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Ewiger Faschismus?

📍Predappio / Monaco di Baviera

Liebe Leserin, lieber Leser,

heute schreibe ich mit Anrede. Das sei doch schöner, wurde mir geraten. Ich finde, das stimmt. In diesem Sinne: Benvenuti, an alle, die hier neu sind!

Am vergangenen Samstag haben sich in München etwa 250.000 Menschen auf der Theresienwiese versammelt, um gegen den Rechtsruck zu demonstrieren (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). Es sind noch wenige Tage bis zur Bundestagswahl. Sogar auf Münchner Linienbussen macht die Landeshauptstadt Werbung für ihre Kampagne #gegenRechtsextremismus. (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) Ein klares Zeichen.

Ich bin in München aufgewachsen, bin hier zu Schule gegangen. Gleichzeitig habe ich immer wieder viel Zeit in Italien verbracht, ein Teil meiner Familie und Freunde leben dort. Im Studium habe ich mich intensiv mit meinem zweiten Heimatland auseinandergesetzt, bin viel in Italien herumgereist, habe Orte und Menschen kennengelernt. Einmal besuchte ich Freunde von Verwandten am Stadtrand von Rom. Wir aßen draußen, es war schön. Eigentlich ganz normale Leute. Allerdings: In einem Raum der Wohnung der Gastgeber hing ein Bild von Mussolini. Einfach so. Das verstörte mich. Ich sagte nichts dazu. Traute mich nicht. Irgendwann begriff ich: Der Umgang Italiens mit seiner Vergangenheit ist ein anderer, als der, den ich aus Deutschland kenne.

Was ich mir vor den Wahlen in Italien im September 2022 gewünscht hätte? Friedliche Demonstrationen im Namen der Demokratie und Kampagnen in italienischen Großstädten, die sich offen gegen Rechtsextremismus stellen. Ähnlich wie es sie gerade in Deutschland gibt. So etwas fand und findet in Italien, wenn überhaupt, nur im Kleinen statt. Kampagnen gegen Rechts im öffentlichen Raum? Sieht man dort eher nicht.

Die Tageszeitung La Repubblica teilte am vergangenen Samstag ein Video der Demonstration in München. (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)In der Kommentarspalte darunter fanden sich (neben, ja, leider auch vielen rechtsextremen Parolen) solche Meinungen: “Quando in Italia?” (Wann in Italien?), und: “La Germania ha imparato dalla storia, l’Italia purtroppo non del tutto.” (Deutschland hat aus der Geschichte gelernt, Italien leider gar nicht”).

Eine Aufarbeitung der Verbrechen des Zweiten Weltkriegs hat man in Italien versäumt, sie ist bis heute unvollständig, geht langsam voran. Dass das so ist, liegt mitunter daran, dass die italienische Regierung 1946 eine Amnestie (Dekret vom 22. Juni 1946 Nr. 4, „Togliatti-Amnestie“) für Kriegsverbrecher und Faschisten unterzeichnete. Man wollte das Land einen, innenpolitische Ruhe haben. So konnten Anhänger des Faschismus und auch Täter im Italien der Nachkriegszeit weiterhin in ihren Positionen bleiben, Karriere machen. Prozesse und Verurteilungen, wie sie in Deutschland stattfanden, gab es in Italien so nicht.
Zu glauben, diese Tatsache würde sich nicht auch auf die politische Gegenwart in Italien auswirken, halte ich für leichtfertig. Die Meinung, Mussolini hätte ja auch Gutes für Italien getan, hält sich in in manchen Teilen der italienischen Bevölkerung noch immer hartnäckig.

In diesem Newsletter möchte ich deshalb an einen Ort gehen, der zwar klein ist, aber viel über den Umgang Italiens mit seiner faschistischen Vergangenheit verrät. Heute machen wir einen Stopp in Predappio in der Emilia-Romagna.

Predappio - Pilgerstätte für Mussolini-Anhänger
Ein kleiner Ort, der nur etwas mehr als 6.000 Einwohner und Einwohnerinnen zählt. Vermutlich würde man Predappio kaum kennen, wäre es nicht Mussolinis Geburtsort und seit 1957 auch seine Grabstätte. Seitdem hat sich Predappio zu einer skurrilen Mischung aus Wallfahrtsort und Kultstätte für Rechtsextreme entwickelt. Jährlich treffen sich dort an Mussolinis Geburts- und Todestag, sowie am Jahrestag der Marcia su Roma (Marsch auf Rom) im Oktober, zahlreiche Rechtsextreme. Manche reisen auch aus dem Ausland an.
Von Predappio aus gelangt man mit dem Auto außerdem in etwa 15 bis 20 Minuten nach San Martino in Strada, wo die “Villa Carpena” steht, besser bekannt unter dem Namen “Villa Mussolini - Casa dei ricordi” (Haus der Erinnerungen). In der Villa lebte Mussolini zeitweise mit seiner Frau und den gemeinsamen Kindern. Vor 25 Jahren kaufte ein Unternehmer die Villa und baute sie zu einem Museum um. Mussolini-Anhänger machen dort nun Selfies, stellen die Fotos von ihrem “Museumsbesuch” auf Tripadvisor online (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre).

Aufarbeitung: Deutschland vs. Italien
Schaut man aus deutscher Perspektive auf diese Dinge, erscheint das alles absurd. Dass so etwas in Italien möglich ist, hat, wie oben bereits erwähnt, mit einer mangelhaften Aufarbeitung des Faschismus zu tun und andererseits mit einem Gesetz, der Legge Scelba. Dieses Gesetz aus dem Jahr 1952 verbietet unter anderem die Verherrlichung des Faschismus. Also theoretisch. Praktisch legen italienische Gerichte dieses Gesetz großzügig aus, denn solange es sich um Gedenken handelt, ist es kein Verbrechen. Da die Villa als “Museum” geführt wird, darf sie bleiben. Solange die konkrete Gefahr einer Reorganisation der faschistischen Partei nicht besteht, legen die Gerichte meist auch die Verwendung faschistischer Symbole und Gesten leider großzügig aus.

Fotoreportage aus Predappio
Der deutsch-italienische Fotojournalist Giorgio Morra (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) hat Predappio vor zehn Jahren besucht, hat dort fotografiert und mit den Menschen vor Ort gesprochen. Ich möchte einige seiner Aufnahmen hier zeigen, weil sie noch immer aktuell sind. Mit Giorgio habe ich über seine Eindrücke in Predappio gesprochen. Im Anschluss an das Gespräch werde ich, weil es thematisch passt, noch kurz auf die neue Miniserie M - Il Figlio del Secolo (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)eingehen. Das wird also ein längerer Newsletter. Nun aber das Interview:

Interview mit Fotoreporter Giorgio Morra

Ornella Cosenza: Zu welchem Anlass bist du nach Predappio gefahren?

Giorgio Morra: Ich war mehrere Wochen zwischen 2014 und 2015 in Predappio – jeweils zu den Gedenkmärschen faschistischer Anhänger und Rechtsextremer, die aus Italien und teilweise aus der EU anreisten. Dabei marschierten etwa 2.000 bis 3.000 Teilnehmer*innen vom Hauptplatz der 6.500-Einwohner-Stadt zur Krypta, um anlässlich von Mussolinis Todestag, Geburtstag sowie der Machtübernahme in Rom (der „Marcia su Roma“) dem Duce und dem Faschismus zu huldigen. Nach diesen Veranstaltungen kehrte Ruhe ein. Die Geschäfte mit rechten und faschistischen Artikeln waren dann kaum mehr besucht, und die Bewohner lebten in der faschistischen Planstadt wie in anderen Orten der Region auch.

© Giorgio Morra
Mussolini-Anhänger versammeln sich in Predappio © Giorgio Morra
© Giorgio Morra
Schaufenster eines "Souvenir-Shop" in Predappio © Giorgio Morra

Welche Gedanken hattest du nach deinem Predappio-Besuch ?

Fassungslosigkeit darüber, wie eine Verherrlichung und Verklärung dieses rechten Gedenkkults stattfinden kann. Die Verbrechen Mussolinis und seiner Helfer wurden oft hinter denen Hitlers versteckt – ein typisches Beispiel dafür, wie Geschichte immer wieder revidiert wird. Dass Mussolini Angriffskriege führte, Menschen deportieren und ermorden ließ, wurde heruntergespielt oder verschwiegen. In Predappio überwiegt ein folkloristischer Blick auf diese Vergangenheit – und das ist fatal. Zwar gab es unter dem ehemaligen Bürgermeister Giorgio Frassineti wiederholt Bestrebungen, ein erstes Museum und wissenschaftliches Zentrum zur Faschismus- und Totalitarismusforschung einzurichten, doch bisher ist dies nicht geschehen.

Der ehemalige Bürgermeister Giorgio Frassineti am Schreibtisch von Mussolini im Rathaus in Predappio © Giorgio Morra

Wieso hast du dich dazu entschieden, einen so kontroversen Ort zu besuchen?

Als ich Anfang 2014 nach einem Thema für meine Abschlussarbeit suchte, begann der Aufstieg rechtspopulistischer Parteien und rechtsextremer Gruppen in der EU. Bei den Bundestagswahlen 2013 verpasste die AfD nur knapp den Einzug in den Bundestag, erreichte aber bei den Europawahlen 2014 bereits 7,1 Prozent der Stimmen – damals noch unter Bernd Lucke. Zeitgleich rückten Matteo Salvini (damals noch Lega Nord), Marine Le Pen (Front National) und Geert Wilders (PVV) mit ihren Forderungen zunehmend in den Fokus. Besonders die Themen Grenzschließungen und die Bekämpfung illegaler Migration standen im Zentrum ihrer Politik. Es kam die Frage auf, wie umzugehen mit der Situation? Dann erinnerte ich mich an Predappio, den Ort, an dem Benito Mussolini (1883–1945) begraben liegt und der knapp 70 Jahre nach seiner Beisetzung in der Familiengruft zum Pilgerort für Anhänger des Faschismus und Rechtsextreme geworden ist.

Das Grab von Mussolini in der Familiengruft © Giorgio Morra
Vor dem Rathaus versammelt sich eine Gruppe von Mussolini-Anhängern, darunter auch Familien. Die italienische Flagge mit dem Adler, der ein Liktorenbündel hält, war die Flagge der faschistischen Italienischen Sozialrepublik (RSI, auch: Republik von Salò) © Giorgio Morra

Wie kann man sich den Ort vorstellen? Wo „pilgern“ die Mussolini-Anhänger hin?

Predappio besteht aus Predappio Alta und Predappio Nuova. Nachdem ein Erdrutsch einen Teil des Gebiets zerstörte, ließ Mussolini Predappio Nuova errichten. Sie gilt als die erste faschistische Planstadt. Ein Beispiel dieser Architektur ist die „Casa del Fascio e dell’Ospitalità“ am Hauptplatz. Im angrenzenden Berg, zwischen Predappio Alta und Predappio (Nuova) sind Bunkeranlagen gebaut worden, in denen unter anderem Flugzeuge gefertigt wurden. Es war der Versuch, dem Ort wirtschaftliche Perspektiven zu geben. Gleichzeitig begann der Kult um Mussolinis Geburtsort, der bis heute sichtbar ist. Mit der Überführung seines Leichnams in die Familiengruft wurde Predappio endgültig zum Pilgerort für italienische und ausländische Neofaschist*innen. Seit 2014 nutzt die Universität Bologna die Bunkeranlagen für Forschungsprojekte, unter anderem für Turbinentests in einem Windkanal.

Die „Casa del Fascio e dell’Ospitalità“ am Hauptplatz von Predappio © Giorgio Morra

Wie gehen die Bewohner von Predappio mit der Situation um?

Politisch ist der Ort nicht extremer als andere in der Umgebung. Doch die Geschichte des Faschismus wiegt schwer. Der ehemalige Bürgermeister Frassineti erzählte mir eine prägende Kindheitserinnerung: Als Junge durfte er nicht draußen spielen, weil seine Mutter Angst hatte, er könne bei Auseinandersetzungen zwischen linken und rechten Gruppen verletzt werden. Ich denke, diese Anekdote beschreibt es gut.

Woher kamen die „Touristen“?

Viele der Teilnehmer der Gedenkmärsche reisten aus ganz Italien an, vereinzelt auch aus dem Ausland. Bewohner von Predappio habe ich bei diesen Veranstaltungen nicht getroffen.

Faschistischer Gruß bei einer Versammlung Rechtsextremer vor der Familiengruft Mussolinis. Der Ausdruck der Rechten ist bei „Gedenkveranstaltungen“ in Italien nicht unter Strafe gestellt © Giorgio Morra

Mit welchem Gefühl bist du abgereist?

Bei meinem ersten Besuch erschien mir Predappio völlig absurd. Zunächst durchquert man kleine Dörfer – und dann taucht plötzlich eine Musterstadt faschistischer Architektur auf, die Mussolini errichten ließ, um sich und seine Ideologie zu verherrlichen. Faschismus ist keineswegs nur ein historisches Phänomen und in Predappio wird das auf bedrückende Weise bildhaft.

Wie hat Predappio dein Bild von Italien und dem italienischen Umgang mit dem Faschismus beeinflusst?

Nach meiner Arbeit dort wurde mir noch klarer, wie wichtig eine kontinuierliche kritische Auseinandersetzung mit dieser Zeit ist – und wie sehr sie in Italien versäumt wurde. Solange keine aktive Aufklärung stattfindet, kann sich eine gefährliche Akzeptanz einschleichen. Das gefährdet die Demokratie und bietet extremen politischen Lagern eine Basis für Bestätigung und Zulauf.

Schlafzimmer Mussolinis in der Villa Caperna, dem ehemaligen Wohnaus seiner Familie. Heute bekannt als "Casa dei Ricordi" und von Anhängern Mussolinis eröffnet © Giorgio Morra

Die Miniserie M - Il Figlio del Secolo


Ich weiß, ich könnte jetzt auch über das Musikfestival Sanremo schreiben. Das wird in diesem Newsletter leider nichts. Nur ein paar einleitende Gedanken vorweg:

Kein Bock auf TeleMeloni
Geschaut habe ich den Auftakt natürlich schon und die kritischen Stimmen waren nach der ersten Ausstrahlung laut. Sanremo sei unter “TeleMeloni” auch nicht mehr das, was es mal war, las ich vor allem auf Social Media. Die RAI ist ein staatlicher Sender, Regierungsnähe ist daher kaum verwunderlich und auch nichts Neues. Seit einer Gesetzesreform im Jahr 2016 ist RAI aber abhängiger von der jeweiligen Regierung geworden. Allerdings ist das Ausmaß des Einflusses der Meloni-Regierung auf die RAI schon bemerkenswert. Einige, vor allem im politischen Spektrum eher links angesiedelte Moderatoren und Moderatorinnen wechselten (mit ihren Sendungen) zu privaten Sendern (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). Ein Fall, der im vergangen Jahr im Ausland für Aufsehen gesorgt hat, war der gecancelte Auftritt des Schriftstellers Antonio Scurati bei der RAI (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), der seine Rede zum 25. April (Tag der Befreiung Italiens) dort nicht halten durfte. Die Zeitung La Repubblica veröffentlichte die Rede dennoch (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre).

Scurati kritisiert in dieser Rede die Regierung, er schließt mit den Worten: “Finché quella parola – antifascismo – non sarà pronunciata da chi ci governa, lo spettro del fascismo continuerà a infestare la casa della democrazia italiana.” (Solange dieses Wort - Antifaschismus - nicht von denjenigen ausgesprochen wird, die uns regieren, wird das Gespenst des Faschismus weiterhin im Haus der italienischen Demokratie spuken.)

Antonio Scurati: M. Il figlio del secolo / M. Der Sohn des Jahrhunderts (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
Scurati, 1969 in Neapel geboren, gehört zu den wichtigsten kritischen Stimmen in Italien. Für seine vierbändige Biografie “M. Il figlio del secolo” über den Diktator Benito Mussolini wurde er 2019 mit dem Premio Strega ausgezeichnet, einem der renommiertesten Literaturpreise des Landes.

Seit Anfang Januar ist die Verfilmung des ersten Bandes als Miniserie auf Sky Italia zu sehen. Die Serie wurde in Italien viel diskutiert und ist bisher eben nur im Pay-TV verfügbar. Schade, finde ich. Denn genau so eine Serie bräuchte Italien gerade, und zwar zugänglich für alle.

Die Biografie des Diktators als Miniserie auf Sky Italia
In der achtteiligen Serie wird die Biografie von Mussolini ab 1919 erzählt, also ab dem Zeitpunkt, an dem der spätere Diktator di fasci italiani di combattimento gründet, bis zur Ermordung von Giacomo Matteotti, Abgeordneter des Partito Socialista Italiano (PSI, Italienische Sozialistische Partei) im Jahr 1924.

Mussolini (gespielt von Luca Marinelli) mit seinen Anhängern

Publikumsliebling Luca Marinelli (bekannt u.a. aus “Acht Berge”) spielt Benito Mussolini, und zwar einen Mussolini, und das ist die Besonderheit dieser Serie, der zwischendurch immer wieder direkt in die Kamera schaut und die Zuschauer und Zuschauerinnen anspricht. Man wird dadurch quasi zum Komplizen seiner Gedanken. Dieses aus der Rolle fallen, wirkte auf mich anfangs unpassend, ich musste mich daran gewöhnen. An einigen Stellen passte es sehr gut, wirkte fast bedrohlich. Gleichzeitig spielt er ihn mit Witz, der Duce wirkt komisch und lächerlich.

Auch an den Soundtrack Serie muss man sich im ersten Moment gewöhnen. Regisseur Joe Wright holte sich dafür Tom Rowlands von The Chemical Brothers ins Boot und so trifft Faschismus auf elektronische Musik. Man wollte, so heißt es in den Interviews, die man nach der Serie ebenso auf Sky Italia sehen kann, dass der Serie ein futuristischer Touch verliehen wird. Ich finde, es hat etwas größenwahnsinniges - aber auch das passt zu Mussolini.

Nun wurde in Italien sehr viel diskutiert darüber: Filmplakate mit dem Schauspieler, der den Römischen Gruß zeigt? Schlimm! Luca Marinelli, der in Interviews betont, dass er wirklich Antifaschist ist? Peinlich! Und so weiter und so fort. Man kann sich jetzt über diese Serie streiten, aber man kann auch einfach anerkennen, was die Serie gut macht: Sie ist historisch sehr genau und detailliert, sie zeigt den Aufstieg Mussolinis ohne ihn als Mythos darzustellen, sie zeigt, wie schnell eine Stimmung kippen kann.

Das Filmteam ging zur Promotour mit der Serie auch an Schulen. Und selbst Marinetti sagt in den Interviews an einer Stelle, es gäbe in der Serie viele Details, die er zu seiner Schulzeit nie gelernt hat.

Architektur & Faschismus
Es wundert mich nicht, es zeigt einmal mehr den noch immer schleppend vorangehenden Umgang mit der Aufarbeitung der Rolle Italiens im Zweiten Weltkrieg. Und wer schon mal in Rom war, der braucht nur das Foro Italico zu besuchen und kommt nicht dran vorbei, am Mussolini-Obelisk mit dem Schriftzug MVSSOLINI DVX. Der steht dort einfach so herum, 17 Meter hoch, 300 Tonnen schwer. Keine Kontextualisierung in Form von Erklärtafeln.
Gleiches gilt auch für ein beliebtes Fotomotiv: der Palazzo della Civiltà Italiana.

Palazzo della Civiltà Italiana

Errichtet für die Weltausstellung 1942 in Rom, hatte der Klotz genau eine Funktion, nämlich die Verherrlichung des Faschismus. Das Gebäude stand viele Jahre leer, diente immer wieder als Filmkulisse und seit 2015 ist das Modelabel Fendi in den Räumlichkeiten zuhause. Auf dieser Seite von Turismo Roma wird das Wort “Faschismus” im Zusammenhang mit dem Palazzo noch nichteinmal erwähnt. (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Der Wert solcher Gebäude aus der Perspektive der Architektur ist das eine, das fast gänzliche Vergessen der Geschichte dieser Bauwerke das andere. Sobald man die politische Bedeutung der faschistischen Bauten beginnt zu verschleiern, werden sie als normale Gebäude und Monumente deklariert, keiner denkt mehr darüber nach. Das genau aber ist eine Verharmlosung, die dann von rechtsextremen Ideologien schnell ausgenutzt werden kann. Es bräuchte hierfür doch mehr Bewusstsein und Aufklärung im öffentlichen Raum?

Die Nicht-Wähler-Quote liegt in Italien bei ungefähr 60 %, übrigens. Schade also, dass die Miniserie derzeit nur im Pay-TV für ein ausgewähltes Publikum verfügbar ist. Sie hätte das Potenzial dazu, auf zugängliche Art und Weise mehr historische Fakten in das kollektive Gedächtnis der Italiener zu bringen.

Ewiger Faschismus? Bitte nicht.

Quellen und Links

Faschismus Italien:

Beitrag von Thomas Migge im Deutschlandfunk zur fehlenden Aufarbeitung in Italien, 12.03.2017 (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Conti, Davide. Gli uomini di Mussolini : prefetti, questori e criminali di guerra dal fascismo alla Repubblica italiana. Torino: Giulio Einaudi editore, 2017.

Scurati, Antonio. Fascismo e populismo : Mussolini oggi. Prima edizione. Firenze - Italia: Bompiani, 2023.

Zum Verständnis des Scelba-Gesetz und Strafbarkeit/Nichtstrafbarkeit des Römischen Grußes, Rechtslage in Italien, empfehle ich diesen Aufsatz:
Caroli, Paolo. "Die Strafbarkeit des Römischen Grußes in Italien" Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte, vol. 19, no. 1, 2018, pp. 48-64. https://doi.org/10.1515/jajuz-2018-0004 (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre).
(Zitat: “In Deutschland gibt es keinen Zweifel daran, dass jene, die den Römischen-Hitler-Gruß oder ein Hakenkreuz zeigen, ein Regime des Hasses wiederbeleben wollen, das unmenschliche Verbrechen begangen hat. Deshalb besteht ein einhelliger Konsens, dass solche Tathandlungen eine Gefahr mit sich bringen und eine Strafe verdienen. In Italien kann ein solcher Konsens nicht existieren, gerade weil das Problem der Definition von Faschismus seit dem Ende des Krieges nie wirklich behandelt wurde. Es ist also nach wie vor ungelöst.”)

Umberto Eco, Roberto Saviano, und Burkhart Kroeber. Der ewige Faschismus. 1. Auflage. München: Carl Hanser Verlag, 2020.

Faschismus & Architektur:

https://www.newyorker.com/culture/culture-desk/why-are-so-many-fascist-monuments-still-standing-in-italy (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/faschistische-architektur-diese-mussolini-monumente-mag-man-in-italien-nicht-missen (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Lucaroni, Giorgio. “Architetture di storia : fascismo, storicità, cultura architettonica italiana.” Viella, 2022.

Mattioli, Aram, und Gerald Steinacher. „Für den Faschismus bauen : Architektur und Städtebau im Italien Mussolinis“. Zürich: Orell Füssli, 2009.

M - Il Figlio del Secolo:

M - Il Figlio del Secolo - Behind the scenes mit Interviews (Italienisch) (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Serie auf Sky Italia (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

M. Der Sohn des Jahrhunderts in deutscher Übersetzung, erschienen bei Klett-Cotta (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Rezension der Serie auf rivistastudio (Italienisch) (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Zu Antonio Scurati und Zensur bei RAI (tagesschau.de) (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Wer schreibt?

Ciao, ich bin Ornella und die Autorin hinter autostrada del sole.
Mit diesem Newsletter möchte ich ein vielschichtiges Bild von Italien zeigen. Abseits von vino, dolce vita und amore. Tipps für Reisen wird es bei mir also nicht, oder, wenn überhaupt, nur in Ausnahmefällen geben.
Stattdessen möchte ich Themen aus Italien aufgreifen, die in Deutschland in dieser Form weniger sichtbar sind. Ich möchte in die Tiefe gehen, euch mitnehmen nach Italien zu Menschen, Geschichten, Orten und Dingen, die ich erzählenswert finde, und euch dazu einladen, auf dieses Land ohne romantisierende Sonnenbrille zu schauen. Und wer weiß, vielleicht entdeckt ihr Italien dann von einer anderen, neuen Seite (und könnt mit dem Wissen beim nächsten Urlaub punkten)?

Ich bin Tochter und Enkelin italienischer (Gast)arbeiter aus Sizilien, arbeite als Journalistin für verschiedene Medien (u.a SZ, fluter, The Weekender, etc.) und bin zweisprachig aufgewachsen. Studiert habe ich Italienische und Romanische Philologie. Schon immer bewege ich mich viel, bedingt durch meine Familiengeschichte, zwischen Deutschland und Italien. Ich kenne beide Länder sehr gut, bin in München und Süditalien Zuhause. Aus dieser Perspektive heraus möchte euch mitnehmen nach Italien. Schön, dass ihr dabei seid. 💙

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Lesungen

20. Februar 2025, 18.30 Uhr, Gesellschaftsraum, München
»Und so blieb man eben für immer«
Lesung, Gespräch und Buchvorstellung (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
Gemeinsame Lesung mit Jehona Kicaj und Barış Yüksel