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SIND NAZIS POP? “DIE MITTE DER WOCHE - DER BETTGES-NEWSLETTER NR. 6” STELLT DIESE FRAGE ...

... und führt in das neue Buch von Wolfgang Ullrich ein, "Identifikation und Empowerment"

Sind Nazis Pop? Burkhart Schröder hat bereits in den Nullerjahren ein bemerkenswertes Buch hierzu verfasst. Die Einleitung liest sich so:

 "Der öffentliche Diskurs in Deutschland besteht aus populären Mythen, die sowohl von konservativen Hardlinern als auch von gutmeinenden AntifaschistenInnen verbreitet werden: Die Nazis und ihre Strukturen müssen verboten werden. (...) Neonazis nutzen immer das Internet, um das Böse immer mehr und öfter zu verbreiten. Unser armen Kinder müssen vor dem Hass im Netz geschützt werden. (...) Den Ossis geht es schlecht, und wenn es dem Deutschen schlecht geht, dann geht er eben FXXXX und NXXXX klatschen. Die Flagge, das Gesicht oder eben den gestreckten Mittelfinger zeigen nutzt irgendwas gegen rechts."[1] (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

 Verschiebungen von der damaligen Situation zu der heutigen können aus dem Zitat ebenso abgeleitet werden wie das, was jetzt noch gilt. Während kaum ein mächtiger politischer Protagonist sich aktuell noch für ein Verbot einsetzt, werden doch immer wieder Sorgen, Ängste, Überforderung als Gründe für Rassismus insbesondere im Osten, aber nicht nur dort angeführt. Das Internet, aktuell insbesondere TikTok, machen viele für das Anschwellen des Hasses und eine längst etablierte rechte Hegemonie verantwortlich. Die bunten Clips mit Highlight-Zitaten von AfD-Gästen in öffentlich-rechtlichen Talkshows könnte allerdings nicht wirken, wenn da kein Humus wäre, in dem die Botschaften gedeihen könnten ... wenn ein völkisches Selbstverständnis nicht schon den Prozess der Wiedervereinigung angeleitet hätte. Eben jenes, gegen das Habermas den "Verfassungspatriotismus" in Stellung brachte.

 Die Schriftstellerin Anne Rabe konstatiert bei X, formerly known as Twitter, dass inzwischen jeder Mensch rechte "Pop Songs" mitsingen könne.

Das ist Teil der Pläne der Neuen Rechten. Kernprojekt der Kubitschek-Agitation rund um die Sezession und das Gut in Schnellroda bildet die "Eroberung des vorpolitischen Raumes". Einen, den es meines Erachtens gar nicht gibt, weil Politisches Gesellschaften immer organisiert und durchdringt  - mag sich der Normalismus auch bis in Fußballfankurven hinein als "unpolitisch" behaupten. Auf diesem Wege wollen die Alten und Neuen Rechten eine "organische Gemeinschaft" postulieren, die oft biologistisch untermauert das "Natürliche" und "Normale" darstelle und somit auch das  "Deutsche" als solches, die demokratischen Prozessen vorgängig sei. Ihren aus Kosmopolitischem zusammengebastelten Soundtrack, den Anne Rabe erwähnt, generieren sie, um den Alltag zu beschallen. Der Award für die "Mitte der Woche" geht an diese Protagonisten, die sich ja nicht nur in der AfD befinden.

 Schröder fragte damals auf dem Buchrücken von "Nazis sind Pop":


"Ist Pop links? Populärkultur ist Mainstream, volkstümlich, Kommerz. Underground als Kommerz-Strategie ist nazikompatibel: Kampf gegen das System durch Infiltration der Jugendkultur ist ein modernes Konzept neonazistischer Gruppen."

 Gerade die Selbstinszenierung als "Underground", der "gegen das System" oder auch "Regime" gerichtet sei (vertiefend und im großen politischen Rahmen behandelt Simon Strick diese Frage in einem Text bei “Geschichte der Gegenwart” (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)), wirkt dabei ebenso attraktiv auf vor allem männlich geprägte Jugendkulturen wie eine aggressiver Habitus. Schröder zeigt auf, wie gerade bei den britischen "National Front"-Skinheads sich eher von Neid  geprägte Sichtweisen auf schwarze Musikkulturen bzw. der Auswahl, die sie daraus trafen, herausbildeten - sie projizierten auf sie Maskulinität, die sie selbst gerne verkörpern würden. Während sie zugleich deren Musik, Tanzstil, Kleidung und Sprachcodes imitierten (S. 56). In den Ska-Settings der frühen 80er Jahre kann man das gut beobachten.

NEONAZIS KLAUBEN IHRE STILISTIKEN GENAU BEI DEN GESELLSCHAFTLICHEN GRUPPEN ZUSAMMEN, DIE SIE ZU BEKÄMPFEN VORGEBEN

 Schröder zählt verschiedene damals - und zum Teil aktuell wieder präsente - "Pop"-Phänomene auf, in den sich Neonazismus zeige: bei Techno-Frisuren wie im Falle von Skinhead-Bands, Façon-Schnitten (habe ich übrigens) und langhaarig bei den Böhsen Onkelz und rund um Death Metal und rechte Esoterik. Gothics erwähnt er nicht auf dem Buchcover, im Text aber schon. Die Szene hat sich in Teilen erfolgreich gegen Unterwanderung gewehrt, m.W. Er konstatiert eine gewisse Lust am intendiert Bösen. Früh verwies er auf nationalistische Tendenzen in der damaligen PDS; eben jene, die sich jetzt im BSW zeigen und bündeln.

 Als ich das Buch damals las, habe ich gerade die ZDF-Version des ARTE-Popkultur-Magazins TRACKS geleitet im Rahmen der Firma MME. Wir wollten immer einen Beitrag zu dem Thema produzieren. Es kam nie dazu. Kurz zuvor hatten wir "Pop 2000 - 50 Jahre Popmusik und Jugendkultur in Deutschland" abgeschlossen; die letzte Folge endete mit Rammstein und den Böhsen Onkelz. Ich erinnere mich gut, wie das den zuständigen Redakteur des BR in der Abnahme empörte; was solle denn ein so pessimistischer Ausblick am Ende einer zwölfteiligen Reihe. Heute sind es vermutlich oft die Kinder der 90er-Jahre-Nazis, deren Treiben, das eben nicht mehr gegen diese Eltern pubertiert, sondern sie nachahmt, die alte Codes wieder ausbuddeln und die Styles der 90er Jahre imitieren. Gruppen wie die Identitären arbeiten konsequent mit Logos und anderen Pop-und Marketing-techniken. Junge Männer, die alle wirken wie apocalyptische Zombies auf Speed, demonstrieren im Namen "der Nation" gegen CSD-Demos und finden ganz retro ihre Uropas toll. Retromania ist immer Teil der Pop-Entwicklung; wirklich rebellisch war sie allerdings nie. Das 50er-Revival in den frühen 80ern wirkte rückblickend wie die Vorhut der Regentschaft von Helmut Kohl.

Schon in den 90ern agierten diese rechten Kohorten symbolisch parasitär. Das verblüffte mich schon damals. Wie im Falle der Adaption von Stilistiken aus Black Communities im Fall der Nazi-Skins in Großbritannien. Über das "Eigene" und "Eigentliche", das sie doch fortwährend behaupten, verfügen sie gar nicht. Wie eben niemand darüber verfügt; es gibt es nicht. Schon die rechten Skinheads der späten 70er, frühen 80er politisierten einfach nur den Style einer juvenilen, tendenziell linken Arbeiterkultur und codierten ihn um. Die Fanzines, in denen sich Neonazis in den frühen 90ern ihre Mordfantasien an den Ärzten präsentierten, gelyncht, aufgeknüpft, folgten der Ästhetik von Punk-Publikationen. Die Böhsen Onkelz hörten sich immer schon so an wie eine noch rockistischere Version der Toten Hosen.

 Wenn jetzt rassistische Gesänge ausgerechnet zu Gigi d'Agostino ertönen, dann nutzen sie musikalisches Material, das als Italo Disco zu den maßgeblichen Einflüssen durch und durch queerer House Music gehört. Sie tanzen dazu auseinander, nicht Polka - das "Auseinandertanzen" ist Teil des Erbes der Beat-Wele in den 60er Jahren und empörte damals noch die Eltern. Die gesamte Rockmusik entstand aus dem Blues, gemixt mit ein wenig Folk, der vom Gospel nie unberührt blieb.

 Da setzt sich fort, was schon die Musikproduktion im "3. Reich" prägte, in dessen Filmen Marika Rökk als "Csárdás-Fürstin" zu den Musiken sang und tanzte, die von Sinti und Roma, oft zusammen mit jüdischen Musikkulturen, entwickelt wurde. Die gesamte europäische Folklore, auch der Flamenco, prägten diese Menschen, die in den frühen 40er Jahren  in Vernichtungslager deportiert wurden. Was nicht aus solchen Zusammenhängen stammt, ist zumeist keltischen Ursprungs, so das Schuhplattln. Es gibt da nix "Ursprüngliches" im "Deutschtum".

 Das ist typisch für alte Nazis und Neue Rechte - sie nutzen eifrig die Stile, Haltungen und Ausdrucksformen derer, die sie hassen, völlig unfähig, selbst produktiv zu sein. Sie können dabei auf nix exklusiv Eigenes zurückgreifen. "

 Auch in in den neurechten Schriften, der "Sezession" z.B. finden sich viele Aneignungen von Motiven zweier eher links zu verortender Schwuler, Pasolini und Foucault, im Falle von Letzterem "Die Ordnung des Diskurses", sowie des Kommunisten Gramsci. Sie lesen diese gegen den Strich, so, wie es ihnen in den völkischen Kram passt.

 

ES GIBT NUR DAS HYBRIDE

Auch in nicht ganz so weit rechten Selbstinszenierungen, in denen trotzdem propagiert wird, "Deutsche", würden sich ja in manchen Städten gar nicht mehr wohl fühlen, posiert der bayerische Ministerpräsident plötzlich vor AC/DC, einer australischen Rockband, und Adele, die genuin schwarzen Soul sich aneignete. Klar, der nun auch wieder das wurde, was er ist, weil er in stetem Austausch mit Quellen der Sklavenhalter im Zusammenhang von Kirchenmusik für einen von Weißen dominierten Markt sich herausbildete.

 Das, was da in angeblich "vorpolitische" Räume vordringt und sich dann in Aufmärschen junger Leute als etwas sich artikuliert, das nun "Vaterländisches" verkörpern soll, ist in sich derart hybrid und kosmopolitisch, dass es schlicht lächerlich wäre, es in einem solchen Kontext zu präsentieren - würde es nicht mit geballter Gewalt auftreten. Selbst ihre KI-generierten, immer blonden Großfamilien, die sie sich basteln für Internet-Meme, sehen manchmal aus wie Bilder aus dem sozialistischen Realismus, wobei selbst der hier und da Avancierteres hervorbrachten.

 Der Witz ist, dass gerade die "Identitären" über gar keine verfügen, außer weiß, cis- und heterosexuell zu sein. Was auch nichts exklusiv Deutsches ist.

 Das alles widerspricht nun gar nicht der These, dass Nazis Pop seien. Ganz im Gegenteil. Nur eben schlechter, primitiver, verlogener Pop. Mit westafrikanischen Polyrhythmen könnten die nichts anfangen. Zu kompliziert, zu komplex, zu virtuos.

ENCODING-DECODING NACH STUART HALL

Diese Aneignungen und Hybridisierungen bilden ja gerade den Kern von Pop. Eines der bekanntesten Modelle aus den Cultural Studies ist das "Encoding-Decoding"-Modell von Stuart Hall. Besonders gerne wurde es immer wieder gegen die "Manipulationshypothese" von Horkheimer und Adorno gewendet - dass populäre Kulturen und Massenmedien eben Menschen drillen und dressieren wollten, um der Herrschaft zu gehorchen. Auch letzteres haben die Neonazis adaptiert, nebenbei erwähnt - der öffentlich-rechtliche Rundfunk löge nur, deshalb müsse man NIUS, Russia Today und "Alternative Medien" rezipieren.

Rein deskriptiv und in ihrem Selbstverständnis betreiben sie damit, was Stuart Hall als widerständige Praxis konstatierte: die codierten Botschaften der Massenmedien und Hollywood-Filme ließen sich so erst aufdröseln und dann umcodieren, um sie nutzen zu können. Große Teile der rechten Praxen folgen diesem Prinzip, aber so, dass es ins Absurde kippt.

Das Decodieren bei Hall mündet in Freiheitsspielräume; es löst Zeichenanballungen und Knotenpunkte in Differenzen und Spielmöglichkeiten auf. Durch ihre naturalisierenden Suggestionen betreiben die Nazis das exakte Gegenteil. Neben politischer Gefährlichkeit macht das auch schlechten Pop aus: Naturalsierungen, die Pop ihn prägende und bewusste Künstlichkeit in immer nur erlogene Organizität überführen sollen. Sie fühlen sich ja nur deshalb von denen, die nicht so sind wie, permanent gestört, weil deren Anwesenheit Stachel des Skeptischen in ihr totalitäres Denken pflanzt. Sie wollen nur endlos stumpf wiederholen. Denken schadet ihrem Selbstverständnis. Die "Selberdenker" sind halt keine.

 

LEBENSWELTEN

Ich will hier aber auch nicht rumbalzern und stumpf das Hybride einfach nur beschwören.. Also zurück zur Lebenswelt, dem, was die rechten Strategen als "vorpolitisch" behaupten. Dieser Interaktionsraum taucht bei Habermas zentral als für Gesellschaften konstitutiver Raum in der "Theorie des Kommunikativen Handelns". Was gemeint ist, lässt sich an der Entwicklung des Denkens Ludwig Wittgensteins nachvollziehen.  habermas' Sprachphilsophie knüpft explizit an ihn an. Wittgensteins berühmtes Frühwerk "Tractatus logico-philsophicus" versucht, die Grundprinzipien der Struktur einer Idealsprache des überhaupt Sagbaren zu formulieren. Die Wende zu seinen späteren Schriften, z.B. den "Philosophischen Untersuchungen" folgt der Einsicht, dass jede Idealsprache gar nicht anders kann, als auf die unreine, wuchernde, nicht immer logische Alltagssprache zurückzugreifen. Die viele Funktionen erfüllt, so auch jemandem etwas zu versprechen, den Ausdruck von Emotionen, das Befehlen, die Liebeserklärung usw.

 Diese Grundfigur, da ist etwas, das dem vorgängig ist, was wir in präzisen Formulierungen dann "feinschleifen", eine Art Rohmaterial, zu dem wir uns reflexiv verhalten, spielen viel der Philosophien des 20. Jahrhunderts durch. Habermas "Theorie der Geltungsansprüche" ist konzipiert als ein Explizieren von zentralen Modi des alltäglichen Sprechens - basierend auf dem unhintergehbaren, lebensweltlichen Zusammenhang, in dem wir uns bewegen wie der Künstler im Rohmaterial. Sie ist proppevoll mit Gewohnheiten, Üblichkeiten und Konventionen, die wir in Diskussionen rund um normative Richtigkeit, Wahrheit und dem, was wir schön finden und zum Ausdruck bringen wollen, problematisieren und auch kritisieren können.

 

 WOLFGANG ULLRICHS “IDENTIFIKATION UND EMPOWERMENT”

Das war jetzt eine lange Vorrede, um mich dem neuen Buch von Wolfgang Ullrich anzunähern. Es trägt den Titel "Identifikation und Empowerment"[2] (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). Ich bin bisher auf S. 41 angekommen (von ohne Anmerkungen 158) und werde mich dem auch am Freitag noch einmal widmen, wenn ich vor allem auch die enthaltenen kunsthistorischen Ausführungen gelesen habe.

 Meines Erachtens schreibt er da nicht nur viel Lesenswertes über Kunst, sondern auch über Pop. Das Buch hat die Form eines langen Gespräches, eines Podcast. Entsprechen locker liest es sich und bewegt sich doch auf hohem Niveau. Ullrich begründet dieses Auftreten als Person und Gesprächspartner auch mit Rezeptionsgewohnheiten in Zeiten von Social Media. Also Medien, in denen auch Influencer, Podcaster, One Person-Business' usw. in Erscheinung treten als spürbare und bei aller Inszenierung doch reale und konkrete Menschen. Die Ausführungen knüpfen an sein letztes Werk "Die Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie" an. Dieses beginnt er mit spannenden Ausführungen über Sneaker, unter anderem den berühmten "Satan Shoes" von Lil Nas X, in deren Produktion ein Tropfen Blut einfloss.

Die von ihm in "Identifkation und Empowerment" untersuchten Kunstphänomene sind solche, die zum aktiven Mitmachen und Nachbasteln einladen. So die "Pussyhats", selbst gebastelte Kopfbedeckungen mit Katzenohren, die als Protest gegen "Grab 'em by the pussy"-Trump getragen wurden. Oder Menschen, die den Balloon-Dog von Jeff Koons nachhäkeln. Sujet ist auch Katarina Janečkovà Walshe, eine Malerin aus der Slowakei, die in Texas lebt (S. 29 ff.). Sie erlangte über Instagram Berühmtheit mit Malerei, die als "Bad Painting" bezeichnet werden könnte - thematisiert aber zugleich ihr Alltagsleben als Mutter, tief in Care-Arbeit verstrickt. Fan Fiction ist ein anderes Beispiel, das er wählt.

 Für mich las sich das wie eine Anknüpfung an Thesen von John Fiske, vor allem in den 90ern populär, der solche aktiven Aneignungen ähnlich wie Stuart Hall sein "Encoding-Decoding"-Modell gegen Vorstellungen medialer Manipulation ins Feld führte. Er wählte damals unter anderem Madonna-Fans als Beispiel, die nicht nur als Lookalikes sogar Wettbewerbe abhielten (so was hatte ich einst in einer BRAVO TV-News zu verschneiden), sondern auch den spezifischen Feminismus, den viele in Madonnas Praxen wirken sahen, adaptierten.

EMPOWERMENT 

Für Ullrich zeigt sich in diesen Praxen Identifikation mit den jeweiligen Künstler*innen wie auch Empowerment in dem Sinne, dass die Potenziale der sich jeweils kreativ mit der Kunst Auseinandersetzenden gestärkt würden und diese längst in anderen sozialen Räumen als dem Distanz schaffenden White Cube angekommen sei. Während der Versuch von Kunst als Praxis, die autonomen Eigengesetzlichkeiten z.B. des Materials folgt, eher auf Distanz, Differenz und ggf. Verstörung setzte, sei nun die Einladung zur Identifikation gegeben. Nicht nur beeindruckt vor dem Gemälde stehen, still rezipierend, oder sich von Wagners Wallküren erschlagen lassen, ästhetisch, sondern eingeladen fühlen, es doch auch einmal zu probieren.

 Das läuft auf eine Rückbindung an Lebensweltliches, wie oben beschrieben, hinaus, und demokratisiert Kunst. Rückbezogen auf das Verhältnis von Alltags- und Idealsprache, siehe oben, Wittgenstein, kann man die Suche Cézannes nach einer "Harmonie parallel zur Natur", die sich immer mehr auf geometrische Formen und Farbfelder zubewegt, das "schwarze Quadrat" von Malewitsch, die Zwölftonmusik, Beckett usw. als analog zur "Idealsprache" betrachten. Es löst sich etwas aus dem lebensweltlichen Zusammenhang und beginnt, im Werk zugleich das ästhetische Material der jeweiligen Kunstform zu reflektieren, wird selbstreflexiv - durch Abstraktion, Verdichtung, Reduktion, wiederholte Muster und Reihen, Permutationen usw.

 So, wie im Normativen eine abstrakte Prinzipienmoral formuliert werden kann, landet man bei Pollock beim reinen Spiel der Farbe und der Thematisierung des Entstehungsprozesses, eine Haltung, über die sich schon bald Künstler wie Rauschenberg oder Warhol lustig machten. Rauschenberg teilweise in Auseinandersetzung mit indigenen, schamanischen Kulturen Nordamerikas, Warhol auch in homoerotischen Zeichnungen.

 Hier zeigt sich der Übergang zu dem, was Ullrich rekonstruiert. Empowernd wirken diese Zugänge gerade für gesellschaftlichen Minderheiten, weil deren Sicht und Erleben so die Chance hat, auch mal Ausdruck zu finden, der Dominanzkulturen sowieso ständig gewährt wird. Zumindest Warhol, Ullrich nennt ergänzend Beuys, ist ein Künstler, die dabei auch zum Nachahmen einlud. Die "Warholisierung" von Fotos ist in digitalen Zeiten ja einfach zu haben. Auf dieses Animieren zur Nachahmung zielt Ullrich. Und es ist jederzeit auch politisierbar.

Die Praxen marginalisierter Kulturen rekonstruiert Ullrich folgendermaßen:


"Diejenigen, die sich von für sie diskriminierenden Fremdwahrnehmungen befreien wollen, greifen typische Motive dieser Diskriminierung auf und versuchen, durch die aktive Identifikation damit deren Bedeutung zu ändern - sie geradezu ins Gegenteil zu verkehren." (S. 28)

 

Encoding-Decoding. Wenn ihr mich "Tunte" schimpft, dann werde ich halt eine. Ungefähr so formulierte es die "Tuntenbewegung" in den 70er Jahren wirklich. Oder der erwähnte Lil Nas X muss ständig Beschimpfungen, als schwul "nicht Gottes Willen zu leben", erdulden, und verwandelt sich im Video zu "Montero" offensiv in Satanisches.

 

DESIDENTIFIKATION

Diese Praxen haben Jacques Ranciére und José Esteban Muñoz unabhängig voneinander nicht als Identifikation, sondern als Desidentifkation beschrieben. Das meint Ähnliches, ist jedoch, bezogen auf das oben skizzierte Lebenswelt-Konzept, etwas anders akzentuiert. Ranciére situierte es im postkolonialen Kontext und mühte sich u.a. um "Desidentifikation" vom Weißsein. Muñoz als einer der bedeutendsten "Queers of Colour"-Theoretiker formulierte es folgendermaßen:

 

"Disidentification is about recycling and rethinking encoded meaning. The process of disidentification scrambles and reconstructs the encoded message of a cultural text in a fashion that both exposes the encoded messages universalizing and exclusionary machinations and recircuits its workings to account for, include, and empower minority identities and identifications." (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

 Encoding-Decoding. Wie nah das an dem, was Ullrich schreibt - oder in dem Gespräch sagt - situiert ist, muss nicht eigens erwähnt werden. Vielleicht taucht Muñoz nach S. 41 ja noch auf. Dieser analysiert Warhol und Drag-Queens in seinem gleichnamigen Werk.

 Die leichte Verschiebung von Identifikation zu Desidentifikation erscheint mir allerdings relevant. Muñoz analysiert z.B. Praxen in illegalisierten queeren Subkulturen der Zeit vor Stonewall der Identifkation mit Operndiven - weil sie als einzige die Möglichkeit boten, Gefühle jenseits gängiger Vorstellungen des genormten, heterosexuellen Mannes zum Ausdruck zu bringen. Solche von Männern für Männer.

 Die Zusammenhang zur Dominanzkultur wird dadurch aufgebrochen; es erfolgt zunächst eine Desidentifkation mit deren Codes, bevor eigene etabliert werden können. Weil die internalisierte Diskriminierung ja nicht mal eben so verschwindet (und auch nie verschwunden ist, auch nach Stonewall nicht).

 In herrschenden Verhältnissen, also jenen, die Neonazis einfach ausagieren, während sie so tun, als würden sie "gegen das System" rebellieren und doch nur sowieso dominante Strukturen nutzen, wirken zunächst die prägenden Konventionen auf Marginalisierte ein. Sie werden durch "idealsprachliche Prinzipienmoral", wie sie in der "Ehe für alle" institutionalisiert wurde, auch nicht aufgehoben.

 Das formuliert keinen Widerspruch zu Ullrich, es verdeutlicht aber etwas, das in all den unsäglichen Debatten rund um "Identitätspolitik" bis hin zu Balzer und Neiman unterschlagen wird. Der psychologische Aufwand, den Desidentifikation bedeutet, ist ungleich höher bei jenen, die struktureller Diskriminierung unterworfen sind und durch sie geformt wurden (was auch bei Bürgergeldempfänger*innen und anderen gilt, die als "Unterschicht" diskreditiert in Medien sich wiederfinden). Viele vollziehen diesen Schritt des Bruchs auch gar nicht, sondern versuchen, einfach zu kopieren und zu imitieren, was die Mehrheitsgesellschaft als Role-Model vorgibt, wenn sie die ökonomischen Möglichkeiten dazu haben. Sie wollen dann leben wie Heterofamilien oder wettern als Migrantisierte gegen Migrantisierte, in der Hoffnung, so geschützter vor den Attacken der Mehrheitsgesellschaft zu sein. Auch das kann ja scheinbar empowern. Meistens rächt sich das irgendwann. Hannah Arendt hat viel zu dieser scheiternden jüdischen Assimilation und deren Preis in vielen Werken beschrieben. Der darin besteht, nicht mehr eigenen Bedürfnissen folgen zu dürfen, sondern nur die jener bedienen zu können, die auf der hegemonialen Seite der Macht stehen,

Berücksichtigt man diese - lebensweltlichen - Prozesse, so kommt man auch nicht wie Neiman oder Balzer auf die irrwitzige Idee, nun eine Symmetrie zwischen Dominanten und Marginalisierten zu behaupten, wenn es um empowernde Ausdrucksformen eigener Seinsweisen geht. Wenn z.B. Black Power mal eben so mit Neonazis gleichgesetzt wird.

 Angehörige der Mehrheitsgesellschaft müssen diesen Schritt der Desidentifikation, den Bruch mit der Dominanzkultur und deren Konventionen und Normalisierungen, in der Regel nicht vollziehen.

Er steckt jedoch in gutem Pop notwendig mit drin, meines Erachtens. Es entstehen aus diesem Bruch auch andere Formen der autonomen Künste. Man kann das am Werk von Basquiat nachvollziehen, der trotz Slogans und offenem Antirassismus häufig noch in die europäische Kunstgeschichte als irgendwie auf Picasso aufbauend betrachtet wird. bell hooks hat treffend herausgearbeitet, wie er sich ebenso auf afrikanische Quellen z.B. der Zulus bezogen hat und zudem die Nicht-Repräsentierbarkeit schwarzer Körper in der westlichen Kunsttradition zum seinem Sujet machte. In steter Kommunikation mit dem Jazz - selbst eine desidentifizierende Praxis.

 GUTER POP, SCHLECHTER POP

Um an den Anfang des Textes zurückzukehren: will man Nazis in ihre Leichenkeller zurückdrängen, so geht das nur, wenn man Pop-Prinzipien im Lebensweltlichen anders als sie verwendet und sie wieder sexy macht. Chalie XCX und Hyperpop, Troy Sivan, Nemo und viele andere mehr versuchen das ja schon ständig, viele Netflix-Serien auch.

 Wenn man aufzeigt, dass NICHTS diesen Zombie auf Crystal Meth rebellisch ist, weil sie nur bestehende Strukturen ausagieren noch dann, wenn sie die Demokratie zum Einsturz bringen wollen könnte ein erster Schritt sein. Dass sie unfähig sind, Eigenes zustande zu bringen. Das sie über kaum eine eigenständige Idee, geschweige denn Identität verfügen. Sie kennen nur negative Freiheit, aber keinen Spaß, erzeugen unattraktive Einöden und dabei sind dabei auch noch komplett uncool sind.

 Sie sind Pop, aber eben erbärmlicher, peinlicher, schlechter, betrachtet man es nur ästhetisch. Sie klauben uneigenständig latent neidisch etwas bei ihren Feinden zusammen, um es dann miserabel auszuarbeiten.

Sie mögen bei TikTok noch irgendwie funktionieren, können bei den empowernden Praxen, die Ulrich beschreibt, jedoch einfach nicht mithalten. Sie sind ja noch nicht mal fähig, den fröhlichen Dilettantismus von Dada oder Punk ausagieren in ihren jämmerlichen Vorstellungen von Größe. Deshalb ziehen Frauen aus von ihnen dominierten Landstrichen ja auch lieber weg. Sie koppeln sich ab von allem, was inspirieren könnte - weil nur interkulturelle Kommunikation, und damit meine ich nicht die mit Putins Schergen, überhaupt die Möglichkeit von Innovation schafft. Provinzen verenden unter ihrer Herrschaft kläglich.

 Sozusagen in Vorbereitung dieses Textes habe ich für Youtube ein Video gebastelt, in das ich einige Thesen zu "gutem Pop" einblende (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). Die selbst gemachte Musik basiert viel auf den "Sessionmusikern" in Logic Pro 11, eine Art KI, bei der man allerdings noch viel rumprogrammieren muss, und anderen Presets in den Soundpaketen, die ich nutze. Die Bilder sind Stock Footage von Pexels. Den Anfang bildet ein ziemlich furchtbare mit KI generierter Avatar, aber dieses Spiel mit “Bad Taste” gehört halt auch zu Pop.

 Mir schien all das zum Thema dieses Textes ganz gut zu passen, wo es im zweiten Teil um empowerndes Weiterbasteln von Vorhandenem ging.

Am Freitag greife ich noch einmal Passagen zu Jeff Koons aus dem Buch von Wolfgang Ullrich auf, den ich letztes Jahr in New York interviewen konnte in seinem beeindruckenden Zuhause - in der Hoffnung, da noch den einen oder anderen Gedanken zu verfeinern.

 

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[1] (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) Schröder, Burkhard, Nazis sind Pop, Berlin 2000

[2] (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) Ullrich, Wolfgang, Identifikation und Empowerment - Kunst für den Ernst des Lebens, Berlin 2024

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