Zur (Care-)Lücke in männlichen Biographien
Sascha Verlan
"Was haben Unternehmen denn davon, auf den Faktor 'Equal Care' zu setzen?"
Diese Frage steht sofort im Raum, wenn ich angefragt werde für Vorträge und Workshops in Unternehmen oder für andere wirtschaftsnahe Anlässe. Oder überspitzter: Was haben Männer davon, wenn sie mehr Sorgeverantwortung übernehmen? "Was sind die Goodies? Können Sie das für unsere Zielgruppe mit positivem Blick herausstellen?"
In diesen Fragen zeigt sich einerseits die fatale Übereinkunft, dass nämlich Sorge- und Versorgungsarbeit eine Belastung seien, notwendig, gewiss, aber eben auch lästig. Das ist eine grundsätzliche, und tief verinnerlichte Herabsetzung der Care-Arbeit. Kein Wunder also, dass Unternehmen bzw. Männer nur zu überzeugen sind, hier ihren Beitrag zu leisten, wenn es auch dem eigenen Profit oder Ansehen dient. Zum Zweiten wird in diesen Fragen deutlich, wie unsichtbar - faktisch und metaphorisch - Sorge- und Versorgungsarbeit immer noch sind, wie wenig Wissen um die Zusammenhänge da ist, wie wenig Gedanken sich die Fragenden bisher gemacht haben - und das sind durchaus auch Frauen, weil wir alle in dieses System hineingewachsen sind und seine Regeln internalisiert haben. Doch was normal scheint und gewohnt, ist deshalb nicht zwangsläufig auch gut und erhaltenswert.
Wer Care-Arbeit übernimmt, hat Nachteile
Was Care-Arbeit ist, und welchen persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Nutzen sie eigentlich hat, dass wir darüber im Jahr 2022 überhaupt und insbesondere nach zwei Jahren Pandemie und Lockdowns und all den offensichtlichen Überlastungen und Schieflagen noch sprechen müssen, ist schon einigermaßen erstaunlich und bedrückend.
Um es ganz deutlich zu sagen: wir leben in einer Gesellschaft, in der einerseits Menschen, die Sorgeverantwortung übernehmen, finanziell abgestraft werden, und andererseits Menschen, die sich ihrer Sorgeverpflichtung entziehen, davon profitieren. Sie profitieren nicht nur finanziell, sondern in eigentlich allen gesellschaftlichen Bereichen, in Politik und Wissenschaft, in Kultur und Sport, insgesamt im öffentlichen Leben … und sitzen munter auf all male-panels, wie das aktuelle Foto der Munic Security Conference von @MichaelBroecker (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) mal wieder eindrucksvoll zeigt.
Und Sonja Bastin fragt zurecht: "Wie viel #CareArbeit die Herren wohl bisher geleistet haben? (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) … Und in Anspruch genommen. … Und noch in Anspruch nehmen werden …?"
Rüstungstisch oder Care-Arbeit?
Sollte gesellschaftlicher Wandel darauf zielen, dass Frauen endlich zu gleichen Anteilen am Rüstungstisch sitzen? Wäre nicht wichtiger - und würde andere Ungerechtigkeiten automatisch mit aus der Welt schaffen - würden Männer endlich ihren Anteil der Sorgearbeit tragen und würden sie Care-Gipfel organisieren und mitentscheiden wollen, wenn es darum geht, Care-Arbeitende dem Wert ihrer Arbeit entsprechend zu entlohnen! Dass wir es als normal und richtig erachten, dass ganze Gesellschaftsgruppen ihren Teil der Sorgearbeit nicht leisten, ist der eigentliche Skandal.
Das Gegenteil, also das Fehlen von Fürsorge ist schlicht Rücksichtslosigkeit. Wir leben folglich in einer Gesellschaft, die Rücksichtslosigkeit belohnt, ja fordert: sich selbst, den Mitmenschen, anderen Ländern, der Umwelt gegenüber. Und trotzdem sind es die Aktivist*innen, die erklären müssen, welchen Nutzen es hat für Unternehmen und Männer, fürsorglich zu sein. Reicht denn nicht als erstes Argument: einfach kein rücksichtsloser Klotz zu sein, der sich auf den Sorgeleistungen anderer ausruht, sich daran bereichert?
Kinder sind aus sich heraus fürsorglich
Und etwas weiter gedacht: warum braucht es überhaupt Anreize und Belohnungen? Kleine Kinder, und man staune, nicht nur Mädchen, genauso Jungen sind aus sich heraus fürsorglich, sie kümmern sich um andere, kleinere Geschwister, Schwächere. Sie weinen und leiden mit, wenn andere sich verletzt haben, sie spüren, wenn es anderen nicht gut geht, wollen helfen und sich kümmern! Und das sind wichtige Erfahrungen, gute Erlebnisse für die eigene Selbstwirksamkeit. Was aber passiert mit diesen kleinen Jungen, dass so viele von ihnen zwanzig, dreißig Jahre später plötzlich Anreize brauchen, um diese, ihre Sorgeverantwortung zu übernehmen? Wie kommt es, dass sie dieses allgemein-menschliche Bedürfnis wieder verlernen … oder verdrängen? Diesen gesellschaftlichen, familiären und individuellen Prozess sollten wir dringend untersuchen und bewusst anders gestalten!
Männer lernen, Fehler bei anderen zu finden
Zur männlichen Sozialisation gehört weiter, Fehler bei anderen zu suchen, die Gründe für das eigene Scheitern zu externalisieren. Wenn etwas nicht klappt, dann liegt das bestimmt nicht an mir, sondern am Anfang an den Lehrer*innen, den Umständen oder blöden Vorgesetzten, an den Unternehmen, Strukturen, politischen Gegebenheiten und in unserem speziellen Beispiel eben auch an den Frauen, den Müttern, Partner*innen, dem Feminismus. An den Männern und Vätern liegt es nicht, sie wollen ja schließlich! Tatsächlich wollen 55% der Väter sich die Kinderbetreuung partnerschaftlich aufteilen. Da stellt sich zunächst die Frage, ob damit auch die ganze Familienarbeit und Mental Load gemeint ist, oder nur die gemeinsame Zeit mit den Kindern. Aber da müsste das BMFSFJ, das diese Zahlen veröffentlicht hat, vielleicht einmal genauer nachfragen, schließlich ist das Wissen um die vielfältigen Anforderungen durch die Care-Arbeit nicht allen (Männern) bis ins Detail bekannt und bewusst. Allerdings wären die Zahlen dann vielleicht auch nicht mehr ganz so schick.
Freiheitsrechte müssen eingefordert werden - ohne roten Teppich
Der Wunsch und Wille scheint also gegeben. Aber warum nehmen dann nicht einmal 10% der Väter mehr als die zwei politisch nahegelegten Partnermonate? Auch da gibt es viele Gründe: befürchtete berufliche Nachteile, ein möglicher Karriereknick, die finanzielle Gesamtsituation, der PayGap, der Arbeitgeber, die Branche, die es nicht zulassen … es sind offenbar selten die Väter selbst, sondern äußere Umstände, die verhindern, was die Väter ja eigentlich wollen. Gut, einige der Gründe sind ja auch nicht von der Hand zu weisen und durchaus schwerwiegend. Aber woher kommt dieses Anspruchsdenken, hier einen roten Teppich ausgelegt zu bekommen. Rechte müssen eingefordert werden - ich persönlich finde das nicht gut, aber so ist diese Gesellschaft nun einmal verfasst, und es waren nicht Frauen, die daran maßgeblich beteiligt waren, just saying.
Seit den Anfängen der Frauenbewegung und ganz allgemein gilt, Rechte, insbesondere Freiheitsrechte müssen zu allererst gefordert und dann erkämpft werden. Und das Recht, sich aktiv um die eigenen Kinder kümmern zu wollen, Gleichberechtigung in der Familie und Beziehung müssen ausgehandelt werden, jeden Tag aufs Neue und definitiv in einem längeren Prozess. Und das ist nicht immer einfach, dem Arbeitgeber gegenüber, Kolleg*innen, Eltern und Bekanntenkreis, Nachbar*innen, andere Eltern, die eigene Beziehung, da gibt es Konflikte, ganz bestimmt. Und niemand hat etwas anderes behauptet. Aber das Recht auf aktive Vaterschaft ist ein Freiheitsrecht, es ermöglicht ein selbstbestimmteres Leben und es schafft Beziehungen auf Augenhöhe!
Und damit wären wir wieder bei der eingangs gestellten Frage: Was haben Männer davon, wenn sie mehr Sorgeverantwortung übernehmen? Freiheit! Vielleicht nicht in finanzieller Hinsicht, aber die ist ohnehin nur eine Illusion. Dafür persönliche Freiheit und bessere Beziehungen. Und wenn das kein Wert an sich ist, dann sind alle Diskussionen um Anreize und Goodies vergeblich.