Worauf bist du stolz? Gedanken über Kirschkuchen, Geschichtsbücher und unsern Sozialstaat
Mein Kirschkuchen neulich, der ist mir wirklich gelungen, und er sah obendrein auch noch besonders schön aus - ja, ich kann stolz sein, dass ich so gut backen kann, dass es allen schmeckt. Aber “stolz” sein auf einen Kuchen? Das wäre jetzt nicht meine erste Wortwahl. Was unter anderem am Geschichtsunterricht liegt, den wir in den 1980ern erlebt haben. Damals (und hoffentlich bis heute, aber Zweifel liegen nahe) wurde großer Wert auf die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit gelegt. Wir haben gelernt, historische Ereignisse kritisch zu hinterfragen und zu reflektieren, und das hat dazu geführt, dass wir schon als Kinder gelernt haben, aus guten Gründen vorsichtig umzugehen mit Begriffen wie "Stolz", “Nation” und “Fahne”.

Worauf bist du stolz?
Die Open Society Foundation wollte 2019 wissen, (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) worauf die Bürger*innen verschiedener Nationen stolz sind. Die Deutschen (gut ein Drittel) antworteten am häufigsten: auf das Grundgesetz. Danach folgte der Sozialstaat und das kulturelle Erbe Deutschlands. 15% waren stolz darauf, dass Deutschland als Treiber der europäischen Integration gilt, 14% nennen den reflektierten Umgang der Deutschen mit ihrer Geschichte als Grund für Stolz, und 13% waren stolz auf die Toleranz der Deutschen gegenüber Zugewanderten. - Heute, vier Tage nach der Bundestagswahl 2025 klingt das alles nach einer Witzvorlage.
Stolz auf Grundgesetz, Integration, Sozialstaat …? Nach den aktuellen Wahlergebnissen fallen diese drei Gründe ja nun demnächst vermutlich weg. Vielleicht sollten wir also dringend mehr Kirschkuchen backen, sonst hat sich das bald ganz erledigt mit dem Stolz in Deutschland? Und wir sollten dringend noch einmal die Geschichtsbücher aus der Schule auspacken, um uns daran zu erinnern, weshalb uns das (national-) Stolzsein abgewöhnt wurde.
Faschisten (und ja, auch Faschistinnen) kommen immer dann näher an die Macht, wenn die konservativen Kräfte einer Gesellschaft beginnen, sich ihre Techniken auszuleihen, schreibt der US-amerikanische Historiker Robert O. Paxton in seiner Analyse 'Anatomie des Faschismus' von 2006.
Faschismus: eine "Form des politischen Verhaltens", gekennzeichnet "durch eine obsessive Beschäftigung mit dem Niedergang, der Demütigung oder der Opferrolle einer Gemeinschaft sowie durch einen kompensatorischen Kult um Einheit, Stärke und Reinheit." (Robert O. Paxton)
Kommt euch das bekannt vor? Friedrich Merz versprach, für ein Deutschland einzutreten, auf das wir wieder (sic!🤨) stolz sein können. Was er nicht sagte, aber meint: auf dieses aktuelle, noch von der Ampelkoalition regierte Land könne mensch ja nicht stolz sein. Was für eine Chuzpe!

Migration ist nicht “illegal”
Deutschland sei im Niedergang begriffen, den es schleunigst zu stoppen gilt, da war er sich in seinen Wahlkampfaufführungen leider sehr einig mit der AfD, und es war ihm kein Beispiel zu banal: die Schulen, die Infrastruktur, die Wehrhaftigkeit, aber dann auch die Atomenergie, Autoindustrie und natürlich, die innere Sicherheit mit all der illegalen Migration. - Hat ihm schon einmal jemand gesagt, dass Gesetze, also die Definition dessen, was legal und was illegal ist, von Menschen geschrieben werden? Dass sie veränderbar sind, dass sie nicht nur verschärft, sondern auch wieder abgeschafft werden können, zum Beispiel §218 StGb (Schwangerschaftsabbruch gilt als Straftat: 74% der Deutschen ist für die Entkriminalisierung (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)), wenn es die breite Mehrheit der Gesellschaft so möchte?! Dass das, was er illegale Migration nennt, nach den Genfer Flüchtlingskonvention beispielsweise gar nicht illegal ist? Da steht nämlich (auch von Deutschland 1954 ratifiziert): dass schutzsuchende Personen nicht wegen eines unautorisierten Grenzübertritts bestraft werden dürfen. Weshalb in den meisten Ländern der Aufenthalt ohne erforderliche Papiere auch kein kriminelles Vergehen ist, sondern ein bloß administrativer Verstoß.
“Einheit, Stärke und Reinheit”
In seinem Wahlkampfabschluss in München am 22. Februar 2025 diffamierte Friedrich Merz politisch Andersdenkende als "irgendwelche linken und grünen Spinner", die in der Mehrheit der Bevölkerung nichts zu suchen hätten: "Gar nichts." Ein "starkes Deutschland" brauche ihn, so ließ er es plakatieren, einen "starken Kanzler", und eine Mehrheit, die noch bei Sinnen sei (Merz hat das anders, mit fehlenden Tassen, ausgedrückt, aber wir wollen seine ableistische Sprechweise nicht wiederholen) und einen harten Kurs in der Migrationsfrage. Und kaum gewählt legen er und die CDU/CSU nach mit einer kleinen Anfrage zur "politischen Neutralität staatlich geförderter Organisationen (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)", in der sie einer ganzen Reihe NGOs und Initiativen vorwerfen (ja, sogar den ’Omas gegen rechts’!), nicht gemeinwohlorientiert zu arbeiten und Steuergelder zu verschwenden. Es ist bestimmt nur Zufall, dass es genau jene Organisationen trifft, die schon in einem Bericht der Bildzeitung angeführt wurden. Und es ist ganz bestimmt nur Zufall, dass unter den Organisationen keine sind, die rechte, nationalistische Positionen vertreten.

Im Kern gehe es dem Faschismus darum, die demokratischen Freiheiten und grundlegenden Frauen- und Menschenrechte abzuschaffen. Die innere Säuberung und äußere Expansion sollen "mit einer als erlösend verklärten Gewalt erreicht werden." (Robert O. Paxton)
Wie sich ein Erstarken des Faschismus verhindern ließe, das Wissen dazu haben wir! Dazu muss man nicht einmal aufgepasst haben im Geschichtsunterricht - Merz besuchte die Oberstufe übrigens von 1971 bis 1975. Vielleicht ist er etwas zu alt und hat nicht von der Modernisierung der Schulbücher (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) profitiert? Denn die 1970er Jahre waren eine Phase des Übergangs in der schulischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Es dauerte nun mal seine Zeit, bis eine kritischere und differenziertere Betrachtung im Vergleich zu den Jahren davor zur Norm wurde.
Für uns bleibt es ein Rätsel, wie dieses Wissen von Menschen in politischen Ämtern derart ignoriert werden kann. Denn was hilft das Wissen auf Papier, wenn Parteien sich bewusst faschistischer Techniken bedienen? Aber damals wie heute ist Aufgeben keine Option.
"Denk ich an Deutschland in der Nacht / bin ich um den Schlaf gebracht".
(Heinrich Heine aus dem französischen Exil. 1844 im Zyklus ‘Zeitgedichte’)
Es muss jetzt zu einem unserer wichtigsten Anliegen werden, Spaltung, Schubladendenken und Ausgrenzung zu entschieden zu begegnen und stattdessen Empathie und Kooperation in den Mittelpunkt zu stellen. Es liegt an uns allen, Menschen zusammenzubringen und den Blick auf das zu richten, was uns verbindet, nicht auf das, was uns scheinbar trennt. Nur wenn wir als Gemeinschaft agieren, können wir echte und nachhaltige Veränderungen bewirken.
Bist du dabei? Jede kleine Geste der Offenheit, jedes freundliche Wort an einen Fremden, jeder Schritt aufeinander zu zählt. Ergreif die Initiative! Ob im Alltag, am Arbeitsplatz oder in deiner Umgebung – jede*r von uns hat die Macht, positive Veränderungen anzustoßen. Lasst uns diese Chance nutzen und gemeinsam an einer inklusiven und mitfühlenden, an einer care-sensiblen Gesellschaft arbeiten. In diesem Sinne: hier ein Stück Kirschkuchen 🍒 ;)
… und bunte Grüße
von Almut & Sascha

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