Von Zügen, Kindern und Hoffnung
Mit ein wenig Verspätung kommt heute mein Newsletter am letzten Tag des Jahres in euer Postfach. Weihnachten, Kranksein, Zeit mit Lieblingsmenschen - da musste der Newsletter doch warten, scusate. Nun aber: si parte, wir fahren wieder.
📍Napoli - Bahnhof
Gestartet wird dort, wo die Autostrada del Sole endet: in Neapel. Wir machen allerdings eine kleine Zeitreise in das Neapel direkt nach Ende des Zweiten Weltkriegs, Winter 1946. Damals lebte ein großer Teil der Bevölkerung in Armut, die Folgen des Krieges waren überall zu spüren. Es fehlte an allem: Lebensmittel, Kleidung, warme Wohnräume, Schulbildung. Besonders Kinder litten darunter.
Die Kinderzüge
In genau dieser Zeit spielt auch der Roman Il treno dei bambini von Viola Ardone (Ein Zug voller Hoffnung, hier (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) geht es zur deutschsprachigen Ausgabe). Ardone erzählt darin die Geschichte des kleinen Jungen Amerigo. Er ist sieben Jahre alt und lebt mit seiner Mutter, einer Schneiderin, in ärmlichen Verhältnissen in Neapel. Amerigo ist untergewichtig, das Essen reicht oft nicht für Mutter und Sohn aus, er trägt kaputte Schuhe. Der Vater, so sagt es die Mutter, ist nach Amerika gegangen, eines Tages würde er zurückkommen. Irgendwann hört Amerigos Mutter von einer Initiative, die bedürftige Kinder zu anderen Gastfamilien nach Norditalien schickt, um ihnen für mehrere Monate ein besseres Leben und den Besuch der Schule zu ermöglichen.
Die Geschichte von Amerigo ist fiktional, der historische Rahmen aber, in dem der Roman spielt, ist wahr. Die Kinderzüge von Süd nach Nord gab es wirklich. Seit Anfang Dezember gibt es außerdem die Verfilmung des Romans auf Netflix zu sehen (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). (Für den Film ggf. Taschentücher mit auf’s Sofa nehmen). Viel mehr möchte ich nun gar nicht verraten zum Buch (an manchen Stellen fehlte es mir ein wenig an Tiefe, sowohl im Buch, als auch im Film), das sehr unterschiedliche Kritiken bekommen hat, in Italien aber dennoch großen Erfolg hatte.

Der Unterschied zwischen Nord und Süd
Das liegt vermutlich auch daran, dass im Roman die questione meridionale, die sogenannte „Südfrage“ mitschwingt. Der Begriff bezeichnet Probleme, die sich daraus ergeben, dass in Süditalien seit 1861 (also seit der Einheit Italiens) bis heute ein niedrigeres wirtschaftliches Entwicklungsniveau und eine schwächere Entwicklung vieler wichtiger Aspekte des gesellschaftlichen Lebens im Vergleich zu den zentralen und nördlichen Regionen bestehen. Der Entwicklungsrückstand gegenüber Nord- und Mittelitalien konnte auch nach dem Zweiten Weltkrieg nie ganz beseitigt werden, weil der italienische Staat über mehrere Jahrzehnte hinweg mehr in die nördlichen Regionen investiert hat als in den Süden*. Die Folgen sind noch bis heute spürbar (und das vertiefe ich vielleicht demnächst in einem anderen Newsletter).
Geschichtlicher Hintergrund: Wer organisierte die Züge?
Auf Initiative der Frauengruppe Unione di donne in Italia (UDI), gefördert von der Kommunistischen Partei Italiens (PCI), entstand die Idee, verarmte Kinder zu wohlhabenderen Familien zu schicken, um ihnen ausreichend Essen, Körperpflege, einen sicheren Schlafplatz und den Schulbesuch zu ermöglichen. Anfangs kümmerte man sich um verwahrloste und verwaiste Kinder aus den Gegenden um Mailand und Turin. Relativ schnell bemühte man sich dann darum, die Solidaritätsinitiative auch auf die südlichen Regionen des Landes auszuweiten.

Und so fuhren schon bald Züge, die treni della felicità gennant wurden, also Glückszüge oder Züge des Glücks, aus Süditalien nach Nord- und Mittelitalien (besonders nach Ligurien, in die Emilia-Romagna, in die Toskana, in die Marken). Diese Züge hatten in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Spaltung und der Unterschied zwischen Nord und Süd nochmal deutlich spürbar war, auch einen starken symbolischen Charakter. Sie einten das Land auf ihre eigene Art und Weise.
Die Kinder blieben für mehrere Monate in den Familien (meist waren das Partisanenfamilien, die auch schon eigene Kinder hatten). Es gibt Berichte von Zeitzeugen und Zeitzeuginnen, die erzählen, dass sie die Erinnerung an diese Monate mitunter als die Schönsten aus ihrer Kindheit empfinden. Die Schauspielerin Serena Rossi, die die Mutter von Amerigo in der Netflix-Verfilmung spielt, erzählte neulich in einem Radio-Interview von ihrer Großmutter, die als kleines Mädchen mit einem dieser Züge nach Norditalien gebracht wurde und sich gerne an diese glückliche Zeit zurück erinnert. (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
Solidarität und Wärme
Mich fasziniert an diesen Geschichten vor allem die Stärke der Frauen, auf beiden Seiten. Wie schwer kann es als Mutter sein, seine Kinder in einen Zug zu setzen, damit sie es woanders besser haben? Wie unendlich groß muss die eigene Not sein? Wie viele schlaflose Nächte haben diese Mütter gehabt?
Mich rührt die Solidarität unter den Frauen, unter den Familien. Ein fremdes Kind bei sich aufzunehmen und es so gut wie möglich genauso wie das eigene Kind zu behandeln. Die Frauengruppe der UDI, die die Glückszüge organisierte, ist außerdem dieselbe gewesen, die sich in Italien unermüdlich für die Gleichstellung der Frau eingesetzt hat und das Abtreibungs-, Scheidungs- und Familienrecht möglich gemacht hat.
Dieses Kapitel der italienischen Nachkriegsgeschichte mag feministisch sein, ja. So wird es auch oft betont. Für mich ist es aber eine zutiefst menschliche Erzählung. Sie macht mir Hoffnung. Auf verschiedenen Ebenen.
Und damit verabschiede ich mich für heute: Mit Hoffnung. Ich wünsche euch Wärme für das neue Jahr, vor allem menschliche.
PS: Ich freue mich jederzeit über Feedback, Wünsche, Fragen, eure Gedanken, Liebesbriefe: kontakt@ornellacosenza.com (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) und auch, wenn ihr diesen Newsletter weiterempfehlen wollt.
*Zur Südfrage: Questione del Mezzogiorno (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), von Guido Pescosolido und EURISPES-Report 2020 (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
Maida, Bruno. I treni dell’accoglienza: infanzia, povertà e solidarietà nell’Italia del dopoguerra, 1945-1948. Torino: Giulio Einaudi editore, 2020.
Nocht ein Filmtipp zum Thema (leider nicht auf Netflix): Pasta nera (2011) von Alessandro Piva.
Zum Schluss in eigener Sache: Im neuen Jahr wird es ein paar Termine geben, an denen ich aus meinem Text “Quello che resta, das, was bleibt” lesen werde, der in der Anthologie Und so blieb man eben für immer: Gastarbeiter*innen und ihre Kinder (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) erschienen ist:
25. Januar 2025, 20.30 Uhr, Mülheimer Freiheit, Köln
Auf Einladung der Makkaroni Akademie (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
Lesung mit anschließendem Gespräch mit Anna di Bari
30. Januar 2025, 19.30 Uhr, EineWeltHaus, München
Stimmen für eine vergessene Generation. Lesung mit Daughters and Sons of Gastarbeiters (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
Gemeinsame Lesung mit Çiçek Bacık und Abdulvahap Cilhüseyin
20. Februar 2025, 18.30 Uhr, Gesellschaftsraum, München
»Und so blieb man eben für immer«
Lesung, Gespräch und Buchvorstellung (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
Gemeinsame Lesung mit Jehona Kicaj und Barış Yüksel
