#5: Zeit verbringen, verbrennen, verschwenden
Ich habe Produktivitäts-OCD. Wenn ich meine Zeit nicht ständig produktiv verbringe, bekomme ich ein schlechtes Gewissen. Weil ich aber Pausen brauche, obwohl ich sie nicht machen will, verbrenne ich meine Zeit oft im Fegefeuer der Prokrastination; dieser Sofaritze zwischen Arbeit und Erholung.
Denn erholen darf man sich erst nach getaner Arbeit, ne? Ein Dogma, dem ich jetzt endlich etwas entgegenzusetzen versuche. Und zwar, indem ich wieder lerne, Zeit zu verschwenden.
“Maybe we need to make the absence of productive satisfaction okay” - Ian Bogost in “How To Waste Time” für The Atlantic
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Als ich im letzten Newsletter mein musikalisches Meditationserlebnis beschrieben habe, konnte man über diesen Absatz stolpern:
“Wenn ich alleine versuche zu meditieren, bekomme ich FOMO. Macht man es zum Gruppenevent, habe ich endlich kein schlechtes Gewissen mehr, dass ich währenddessen nicht “produktiv” bin. Aber das ist ein anderes Thema.”
Weil das aber ein Thema ist, das mich fast täglich beschäftigt, schaue ich heute mal genauer hin. Dass ich den Drang verspüre, ständig etwas Absichtsvolles zu tun, das mindestens meinen Erfahrungsschatz erweitert, wenn nicht Geld oder Ruhm einbringt (mit Schreiben lol), ist nicht erst seit meiner Selbstständigkeit so. Es ging mir auch schon als Festangestellte nicht anders.
Meine FOMO und der Produktivitätszwang sind tatsächlich ein älteres Phänomen. Zumindest älter als einer der offensichtlichen Treiber: Social Media. Ich kann mich noch genau an Schulferien erinnern, die von dem nagenden Gefühl geprägt waren, dass ich jetzt gerade nicht im Freibad rumliegen sollte, weil es Dringendes für die Schule zu tun gibt.
Vielleicht haben das Unwohlsein mit der Unproduktivität und die Prokrastination mehr mit der Frage zu tun, was ich darüber gelernt habe, wie man mit der Ressource Zeit umzugehen hat. “Zeit ist Geld”, “don’t waste my time”, “Zeit ist das Wertvollste” sind alles Leitsätze, mit denen ich aufgewachsen bin. Der Kardinalfehler: Zeit in etwas zu investieren, das sich im Nachhinein als Zeitverschwendung herausstellt. Denn unsere Zeit ist eine limitierte Ressource.
Dabei wird doch eines sehr schnell klar. Je mehr wir unsere Zeit mit Unternehmungen, Arbeit oder Projekten füllen, desto schneller vergeht sie. Wenn wir uns beschäftigt halten, spüren wir nicht einmal, wie schnell. Am Ende kommt vielleicht ein Ergebnis unseres Schaffens in Entstehung, an dem man absehen kann, dass Zeit hineingeflossen ist. Aber gespürt haben wir das nicht. Nicht bewusst zumindest.
Doch ist das laut moderner Achtsamkeitslehre nicht das Wichtigste in einer Zeit der zersplitterten Aufmerksamkeit? Bewusstes Erleben? Das höchste Gut gemeinsam mit dem ständigen Streben nach dem befriedigenden Gefühl, die Arbeit getan zu haben.
Aber um Zeit bewusst wahrzunehmen, kann man nur nichts machen. Wir sind keine Uhren. Wir haben keinen eingebauten Zeitmesser, der linear und gleichmäßig jede Sekunde zählt. Wir nehmen Zeit relativ dazu wahr, was in ihr (mit uns) passiert.
Wenn viel passiert, rückt das Zeitempfinden in den Hintergrund. Und während die Uhren stoisch weiterzählen, geraten wir aus dem Takt. Wenn wir dann aus unserem Tun wieder auftauchen und auf die Uhr sehen, sind wir nicht selten überrascht, wie viel Zeit vergangen ist.
Stellt sich die Frage: Ist nun die nicht bewusst wahrgenommene Zeit die verschwendete oder die, in der man nichts tut außer sie wahrzunehmen?
Wie soll ich sein? Achtsam oder produktiv?
Jedenfalls erlebe ich gerade eine gute Zeit. Eine Zeit, die mir sehr gefällt. Sie vergeht im Rückblick allerdings extrem schnell. Das macht mich unruhig, weil ich diese gute Zeit ja bewusst genießen will. Denn wer weiß, wie lange sie andauern wird? Deswegen muss ich mich jetzt umgewöhnen.
In Anlehnung an das Zitat von Ian Bogost, das ich diesem Text vorangestellt habe, möchte ich das Gefühl des “ich war produktiv” nicht mehr als die einzig geltende mentale Befriedigung verstehen. Sondern auch den mentalen Zustand, den man erreichen kann, wenn man sich wirklich erholt hat - durch achtsame Zeitverschwendung.
Ich will Zeitverschwendung hier gar nicht glorifizieren. Wenn wir sie als Luxusgut darstellen, werden wir auch die Einstellung nicht los, dass “unproduktive Zeit” etwas ist, das man sich verdienen oder teuer bezahlen muss. Denn eigentlich ist es die ständige Produktivität, für die wir den höchsten Preis von allen bezahlen. Und zwar, in Lebenszeit.
Klar, für produktiv investierte Lebenszeit erhalten wir im besten Fall Geld oder ein Endergebnis, das für eine Weile von uns abgekoppelt in der Welt bleibt. Aber was kann man damit wirklich anfangen, wenn keine Zeit bleibt, in der wir auf die verbrachte Zeit schauen und reflektieren, was es gebracht hat. Ob das so okay war.
Man kann vom Zeit verschwenden halten, was man will. Man kann es ein Privileg nennen und damit gleichzeitig Recht und eine Ausrede haben, warum man sich die Erholung letztlich nicht “gönnt”, obwohl man sie braucht.
Ich finde Zeitverschwendung sollte zum Gegenteil eines Privileges werden, zum Volkshobby, zur Familienunternehmung und zum Erholungstipp #1. Ich will unbedingt dieses unsägliche Gefühl loswerden, das mich beim Meditieren, beim Sport oder Spaziergang oder beim Kaffee mit einer Freundin beschleicht. Nämlich, dass ich “gerade eigentlich etwas PRodUkTIVeS tun müsste”.
Ich will nicht mehr an meiner Daseinsberechtigung zweifeln, nur weil ich gerade nichts tue, das ich pitchen oder posten kann. Ich mach da nicht mehr mit.
Ich hole mir die Langeweile wieder zurück, die ich noch aus meiner Kindheit kenne. Das manchmal zähe, manchmal friedliche dabei Zusehen, wie die Zeit vergeht. Und ich werde es genießen und kacke finden und Angst davor haben und nichts, absolut gar nichts Produktives daraus machen.
Basta.
Natürlich möchte ich gerne die Podcast-Episode aus der The Atlantic Reihe “How to Keep Time” empfehlen, der ich das simple, aber wahre Zitat von Ian Bogost entnommen habe: “How to Waste Time (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)”. Allerdings ist die ganze Reihe sehr empfehlenswert, insbesondere die Folge “How to Rest” (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre).
Die aktuelle Buchempfehlung ist - ganz im Sinne des wundervollen, unproduktiven Zeit Verschwendens - ein fiktionaler Roman. Kein Sachbuch, nichts zum Lernen, einfach nur zum Genießen. Und zudem passend zum Pride Month:

Außerdem eine Empfehlung für Berlin, die jegliche Zeit wert ist:
Noch bis zum 29.06.2025 gastiert die World Press Photo Ausstellung (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) im Willy-Brandt-Haus. Der Eintritt ist frei und ich habe auch dort einen interessanten Gedanken über das Nehmen von Zeit entdeckt. Nämlich den Kommentar neben dem Gewinner-Foto 2025 , das die palästinensische Fotografin Samar Abu Elouf von dem neunjährigen Mahmoud Ajjour im Frühjahr 2024 in Doha gemacht hat. (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) Es zeigt Mahmoud nach der Evakuierung aus dem Gazastreifen, wo er bei einem Angriff verstümmelt worden war:

[…] “Fotos lassen uns manchmal innehalten und regen uns zumindest zum Nachdenken an, anstatt einfach zum nächsten Ereignis weiter zu scrollen. Und wenn wir uns dann die Zeit nehmen, sie wirklich intensiv zu betrachten, fordern sie uns auf, auch die Ebenen unter der Oberfläche wahrzunehmen - jene Energie und Dynamik, welche die Momente herbeigeführt haben, die wir auf den Fotos sehen.” […] - Finbarr O’Reilly, Vorsitzender der Jury für Europa.
Zum Abschluss etwas, für das sich hoffentlich viele von euch Zeit nehmen möchten:
Am Abend des 09. September lese und diskutiere ich gemeinsam mit dem Journalisten und Sachbuchautor Matthias Kreienbrink und unserem Publikum über Sex und Scham in Langzeitbeziehungen.
Der interaktive Abend steigt im Kino Union in Berlin Friedrichshagen! Mehr Infos und Tickets finden sich hier. (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
Kommt vorbei!!
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Danke für’s Lesen und liebe Grüße von
Cleo
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