Folge 110
Vorweg
Diese Folge ist sehr katzenfotoreich, ich hoffe, ihr seid nicht allergisch.
Etwas Altes: Fotofriedhöfe
Eine Sache, die ich an Italien seit meinem ersten Besuch als Jugendliche liebe, sind die Fotos auf Gräbern. Maus bekommt so sofort einen Bezug zu den dort begrabenen Personen und ist damit unversehens Teil von deren Gedenken geworden. (So ziemlich genau der umgekehrte Effekt zu den namenlosen Mittelmeertoten und den, wenn es nach deutschen Medien und Entscheider*innen geht, übersehenen palästinensischen Gazatoten.)
Es ist frappierend, wie einem das Bild eines vor hundert oder dreißig oder zehn Jahren verstorbenen Kindes sofort die Tränen in die Augen treibt. (Analog wird genau das verhindert, wenn in Deutschland kaum Artikel mit Zu-Lebzeiten-Bildern von im Krieg in Gaza getöteten oder auf der Flucht nach Europa ertrunkenen Kindern erscheinen. Was es den israelischen Opfern des Hammas-Terrors nützt, wenn das Leiden und Sterben palästinensischer Kinder verborgen wird, entzieht sich meinem Verständnis.)
Zurück zu den italienischen Fotofriedhöfen. Ich liebe es, die Gesichter auf den Bildern zu betrachten und mir auszumalen, zu was für Menschen sie gehörten. Die Fotos sind, was den Moment der Aufnahme und die Kleidung der Aufgenommenen angeht, mitunter ziemlich unfeierlich, maus sieht darauf aufgeknöpfte Hemden mit Brusthaar, Kippen in Händen und sogar Babypimmelchen. Bei sehr alten Fotos mag es sich einfach um das einzig erhaltene Bild handeln, aber grundsätzlich lese ich daraus eher ab, dass auf dem Fotofriedhof nicht der klassische gute Eindruck, »was die Leute denken« zählt, sondern, dass maus den Toten so begegnen soll, wie sie von nahen Menschen zu Lebzeiten wahrgenommen wurden: In Grabstätten, die manchmal größer sind als ein tiny house für Lebende, finden sich Ehepaare in Umarmung, Lebemänner, Herzensbrecher*innen und allerliebste Speckbabys. Italienische Fotofriedhöfe, das ist wirklich schön, erzählen vom Leben. Deutsche Friedhöfe erzählen eher davon, welche Steinarten das Bestattungsunternehmen im Sortiment hatte.
Interessant ist auch, dass Soziale Medien ähnlich wie Fotofriedhöfe funktionieren, in ihnen zirkulieren ebenfalls diejenigen Fotos von Verstorbenen, die bei Angehörigen im Rahmen der Trauer ein »gutes« passendes, stimmiges Gefühl auslösen oder sogar noch von den Toten selbst zu Lebzeiten losgeschickt wurden, womit diese ihr Gedenken vorbestimmt haben. Darüber könnte maus noch ziemlich viel nachdenken, ehrlich gesagt habe ich das schon, wieder so ein Buch, das noch zu schreiben ist.
Fotografieren wäre auf dem besuchten Friedhof respektlos gewesen, denn er ist ganz klar ein wichtiger Ort für die lebenden Angehörigen – viele Besucher*innen, viele Blumen –, deshalb nur zwei Fotos von den hiesigen Friedhofskatzen, die, bravo, unter dem Schutz der Kommune stehen.
Etwas Neues: Entboomernde Tätigkeiten
Immer wieder fragen mich weiße cis Männer aus den geburtenstarken Jahrgängen, wie sie die durch Nonsplaining gewonnene Zeit gesellschaftlich gut nutzen können. Gelogen, aber ich antworte trotzdem gern, und zwar mit einem ersten Praxisbeispiel. Der Boomer im folgenden Bild füttert aus eigenem Antrieb frei lebende Katzen, eine Tätigkeit, die dem Klischee nach nur »sentimentale«, »sozialromantische« Frauen ausüben. Gut für den Boomer, dass er sich unstereotyp verhält, denn so fühlt er sich zu Recht gebraucht, und die Katzen, seine Mitlebewesen, leben dank ihm gut. Care ist immer auch Selbstfürsorge, denn Menschen sind relationale Wesen, auch dann, wenn die Gegenüber Katzen sind.
Okay, dafür fünf von fünf Sternen, Boomer.
Vorschlag: Boomer mit neu gefundener, gesellschaftlich schöner Bestimmung im Leben sollen fortan Blumer heißen.
Etwas Unheimliches: die Persona Alastair
Heute erzähle ich euch ganz rough, weil daraus irgendwann ein feines Buch (Arbeitstitel »Düstere Gestalten«) werden soll, von einer weiteren maximal unrealen aka eine Persona lebenden und damit latent unheimlichen Person namens Alastair. Hans-Henning von Voigt (1887–1969), wie er mit bürgerlichem Namen hieß, war Illustrator (dessen Bilder ich tatsächlich sammle, obwohl ich nie etwas sammle; ich habe sogar letztes Jahr eine vermutlich echte Originalzeichnung für einen Apfel und ein Ei auf Ebay ersteigert), Übersetzer, Kostümbildner, Pianist, vor allem aber eine Erscheinung. Vermutlich gab es außerhalb von dekadenten Romanen kaum eine theatralischere und empfindlichere Person als ihn. Um Alastairs Herkunft ranken sich Geschichten, die zu fiktional klingen, um nicht wahr zu sein. Angeblich war er ein illegitimes Kind des englischen Königs Eduard VII. und lebte als Kind in einer Sekte in Norwegen. (Trauma, ich hör dir trapsen.)
Die selbst entworfenen, schillernden Kostüme und die atmosphärischen Performances hätten Alastair sicherlich nicht nur zur queeren Icon, sondern auch zum Vorreiter von Glam-Stars wie David Bowie gemacht, würde er nicht bis heute weitgehend unbekannt geblieben sein. Alastairs Wirkung muss sich also auf Umwegen entfaltet haben; es kann davon ausgegangen werden, dass sich weniger zartbesaitete Künstlerpersönlichkeiten, die mit ihm Kontakt hatten, darunter der genialisch rumtuende Mussolini-Fanboy d’Annunzio, ordentlich »inspirieren« haben lassen. Maus kennt das. Im Folgenden Bilder, mehr Worte irgendwann. (Sebastian, falls du mitliest, du erinnerst mich sehr an Alastair, und das ist ein Kompliment.)
Rubrikloses
Oder doch den Blobmoment mit sich allein ausmachen und ausnahmsweise mal nichts ins Internet schreiben?
Endlich verstanden: Es braucht mehr Kaufangebote für Haltung.
Ist, wenn ein oder zwei Samples genügen, Berlin dann nicht irgendwie Hochburg für alles, zum Beispiel Hochburg für Zweifelnde am Sinn dieser Aussage?
Ich bin durchaus in der Lage, die Poesie im Realen zu sehen, aber dass ich Momente als buchstäblich märchenhaft empfinde, kommt nicht allzu oft vor. – Vor zwei Tagen Märchen full blast.
Bei einer langen und anstrengenden Radtour machte ich Halt an einem verlassenen Militärgelände, zu dem ein riesiges, steingefasstes Wasserbecken gehörte. Ich blickte von einer niedrigen Brücke darauf und befand, dass es ziemlich öde aussah, nur ein paar braune Schilfgräser ragten heraus. Plötzlich aber beobachtete ich, wie eine Schildkröte aus etwas fünfzig Metern Entfernung auf mich zuschwamm. Schon von weitem konnte ich erkennen, dass sie mich fixierte, ja, wirklich ganz deutlich Augenkontakt mit mir suchte. Sie schwamm und schwamm und schwamm und starrte mich dabei an. Das alles inmitten eines riesigen, menschenleeren Geländes mit ausgeprägter Dystopienote. Als die Schildkröte vor meiner Brücke angekommen war, öffnete und schloss sie immer wieder ihr Maul. Mit einem Mal kamen etliche Goldfische angeschwommen und umkreisten sie. Es war derart unwirklich und poetisch und schön, dass ich nicht allzu überrascht gewesen wäre, wenn die Schildkröte zu sprechen begonnen hätte. Vermutlich wäre das aber ein Downer geworden und sie hätte nicht gesagt: »Es ist dir bestimmt, in Italien hochkonzentriert wunderschöne Bücher zu schreiben«, sondern »Geil, du bist die erste Touristin, die sich dieses Jahr hier blicken lässt, wo bleiben meine Focacciabrocken?« Damit ich mir die Schildkröten-Erscheinung später selbst glaube, habe ich sie fotografiert.
Präraffaelitische Girls erklären
Maus sieht sich. Seid lieb, nur nicht zu Nazis.
XOXO,
FrauFrohmann
Das von mir eingefärbte Coverbild zeigt Alastair.
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