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#nichtstun

Wieviel Muße können wir uns leisten?

Wir tun nichts. Und gewinnen dadurch alles. 

Ihr Lieben,

wir kennen sie alle: hektische Betriebsamkeit. Der Archetypus eines erfolgreichen Menschen ist für uns jemand, der von sich behaupten kann, er sei immer beschäftigt.

Wie geht es dir? Oh, ich habe so viel zu tun!

Was so viel heißt wie: Ich bin wichtig und glücklich!

Die sozialen Medien geben uns das Gefühl, mittendrin zu sein. Verbunden mit allen, vernetzt, immer informiert. In Wahrheit sitzen wir vereinsamt vor unserer kleinen Kiste, die ein paar Quadratzentimeter misst, verpassen den Sonnenschein draußen und die Nähe wahrer Freundschaften – aber Hauptsache wir verfolgen live, wie sich XY in der karibischen Sonne bräunt und die Karriere von YZ gerade so richtig Fahrt aufnimmt.

Was ist da mit uns passiert? Ist unser Leben tatsächlich so grau, dass wir uns nur noch in die bunten Bilderwelten von Instagram flüchten wollen? Oder erscheint uns unser Leben grau, weil uns online nur noch künstlich hochgesättigte Farben und Lebensstile begegnen?

Nun, dass viele von uns so sehr an ihre Smartphones gefesselt sind, ist kein Zufall. Sondern eiskalt berechnete Mathematik. Was da genau mit uns passiert, das hat sich Jenny Odell angesehen. Und nicht nur das: Sie weiß auch, was wir dagegen tun können.

Ich präsentiere:

Jenny Odell: Nichts tun. Die Kunst, sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen

In ihrem Buch Nichts tun schreibt Jenny Odell über unser Digitalzeitalter und die Tendenz, jede unserer Minuten in Effizienz umzuwandeln. Durch die technischen Möglichkeiten können wir jede unserer Bewegungen tracken, analysieren und dann optimieren: die Schritte, die wir gehen, die Art und Weise, wie wir unsere Zeit einteilen, ja die Art und Weise, wie wir mit unseren Freunden kommunizieren.

Technische Großkonzerne haben dies erkannt und machen sich diese Entwicklung zunutze. In den sogenannten sozialen Medien stellen sie die Möglichkeit zur Verfügung, sich mit anderen Menschen zu verbinden.

Eine tolle Idee: Die Verwandten in Guatemala sehen, einer Freundin aus den USA zum neuen Baby gratulieren und der Tante in Australien das frischgestrichene Wohnzimmer zeigen. Wunderbar.

Aber Großkonzerne bauen nicht komplizierte Algorithmen und betreiben keine kilometerlangen Serverfarmen, um unser Sozialleben zu bereichern. Was sie antreibt, ist Cash. Und sie haben gute Wege gefunden, die Zeit, die wir auf Social Media verbringen, zu Geld zu machen.

Überzeugung per Design

Odell beschreibt die Idee des persuasive design, das man am ehesten als überzeugendes Design übersetzen könnte. Die bekannten Social-Media-Plattformen sind alle nach den Maßstäben dieses Designs aufgebaut: Es enthält komplexe Erkenntnisse über die Art und Weise, wie wir Menschen psychologisch funktionieren, wie unser Hirn arbeitet, und nutzt die Schwachstellen unserer Spezies gezielt aus. Wozu? Um Sucht zu erzeugen.

Persuasives Design arbeitet mit Belohnung und Strafe, spielt mit unseren Emotionen. Es geht um Klicks und Dopaminkicks. Das Ziel des Ganzen? Unsere Aufmerksamkeit zu binden. Denn je länger wir vor dem Bildschirm sitzen, desto mehr Werbeanzeigen können uns ausgespielt werden und desto lauter klingeln die Kassen.

“Ich bin nicht gegen Technologie. Der Übeltäter ist hier nicht das Internet oder gar die Idee der sozialen Medien; es ist die invasive Logik der kommerziellen sozialen Medien und ihr finanzieller Anreiz, der uns permanent in einem profitablen Zustand aus Angst, Neid und Zerstreuung hält.“

– Jenny Odell, Nichts tun

Angst, Neid und Zerstreuung: Die kommerziellen sozialen Medien bringen nicht gerade das Beste in uns hervor. Sie halten uns im kollektiven Taumel von schlechten Nachrichten zum übermäßig strahlenden Glück, das immer nur die anderen leben, und garnieren das mit dem Zuckerguss von buntem Amüsement. 

Leider ist das alles andere als harmlos. Denn das, was da online geschieht, hat längst reale Folgen: für jeden von uns persönlich und für uns alle, als Gesellschaft. Denn wer kümmert sich um die wirklich wichtigen Belange, wenn alle wahlweise paralysiert oder in hektischer Betriebsamkeit vor ihren Bildschirmen sitzen? Wer hat noch die Muße darüber nachzudenken, was wir im Leben wirklich wollen?

Muße als Akt des Widerstandes

Jenny Odell ist Künstlerin und kommt aus Oakland in Kalifornien. Sie entdeckte die Muße für sich, als sie 2017 nach der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika nicht mehr weiterwusste. Die Weltordnung war für sie aus den Angeln gehoben, jeder Blick auf das Smartphone barg eine weitere Katastrophe.

Odell suchte Zuflucht in einem öffentlichen Park, dem Rosengarten, in dem sie Tag für Tag Stunden verbrachte und – nichts tat. In der schönen Umgebung, die von Ehrenamtlichen liebevoll gepflegt wurde, erholte sich ihr geschundenes Herz und nicht weniger: ihr Hirn.

In den folgenden Monaten pflegte Odell ein völlig unproduktives Hobby: die Vogelbeobachtung. Wo immer sie war, ging sie nach draußen, setzte sich und begann, den Vögeln zu lauschen und nach ihnen Ausschau zu halten. Nach und nach lernte sie die verschiedenen Arten kennen. Mit diesem neuen Wissen tat sie: nichts. Doch es verband sie auf eine einzigartige Weise mit dem Ort, an dem sie sich befand und mit den Wesen, die diesen Ort mit ihr bewohnten.

Sie begann nachzudenken. Zu lesen und zu schreiben. Und entdeckte das enorme Potenzial des Widerstands, das darin bestand, einfach mal nichts zu tun. Sich dem Gebot der Produktivität einmal nicht zu beugen und die eigene Zeit nicht für irgendetwas zu nutzen.

Einladung zum Nichtstun

Odells Buch ist weniger eine wissenschaftliche Abhandlung als eine Einladung zu einem ausgedehnten Spaziergang. Wir verlassen mit ihr die eingelaufenen Pfade unseres Alltags, schweifen durch Raum und Zeit. Wir besuchen Diogenes in seinem Fass und lernen, was er mit heutigen Performancekünstlern gemein hat. Und wieviel Kraft in dem Satz Ich möchte lieber nicht steckt.

Dabei macht das Lesen von Nichts tun erstaunlich viel Arbeit – auf die wohltuende Art wie eine Wanderung anstrengend ist. Denn Odell kommt nicht einfach straight zum Punkt. Sie nimmt sich Zeit, ihre Argumentation zu entfalten und lässt ihre Ausführungen zwischen träumerischer Poesie und knallhartem Tech-Rationalismus hin- und herpendeln. Die Wanderung, die wir als Leser mit ihr machen, führt tief ins Dickicht, doch immer, wenn man glaubt, man habe sich im Wald verirrt, führt Odell zielsicher zum Hauptweg zurück.

Nichts tun ist weder Ratgeber noch Selbsthilfebuch. Es ist auch nicht die Aufforderung, gar nichts mehr zu tun – vielmehr verbirgt sich hier ein subversiver „Aktionsplan“. Der durchaus beinhalten kann, stundenlang im Park zu verweilen oder im Wald die Vögel zu beobachten. Es geht darum, sich der Logik der unendlichen Produktivität zu entziehen und das zu tun, was wir wirklich wollen. Und dadurch alles zu gewinnen: den Kontakt mit uns, unseren Lieben und unserer Umwelt.

Dieses Buch ist eine aufrüttelnde Lektüre, dabei aber überragend klug und besonnen. Es eröffnet einen Denkraum. Und den, da bin ich mir sicher, brauchen wir alle.

Eure Miriam

Hier schreibt

Hi, ich bin Miriam Schaan. Ich bin freie Journalistin und schreibe über die Themen Digitale Medien, Gesellschaft und unsere Arbeitswelt. Das tue ich am liebsten mit einem Schuss philosophischen Denkens. Mein Anspruch ist es, komplexe Inhalte leicht zugänglich zu machen und in den Alltag zu holen – in meinen Artikeln und in diesem Newsletter.

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Infos zum Buch

Jenny Odell: Nichts tun (Opens in a new window). Die Kunst, sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen. Erschienen 2021 im Verlag C.H.Beck. 295 Seiten.

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