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New Pop und No Wave

TEXTUREN DER LEBENSWELT

… "Liquid Sky" - so der Name einer Science Fiction-Satire aus dem Jahr 1982. Regisseur: Slava Tsukerman. Seit einiger Zeit kann der Film restauriert bei Youtube angesehen werden (Link weiter unten). Eine männliche Neben- und die weibliche Hauptrolle spielt Anne Carlisle. Der Plot: inmitten der New Yorker Subkultur versterben die Sexualpartner der zentralen Figur Margaret. In den Hinterkopf der Toten gerammt findet sie Kristallkeile mit tödlicher Wirkung. Im Laufe der sprunghaft inszenierten Handlung stellt sich heraus, dass Außerirdische sich von sowohl im Heroinrausch als auch beim Sex freigesetzten Endorphinen der Menschen ernähren und diese mit Hilfe der Keile absorbieren.

 Ich kannte diesen Film nicht. Nun weiß ich um seine Bedeutung - weil ich herumgegeoogelt habe. Insbesondere der "Look" des Films wie auch die grellen und avantgardistischen New Wave-Kostüme der Darsteller und die auf rhythmischen Squenzer-Patterns basierende Musik übten - wie ich nun nach Recherchen weiß - immensen Einfluss in Zusammenhängen der Popkultur aus. Die Ästhetik ähnelt ein wenig dem Styling der Besucher des Blitz Clubs in London. Zu denen kann eine Doku bei Netflix betrachtet werden:

https://www.youtube.com/watch?v=EKLn_vK1_gA (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

 Nur dass "Liquid Sky" eben in New York spielt; eine zu der Zeit noch härtere Welt, in deren Alltag Drogenkriminalität eine gewichtige Rolle spielte. "Liquid Sky", das ist wohl auch ein Wort für Heroin. Am besten mal reinschauen:

https://www.youtube.com/watch?v=HyIhqT5bkEM&t=4784s (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

 Eine Zusammenfassung und Analyse des Films kann man hier betrachten:

https://www.youtube.com/watch?v=GzzMznFidec (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

 Den Look kommerzialisierten vor allem britische Synthie-Pop-Bands wie Human League, Visage, Duran Duran, Euryhtmics, Adam and the Ants; er geht deutlich auf David Bowie und Glam Rock zurück. Auch Lady Gaga soll sich an “Liquid Sky” bedient haben. Er prägte die Zeit meiner frühen Teenager-Jahre; die Ästhetik in Zeitungen und allmählich auch Werbung, in der BRAVO und ähnlichen Medien, nicht meine persönlichen. Er war halt überall und begann, meine Wahrnehmung zu filtern. Ich wuchs über die schwarz-weiß gestreifte enge Jeans, Kajal-Einsatz und glänzende Schlafanzug-Oberteile als Hemden nicht hinaus. In Deutschland adaptierte man den Stil eh dosiert, weil alle wieder eher mit sich selbst und somit der "Neuen Deutschen Welle" beschäftigt waren. Ein radikale Ästhetisierung des Alltags, die sich von allem "Natürlichen" verabschiedete und auf Androgynität setzte zu artifiziellen Klängen. Großartig.

LIQUID SKY IM KONTEXT DIESER ESSAY-SEITE

Der Film wuchs mir zu in Reaktion auf die Texte hier und die damit korrespondierenden Videos in meinem Youtube-Kanal. Mein Haupttribünennachbar beim FC St. Pauli, ich weiß nicht, ob ich seinen Namen hier nennen darf und lasse es deshalb bleiben, war lange im Filmverleihgeschäft tätig. "Liquid Sky" brachte er einer Mail zufolge, die er mir schickte, in die deutschen Kinos. Er fiel ihm, weil die Ästhetik von Videos wie diesem hier ihn an den Film erinnerten:

https://www.youtube.com/watch?v=cLi5hkwPhL0 (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Oder auch dieses hier:

https://www.youtube.com/watch?v=uMwPPS24PWc (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

 Das freute mich riesig. Die Bilder habe ich ja gar nicht selbst gedreht oder drehen lassen. Je mehr Abonnenten dazu bereit sind, diese Seite auch finanziell zu unterstützen, desto größer die Chance, dass ich so was auch selbst initiieren kann.

 Die Bilder stammen größtenteils von Pexels (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), einem großartigen Portal für auch lizenzfreies Stock Footage. Sequenzen aus diesem Pool habe ich schon in Netflix-Serien wie "Emily in Paris" entdeckt. Eine Produktionsfirma, die ihre Werke, und es sind welche, dort einstellt, heißt "Cottonbro Studios". Ich habe keine Ahnung, was das für Leute sind oder wo die sitzen. Was sie der Medienwelt schenken, das finde ich fantastisch. Man kann bei ihnen auch Material lizensieren, und wer auch immer über das Kapital dazu verfügt, möge das bitte tun.

Im zweiten verlinkten Video, "Pop is Empowerment", habe ich ein paar Leitthesen zu "gutem Pop" formuliert. Wohl wissend, wie sich über eine solche Vorstellung, "guter Pop", lustig gemacht wurde uns wird. Weil ich jedoch angesichts der völkischen Attacken auf alles Queere im Namen der "Eigentlichkeit" und des "Natürlichen" diese spezifischen Pop-Ästhetiken auch weiterhin wichtig finde, greife ich darauf zurück.

DAS KÜNSTLICHE ALS WIDERSTAND GEGEN DIE BIOLOGISIERUNG DES SOZIALEN

 Faschismus funktioniert immer als Biologisierung des Sozialen. Dem kann nur Künstliches, Artifizielles, nicht eine alternative Organizität entgegengesetzt werden. Das passiert seit dem Glamrock ja auch immer wieder. Die "Liquid Sky"-Ästhetik tauchte auch im Electro Clash der späten 90er wieder auf, prägte The Knife und Fever Ray und es wäre müßig, nun noch all die anderen hier aufzuzählen, auf die das wirkte. Es ist auch kein Zufall, dass die "Cottonbro Studios" den Stil, wie ich finde großartig, mit "Diversity" und Queerness auflädt - eben dem, was von Musk bis Dugin, von Trump bis Meloni all die Neuen Rechten hassen und attackieren, wo immer sie können. Es ist einfach DAS Gegenmodell zu dem, was Ethnonationalisten behaupten. Oder Menschen, die glauben, Vergewaltigung von Frauen gehöre zur Evolution von Menschen halt dazu. Oder dass genetisch bedingte Intelligenzunterschiede von Ethnien gäbe. "Liquid Sky" folgende Ästhetiken untergraben solche Normalisierungsstandards und spielen mit Gender Performances. Es finden sich Entsprechungen z.B. auch im Afrofurismus eines Sun Ra (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) .

Sinn und Zweck der Kopplung von Musiken und Videos einerseits, den Texten hier und hoffentlich bald auch mehr Malerei, über dem Text ist ein aktueller Versuch zu sehen, andererseits ist, eine solche Ästhetik auch philosophisch zu reflektieren und in einem gesellschaftstheoretischen Rahmen zu situieren - um eine Gegenwelt zu diesen neuen Eigentlichkeiten zu kreieren. "Eigentlichkeit" ist, nebenbei erwähnt, ein Begriff aus "Sein und Zeit" von Martin Heidegger, der eben eine "authentische, wahre Existenz" vermutet, die sich dem “Gerede des Man" entziehen könne - eine, die er vor allem im vormodernen, bäuerlichen Leben schon sprachlich angesiedelt dann zu finden glaubt.

 Ich gehe nun auf die 60 zu, habe jahrelang im Rahmen des Musikfernsehen solche Sujets ins Bild gesetzt und aufgearbeitet. Dieses hier ist nun die nächste Runde. Ich kann dabei auch nicht ansetzen wie ein heute 20jähriger, der sich all das ggf. gerade erst entdeckt. Was ich machen kann, ist die Bezüge aufzuarbeiten und auf meine Art auch künstlerisch wie philosophisch zu kommentieren, in denen sich diese Ästhetiken sozial situieren. Auch, um so auf vielleicht verschüttetes Wissen, das zu erkunden ich das Privileg hatte, neugierig zu machen.

NO WAVE

 "Liquid Sky" produzierte Tsukerman in einem Szenario, das auch als "No Wave" bekannt ist. Eine quirlige Szene im New York der frühen 80er, das auf den Punk aus dem CBGB (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) , The Ramones, Patti Smith, bereits in Abgrenzung dazu reagierte. Mittendrin in der Community, aus der auch “No Wave” entstandt, Persönlichkeiten wie Klaus Nomi (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), der wie ein artifzieller Außerirdischer auftrat und wie die Callas sang -  oder auch die Musikerin, Dichterin und Schauspielerin Lydia Lunch (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) . Sie arbeitete später u.a. auch mit den Einstürzenden Neubauten zusammen. Jean-Michel Basquiat (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), erster schwarzer Künstler, der auf dem Kunstmarkt Rekordpreise erzielte, tummelte sich in dieses tatsächlichen "Melting Pots". Er spielte zudem in einer Trash-Jazz-Band namens Gray. Der wohl bekannteste Act aus dieser Szene ist Sonic Youth.

 "No Wave" endete jäh 1981, die Szene blieb bestehen. Simon Reynolds beschreibt sie eindrucksvoll in "Rip it up and start again (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)". Sie mündete in Mutant Disco, Punk-Funk und andere Subgenres der Community und war auch mit der frühen Hip Hop-Szene, Africa Bambaata, Grandmaster Flash, konzeptionell eng verbandelt. Kid Creole & the Coconuts (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) oder die B52's (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)tanzten mittemang.

 Was sie einte, war eine "antitrockistische" Haltung: weg vom Authentizität suggerierenden Rockstar oder Songwriter mit seiner Gitarre hin zur steten Neuerfindung seiner selbst. Ja, auch Madonna war in den Clubs zu finden und hatte eine Liaison mit Basquiat. Das Motto: Wir sammeln unsere Sounds auch in Disco-Zusammenhängen- was den CBGB-Punks zu schwarz und schwul war -, schreddern sie und basteln sie neu zusammen. Wir suchen sogar Swing - Kid Creole - und andere Jazz-Phrasen auf und bauen sie ein.

NEW POP

 Als britischen Ableger behandelt Reynolds zu recht auch New Order (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) ; vieles steckte aber auch schon in deren Vorgängerband Joy Division - die bereits mit Disco-Beats gearbeitet hat. In Großbritannien formierte sich ergänzend “New Pop”-Bands wie Heaven 17 (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) und ABC (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) - und versuchten ziemlich raffiniert und visionär, progressive Politik von Hippie-Ästhetiken zu lösen und zugleich die neuen Ökonomien des Thatcherismus zu geißeln. Sie erfanden Konzeptionen, Widerstand gegen den Neoliberalismus poppig, stylish und gegen jede Romantisierung des Elends von Arbeiterkulturen zu leisten. Heute werden diese Motti der Künstlichkeit und des Sich-neu-Erfindens oft dem Neoliberalismus zugeschlagen, wie in eine Produktpalette steten Wandel betreibend - diese historischen Formen jedoch richteten sich direkt gegen die ökonomischen Wandel kompensierende "Familie, Kirche, Vaterland"-Politik der Thatcheristen und Reaganonomics.

 Die Blow Monkeys (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) und erheblich erfolgreicher Style Council (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) griffen das auf. Über Paul Weller, zunächst bei The Jam, dann in Style Council aktiv, knüpften sie so auch an das Erbe der Mods an - eine sich in den späten 50er Jahren formierende "Working Class"-Jugendbewegung, die Ende der 60 Jahre noch einmal an Fahrt gewann mit Idolen wie The Who. Pointe war, sich eben nicht in den Blaumann oder als kohleverschmierter Kumpel zu inszenieren, sondern ganz auf Stil und schicke Klamotten zu setzen, um die Stigmatisierung der Arbeiter*innen zu überwinden. Im Soundtrack der Mods erklang immer schon von Soul und Ska, Black Music-Adaptionen, durchdrungen, die Style Council am konsequentesten und wohl auch virtuosesten weiterbearbeiteten, dabei auch mit Bossa Nova und Jazz spielend. Sie kombinierten diesen mit Texten, die radikal sozialkritisch ansetzten und sich auch vor wirklich harten Themen nicht scheuten:

https://www.youtube.com/watch?v=45DsZpjL4tM (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Style Councils Stilsierung, ja, deshalb hießen sie so, Auftritte in italienischen  Anzügen mitsamt Krawatte oder mit Pullovern, die auch von Oxford-Studenten getragen werden könnten, beinhaltete auch die Botschaft: wir lassen uns nicht als "Unterschicht" fixieren und zeigen uns trotzdem mit den gegen Thatcher streikenden Miners solidarisch. Gerade in marxistischen Sichtweisen wird manchmal übersehen, dass diese empowernde Seite des sozialen Aufstiegs, und sei es nur im Outfit, eben auch ein Weg ist, Deklassierung zu entrinnen. Das zeigte sich bei manchen schon in den eleganten Anzügen der Disco-Ära und später anders im Hip Hop wieder neu; ein Spiel auch mit Statussymbolen. "White Trash" Elvis Presley kommunizierte mit Menschen, die er kennen lernte, zuerst über teure Uhren am Handgelenk (berichtet so zumindest Dick Rivers, ein französischer Rock-Musiker). Es ist falsch, darüber die Nase zu rümpfen und Prekarisierten sodann zuzurufen, sie sollten sich doch bitte ungewaschen zurück aufs Lieferando-Fahrrad schwingen. Aus Klassenbewusstsein.

 In dieser Kaskade von Bands und Namen bildet die Linie eben dies: in der poppigen Stilisierung des eigenen Lebens Widerständigkeit gegen politische Zumutungen zu formulieren.

https://www.youtube.com/watch?v=xWwtMrDX2o8 (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

 Die Clips von Heaven 17 sind durchgestylet, zitieren den filmischen deutschen Expressionismus der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts - die Musiker sehen nicht aus wie Autonome bei Belagerungen des Springer-Verlages 1983. Diese "Ästhetik der Existenz" positionierte sich in sich widerständig gegen soziale Platzzuweisungen wie auch mackernde Rocker und thematisierte zugleich die "schöne", neue Wirtschaftswelt des Neoliberalismus.

ÄSTHETIK DER EXISTENZ

 Der Begriff "Ästhetik der Existenz" geht auf Michel Foucault zurück. Dieser französische Philosph hat sich nie mit Pop beschäftigt und gewann die Konzeption, die anschließend als "Lebenskunst" banalisiert wurde, aus antiken Schriften - will man dem Motto einen Sinn abgewinnen, dann kommt SOWOHL "No Wave", "Liquid Sky" und die New Yorker Szene als auch "New Pop" und seine Folgen dem schon ziemlich nahe. Es ist ein bisschen traurig, dass Paul Weller, der mit Style Council antrat, den Rocker von der Bühne zu verdrängen, später selber wieder zu einem wurde.

Viele der Protagonist*innen eint zudem auch das Spiel mit dem Androgynen, Queeren und unterschwelliger oder offenere Homoerotik, ein Zertrümmern der bis dahin dominierenden männlichen Genderperformances - eben Zerstörung dessen, was den Rechten so wichtig ist. Und sie alle spielen auch mit Motiven aus Black Music-Kontexten, Funk, Soul, Disco, Jazz, ohne diese plump zu imitieren oder zu appropriieren. Es mündet eher in eine bewundernde Kommunikation, statt mal eben so locker zu überschreiben.

 Da diese Stile - wie im Falle von "Liquid Sky" - nachhaltig auch in Film- und Print-Ästhetiken wirkten, oft - wie im Falle von Basquiat - auch mit bildender Kunst kommunizierten, ergibt sich hieraus ein anti-authentisches ästhetisches Szenario, das mir brandaktuell erscheint und mit dem ich hier zu arbeiten versuchen. Nein, man kann es nicht auf alle politischen Konflikte anwenden - aber schon schauen, wo das geht.

 Anti-Authentisch heißt dabei immer, alle Eigentlichkeitsvorstellungen und Essenzialismen zurückzuweisen, auf dass sie einem niemand mit Elektroschocks wegbehandeln will. Vielmehr zu wissen, dass man in soziale, lebensweltliche Netze eingewoben eh immer schon in Spielen der Zeichen situiert ist, die nicht von einem selbst stammen und und die man nutzen und umcodieren kann. Das steckt auch schon in der "Pop Art" drin; in "New Pop" und "No Wave" wurde diese weitergesponnen und bei Basquiat dann auch wieder gebrochen. Dessen oft fast wie Kinderzeichnungen gefertigten, doch großformatierten Meisterwerke thematisieren nicht zuletzt die Nicht-Repräsentierbarkeit schwarzer Körper in den Kontexten westlicher Darstellungsformen und zugleich, was das mit immer auch Ästhetiken Unterworfenen macht.

SICH DISZIPLINIERUNG UND NORMALISIERUNG ENTZIEHEN

 Eine weitere These Michel Foucaults besagt, dass gerade die Suche nach dem Eigentlichen in sich selbst so angeleitet würde wie einst in der Beichte die Fahndung nach dem Sündigen in den armen Schäfchen, so dass  in dieser Suche eine disziplinierende Wirkung sich entfalte. Die beinahe dekonstruktiven und zugleich expressiven Werke Basquiats kann man so anschauen: ihr wollt eigentlich, dass ich mich so darstelle, wie es den Regeln eurer Kunstgeschichte und eurer medialen Tradition entspricht. Das unterlaufe ich jetzt radikal und konsequent und finde so Freiraum und zugleich eine Möglichkeit, Leid auszudrücken. Man sortierte ihn dann vorsichtshalber in die Dada-. Collage- oder Picasso-Linie ein. Das wird seinem Werk, das auch mit Zulu-Symbolen spielt, jedoch nicht gerecht.

 Er legt damit zugleich den Finger in die Wunde der neuen Pop-Ästhetiken: sie eliminieren zwar nicht den Ausdruck von Leid, das geschieht über die Musik. Sie tendieren aber zu einer reinen Ästhetik des Schönen, die neue Normen schaffen kann - weniger im Falle des "No Wave", gerade Lydia Lynch wagte sich in radikal in andere Felder vor, aber in der britischen Linie. Z.B. Beth Deto von Gossip hat dann darauf reagiert. Es bildet auch eine Herausforderung.

WAHRNEHMUNGSFILTER IM ALLTAG

Wie diese Ästhetiken wirken, das ist schwer zu fassen. Sie sind keine Flugblätter, Apelle oder Handlungsanweisungen für die politische Praxis. Sie können individuell empowern und schaffen so etwas wie sozial konnotierte Texturen der Lebenswelt. Einfach, weil sie vertraute Terrains markieren, in denen sich der Normalisierung Entziehende freier entfalten können als im Großraumbüro oder am Fließband.

 Kein Zeichen, sei es musikalisch, in Künsten oder Filmen, ist frei von sozialen Denotationen, Bedeutungen. Der Musiksoziologe Simon Frith wurde berühmt durch Analysen der Musik von Black Sabbath, die für ihn bis in die Sounds hinein von der Industriekultur Birminghams geprägt wurde. Solche klanglichen und visuellen Texturen prägen den Sound von Städten und Landstrichen. Hamburg hört sich anders an als New York oder Rio de Janeiro. Neue Musiken und auch Ästhetiken verhalten sich zu diesen sie umgebenden Klängen, visuellen Eindrücken, Atmosphären. "Liquid Sky" bildet auch eine radikal neue Form, sich im zu dieser Zeit sehr abgerockten New York zu positionieren. Style Council gestatteten es den Yuppies, Young Urban Professionals, nicht, Arbeiterkulturen die Rolle der Verfemten, die man nicht in die guten Restaurants ließe, zuzuweisen. Sie schlagen zurück im Kampf um Distinktionsgewinne. Also dem Wettstreit darum, sich durch sozial definierte Codes, wie man sich in bürgerlichen Zusammenhängen z.B. anzuziehen habe, von anderen abzuheben.

 Diese Kämpfe um "Ästhetiken der Existenz" sind so nicht außerhalb sozialer Zusammenhänge situiert. Sie prägen jede Schullaufbahn - ob man nun zu den Cool Kids oder den Nerds gehört. Sie SIND Felder des Politischen.

 These dieses Textes ist, dass es aktuell nicht schadet, sich in diesem Kontext noch einmal "Liquid Sky" anzuschauen (die Story ist nicht sooo erheblich, die Ästhetik zählt), sich mit "No Wave" und "New Pop" zu beschäftigen und zu überprüfen, welche progressiven Potenziale darin liegen könnten.

In meinen Videos mühe ich mich um praktische Umsetzungen dieser Kommentierung und freue mich, wenn sie in diesem Sinne angeschaut und distribuiert werden.

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Sujet Kunst

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