nur dran denke.

Mit einer Gruppe von Menschen mehrstimmig, harmonisch und aus vollem Halse zu singen, hat etwas transzendentes. Besonders, wenn die Gruppe wirklich groß ist und das Musikstück ihnen allen etwas bedeutet.

Das traf ganz genau so auf mein erstes One Day Choir Event zu. Ungefähr 300 Menschen (viele glitzernd und queer) waren dem Aufruf des New Yorker Gaia Music Collective (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) gefolgt und haben sich zum ersten mal (endlich!) in Berlin getroffen, um Chappell Roans “Pink Pony Club” zu proben, zu singen und zu fühlen. Einmalig und nur für uns Anwesende. Keine Aufführung, kein Perfektionsdruck, kein zweites Treffen derselben Gruppe von Menschen. Einfach nur gemeinsam singen und fühlen, wie stark die hörbaren Harmonien auch die inneren Harmonien beeinflussen.

Noch Tage danach bin ich immer wieder zu Tränen gerührt, wenn ich die von Dirigent Kenter Davies sechs-stimmig arrangierte Chor-Version des Titels anhöre. Ich verfalle ständig und aus dem Nichts ins Singen meiner Stimme (2. Alt, woop woop) - beim Kochen, beim Schreiben, mitten in Unterhaltungen. Ich habe das Gefühl, keinen Ohrwurm von einem Lied zu haben, sondern von seiner Bedeutung.

Kenter hat das wundervoll gemacht. Er hat nicht nur - wie in den zahlreichen, mitreißenden Videos auf Social Media sichtbar ist - leidenschaftlich und mit großem Feingefühl den Chor dirigiert. Er hat auch einen Raum eröffnet, in dem sich alle Mitwirkenden willkommen, wohl und gehört fühlen konnten; in allem, was gemeinsames singen, proben und der Austausch über die Gefühle, die dadurch entstehen, mit sich bringt.

Was ich an diesem Feiertag gemeinsam mit einer kleinen Gruppe von Freund*innen erleben durfte, war keine Chorprobe, sondern eine Liebeserklärung. An die Musik, das Tanzen und die Verbindung, die zwischen Menschen entstehen kann, die sich und einander akzeptieren. Berührung ohne Berührung. Verbindung ohne Verbindlichkeit. Wie erleichternd es sein kann, wenn man Verbundenheit spüren darf, die nicht auf Teufel komm raus für mehr als einen Nachmittag halten muss.

Sollte Gaia jedenfalls noch einmal nach Berlin kommen, werde ich mich ohne zu zögern wieder anschließen. Und ich empfehle dieses Erlebnis uneingeschränkt allen Menschen, die gerne singen. Aber auch denjenigen, die “nicht singen können”, keine Noten lesen können oder noch nie Teil eines Chors waren. Um die Performance muss es beim Singen nicht gehen. Allein der Effekt, den tiefes atmen für ein paar Stunden auf Körper und Geist haben kann, ist enorm. Wenn man dabei noch in hunderte glückliche Gesichter blickt, ist es wie die Wirkung von drei Sitzungen Therapie auf einmal, versprochen 😉

Aber wie jeder Rausch kann auch das high sein auf Verbindung einen Kater nach sich ziehen.

Als ich am Tag danach eine Tarot-Karte ziehen möchte, um einen Impuls dazu zu bekommen, was ich mit der ganzen erlebten Verbundenheit zu mir und anderen nun machen soll, springt mir schon beim Mischen eine einzelne Karte aus dem Deck entgegen:

Den Eremiten, den Einsiedler interpretierte ich als Hinweis, nun wieder die Einsamkeit zu suchen. Mich zurückzuziehen und über das Erlebte nachzudenken. Also versuchte ich das mit der Einsiedelei ernstzunehmen und tatsächlich mal auf die Ablenkungen zu verzichten, denen ich mich ständig aussetze. Kurznachrichten und Social Media. Podcasts, Netflix und Musik bilden ein dauerhaftes Hintergrund-, wenn nicht sogar Vordergrundrauschen, das ich viel zu selten mal bewusst abschalte.

Deswegen schreibe ich diese Zeilen gerade in vollkommener Ungestörtheit. Vor fast 24 Stunden habe ich mein Telefon in den Flugmodus verbannt, seitdem nicht mehr das Haus verlassen und mit keinem anderen Menschen kommuniziert. Nur Bücher sind erlaubt und das bisschen gespeicherte Musik auf meinem Handy.

Also folgen jetzt noch ein paar thematisch passende Lese-Empfehlungen, bevor ich mich wieder der Chor-Version von “Pink Pony Club” hingebe. Und das nicht nur, weil ich sonst passenderweise gerade nur Bo Burnhams “INSIDE” (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) in meinen Downloads gespeichert habe 😉

Empfehlungen

Darum Verbindungen (dieses Mal romantische) offline zu suchen, ging es auch in meiner neuesten Kolumne für den Tagesspiegel: “Ist Dating wirklich nur noch virtuell möglich? Über meinem Versuch,jemanden offline kennenzulernen” (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). Dieser und alle weiteren Texte meiner Dating Kolumne “20 letzte Dates” sind mit dem Tagesspiegel plus Abo lesbar!

Die Buchempfehlungen kommen heute beide aus Berlin-Kreuzberg. Zufall oder spürt man dort die Einsamkeit vielleicht besonders deutlich?

Los geht’s jedenfalls nicht-fiktional mit dem gerade erschienenen Titel “Radikal Einsam” von Nadine Primo:

Wer allerdings lieber einen Roman und dazu von einer männlichen Stimme lesen möchte, dem*der empfehle ich “Super Einsam” von Anton Weil:

Kontakt

Du möchtest mit mir über etwas, das du bei mir gelesen oder gehört hast, sprechen? Dann kannst du mich über meine Website (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) erreichen oder mir bei Instagram eine DM (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) schreiben. Ich freue mich auf deine Gedanken!

Danke für’s Lesen und liebe Grüße von

Cleo

Dank

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Sujet Cleographie

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