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Repräsentation im Bundestag – Fakten und Fiktionen

Es ist mir ein tiefes Bedürfnis, so kurz es geht auf eine Diskussion einzugehen, die sich aufgrund eines Postings von mir gestern entsponnen hat. Denn ich halte sie für symptomatisch für die Social Media Kommunikation unserer Zeit.
Außerdem habe ich Spaß am Recherchieren von Fakten.

Um nicht alles zu wiederholen:
Die Tagesschau veröffentlichte einen Beitrag unter dem Titel „Wen bildet dieses Parlament ab?“ Dieser Beitrag hatte keinerlei Nachrichtenwert. Es war nach meinem Eindruck ein Beitrag, der in ein Magazin gehört hätte. Stattdessen prangte er auf der App der Tagesschau als Top 1, während die Weltordnung zusammenbricht, die NATO auf dem Prüfstand steht, überall Kriege und Konflikte flammen und so weiter.

Screenshot des Postings auf der Facebook Fanpage.

Der Beitrag wurde geschrieben von der recht jungen Anna-Lou Beckmann vom NDR. Kernaussage war, dass das neue Parlament nicht die Gesellschaft abbildet.
Dazu wurden verschiedene Menschen zitiert, die das genau so sehen. Aber keine Gegenstimmen. Das ist bereits fragwürdig, doch Medienrecht würde hier jeden Rahmen atomisieren.

Und genau deshalb habe ich - verkürzt - geschrieben, dass das Parlament eben nicht die Bevölkerung abbildet (und abbilden kann), weil es nur die Menschen repräsentiert, die Staatsbürger sind, wählen gehen und sich politisch engagieren.
Denn genau so funktioniert Demokratie. Zu versuchen, jene abzubilden, die das nicht tun, wäre ein Bruch der Demokratie. Mündigkeit und Engagement sind zwingende Voraussetzungen für eine demokratische Teilhabe.

Meine Kernaussagen waren zwei.
Zum ersten können (und sollen) Menschen mit Migrationshintergrund gar nicht entsprechend abgebildet werden.
Zum zweiten interessieren Frauen sich weniger für Politik.
Vor allem die letztere Aussage führte zu vielen Kommentaren und zu Kritik. Die Mär von strukturellen Hürden und sogar vom Patriarchat wurde eingeworfen.

Daher werde ich zunächst einige Fakten nennen und Dinge kurz erklären. Anschließend werde ich erklären, warum das in meinen Augen eine gesamtgesellschaftliche Rolle spielt, was das mit „woker“ Kultur zu tun hat und vielen auf den Sack geht. Und warum ich inzwischen ausnahmsweise gereizt reagiere.

Lass mich Dein Weltbild erschüttern

+ Leider finde ich die Studie nicht mehr, die ich aus dem Studium kenne: Man hat die Augenbewegung von Kleinkindern beobachtet, während zwischen Erwachsenen eine Interaktion stattfand. Dabei zeigte sich, dass Mädchen der Interaktion folgten, während Jungen schon nach kurzer Zeit begannen, die Umgebung zu beobachten. Sie fanden offenbar umliegende Architektur interessanter als Zwischenmenschliches.

+ Zitat aus den Kommentaren: „Nun ja, da Frauen in unserem patriachalen System weniger Chancen zur Bildung erhalten, erschliesst sich ihnen auch nicht die Notwendigkeit der Beteiligung.“ [sic]
Die Zahl der Studentinnen ist seit Jahren höher als die der Studenten. Frauenanteil in der Gesamtbevölkerung ca. 52%, Anteil der Studentinnen 50,9%. Das müssen die „wenigen Chancen im Patriarchat“ sein.

Screenshot des Kommentars

+ Frauen studieren andere Fächer als Männer. Das geht aus jeder Erhebung hervor. Bei Geisteswissenschaften ist der Frauenanteil deutlich höher, bei Ingenieurswissenschaften und Informatik sind Frauen weit unterrepräsentiert.

+ In Betriebswirtschaft und Volkswirtschaft, ein typisches Studium späterer Politiker, lagen Frauen je nach Ergebung um etwa 20% hinter den Männern zurück.
Zum Wintersemester 23/24 waren 2.868.311 Studenten an deutschen Hochschulen eingeschrieben. Nur 15.000 davon waren Frauen, die Politikwissenschaften oder Politologie studierten. (Allerdings waren es sogar weniger Männer.) Im Jurastudium sind es bummelig 60% Frauen.

+ Gemessen an der Mitgliederzahl der Parteien sind Frauen im Bundestag überrepräsentiert. 32,4% der jetzigen Abgeordneten sind Frauen.
Die SPD hat beispielsweise einen Frauenanteil von etwa 33%, ist im jetzigen Bundestag aber mit einem Anteil von 41% vertreten. Selbst die CDU hat einen Frauenanteil von 26% und ist mit einem Frauenanteil von knapp 23% vertreten. Die Linken haben einen Frauenanteil von knapp 37%, sind aber mit 56% Frauen vertreten.
Die AfD reißt das natürlich: Bei einem Frauenanteil von knapp 18% (dem geringsten aller Parteien) sind sie nur mit knapp 12% vertreten. Da sie aber inzwischen so viele Stimmen haben, zieht das den Frauenanteil im gesamten Bundestag herunter.

+ Also nochmal: Weniger Frauen interessieren und engagieren sich für Politik, sind aber überproportional dazu im Bundestag vertreten.
Die These eines Diktats der alten weißen Männer ist dadurch also nicht zu belegen. Es scheint bei den meisten Parteien eher so, dass Frauen es sogar leichter haben als Männer. Aber das muss auch nicht systemisch sein, vielleicht verfügen sie über eine höhere soziale Kompetenz, eine höhere Glaubwürdigkeit o.ä.

+ So gut wie keine Frau im Bundestag interessiert sich für Verteidigung.
Das ist natürlich schwer zu filtern, denn Mitglieder der Linken oder Grünen interessieren sich „naturbedingt“ weniger für das Thema. Nur 8 der 38 Mitglieder des letzten Verteidigungsausschusses waren Frauen. Beim Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend waren es 27 von 38.
Geht man in die einzelnen Parteien, stellt man eine deutliche Tendenz zu sozialen Fragen fest.

+ Anna-Lou Beckmann schreibt in dem Beitrag (nicht als Zitat) „Während in der Gesamtbevölkerung fast jeder Dritte einen Migrationshintergrund hat, ist es im Bundestag nur etwa jeder Zehnte.“ Die „Migrationssoziologin und Politikwissenschaftlerin“ Devrimsel Deniz Nergiz (gebürtige Türkin) wird zitiert: „Das ist auf jeden Fall nicht genug und die Vielfalt ist nicht repräsentiert.“
Diese Darstellung ist in hohem Maße verzerrend. Zwar haben wir einen Bevölkerungsanteil von 29,7% „mit Migrationshintergrund“. Aber nur 14,8% haben die deutsche Staatsbürgerschaft. Sie sind also nur minimal unterrepräsentiert. Man müsste also andere Faktoren herausrechnen, beispielsweise dass Menschen mit Migrationshintergrund sich weniger politisch engagieren oder dass sie eher nach links denn nach rechts tendieren.
Die Mitglieder mit Migrationshintergrund sind in allen Parteien unterrepräsentiert. Um Mitglied zu werden bedarf es aber keiner weiteren Qualifikation, die Zahl spiegelt also das Engagement gut wider.

+ Nergiz wird ebenfalls zitiert „Wenn zum Beispiel das Plenum über ein Einbürgerungsgesetz spricht, dann kann eine Politikerin, die mit ihrer Familie bereits eingebürgert wurde, ganz anders über die praxistauglichen Hindernisse sprechen.“
Dass es gute Gründe für diese Hindernisse gibt, wird überhaupt nicht für möglich gehalten.

Das ganze Geschisse

Zitat aus dem Beitrag:
»Laut dem Politologen Andreas Wüst von der Hochschule München wird die Repräsentationslücke in den nächsten Jahren auch weiterhin vorhanden sein. „Aber ich bin recht optimistisch, dass es im Generationenverlauf immer weniger Thema sein wird.“«
Das sehe ich genauso. Weshalb ich das ganze Geschisse nicht verstehe. Weder die Reaktionen auf mein Posting, noch die Platzierung des Beitrags der Tagesschau. Inzwischen ist es durch alle Medien gepeitscht worden. Und beim Leser bleibt hängen, der Bundestag würde die Bevölkerung nicht repräsentieren. Das delegitimiert ihn. Ein Grund, warum Putin Demokratie für schwach hält.

Minderheiten treten in Deutschland übermäßig „laut“ auf. Das ist dank Netz 2.0 überall in den westlichen Demokratien so. Nur dagegen wehre ich mich. Denn jeder gehört zu der einen oder anderen Minderheit.
Ricky Gervais hat das wunderbar erklärt: Er gehört zu der Minderheit der männlichen, weißen, heterosexuellen Millionäre. Aber er beschwert sich auch nicht.

Es geht nicht darum, jemanden zu marginalisieren. Oder dass ich – wie kommentiert – einem Weltbild von 1950 anhinge.
Es geht darum, Fakten anzuerkennen und diese mit wissenschaftlicher Präzision zu sezieren. Denn nur so kommt man zu einem Bild, das die Realität halbwegs abbildet.
Was man dann damit macht, sei jedem selbst überlassen. Aber auf dieses Bild der Realität müssen wir uns schon einigen können. Sonst kann keine konstruktive Debatte stattfinden.

Die angeblichen „patriarchalischen Strukturen“, die „strukturellen Hürden“, konnte mir noch niemand streng wissenschaftlich nachweisen. Denn wie bei dem Zitat von Nergiz wird beispielsweise einfach die Grundmenge modelliert. Plötzlich sollen alle Menschen mit Migrationshintergrund im Bundestag repräsentiert werden, wird impliziert. Dass man Menschen, die keine Staatsbürgerschaft besitzen, in keinem einzigen Land repräsentiert werden, wird vergessen.

Wenn es jemandem darum geht, bitteschön: Ich möchte das nicht.
Das letzte Mal, dass Migranten ohne Staatsbürgerschaft politisch vertreten waren, war meines Wissens nach der Mongolensturm.

Und den angeblichen Unterschied in der Bezahlung zwischen Frauen und Männern konnte mir auch noch keiner darlegen. Der beruht nämlich auch auf statistischen Verzerrungen. „Gender Pay Gap“… wann immer für etwas ein Anglizismus modern ist, werde ich skeptisch. Vor allem bei „Gender Studies“ und „Postcolonialism“.
Und genau das ist es, was viele Menschen in die Wut und nach rechts treibt. Dieses ständige „einen Tick drüber“, vor allem von Linksaußen und von Interessenvertretern aus dieser Richtung. Die damit ihr Geld verdienen. Wie Nergiz.
Von Rechtsaußen auch, aber… na ja, das ist bei denen irgendwie Kern des Geschäftsmodells.

Und das kommt bei vielen Menschen an. Denn wir Pflegen eine Kultur der Mitnahme, Inklusion und Empathie. Eine Sozialdemokratie. Wer kann schon etwas dagegen sagen, dass Frauen oder Deutsche mit Migrationshintergrund deutlicher repräsentiert sein sollten? (Außer die AfD.)
Die Frage ist doch, wie man dahin gelangt. Und die Demokratie zu modellieren halte ich für den falschen Weg. So wie ich ganz persönlich auch jede Quote ablehne. Aus Logikgründen, nicht weil die Weibers an den Herd gehören. Ich bin Hobbykoch, ich will keine Weibers in meiner Küche.

Wir sind längst aus der Zeit des „Patriarchats“ raus. Frauen dürfen wählen. Würden sie also darin eine Priorität sehen, könnten sie Frauen wählen. Es würde sie nichts kosten, sie brauchen keine andere Qualifikation als einen deutschen Personalausweis, eine Wahlbenachrichtigung und ihren Arsch sonntags zum Wahllokal zu bewegen. Aber irgendwie beschleicht mich der Eindruck, die ollen Hühners sind gar nicht doof. Die wählen doch einfach unabhängig vom Geschlecht. Womöglich nach politischen Inhalten. Potzblitz.

Denn genau darin liegt der größte Twist, dieser „woken“ Diskussion, dieser Identitätspolitik, dieser überlauten Interessenvertretung von Minderheiten:
Zum ersten zu erzählen, wie schlimm alles ist. Ohne es mal mit der Weltrealität abzugleichen. Und zum zweiten so zu tun, als könnten nur die Minderheiten selber sich repräsentieren.

Entschuldigung, aber aufgrund unseres hervorragenden Systems fühle ich mich von dem gebürtigen Iraner Omid Nouripour oder der im Beitrag erwähnten Rasha Nasr mit syrischen Wurzeln angemessen vertreten. Von den politischen Inhalten vielleicht abgesehen. Warum kann dann ein Stefan Meier oder Maier oder Mayer nicht auch angemessene Politik für Frauen oder Migranten vertreten?
Ich beklage mich doch auch nicht darüber, dass wenige Bundestagsabgeordnete ihren Wehrdienst geleistet haben und so schlau waren zu studieren, während ich neben der Hindernisbahn gekotzt habe. (Nur über die Sache mit der Rente müssen wir echt sprechen, Leute.)

Man kann gleichstellen und gleichbehandeln, beim Gleichmachen setzt die Natur Grenzen. Über die auch Pazifisten und Feministen nicht werden springen können.

Das ständige Gejammer halte ich für eine Ausformung des Self Serving Bias, der selbstwertdienlichen Verzerrung. Schafft man etwas, war man es selber. Schafft man etwas nicht, sind andere schuld. Oder „das System“. Trump spielt diese Karte ganz hervorragend.

Ich habe irgendwo geantwortet, die einen fänden Gründe und die anderen Wege. Und ich wolle durch jene vertreten werden, die Wege fänden.
Ich möchte nicht, dass jeder in den Bundestag oder ein Landesparlament kommt. Ich möchte, dass diejenigen, die auch mich dort vertreten, dafür gearbeitet haben. Sich den Arsch aufgerissen haben. Dass sie Soft Skills wie soziale Kompetenz mitbringen. Dass sie in der Lage waren sich durchzubeißen; mit Betonung auf „beißen“. Und wenn eine Frau keine Politikerin werden konnte, weil sie ein Kind bekam oder „Care Arbeit“ (Zitat) hatte, dann hat sie in meinen Augen einfach nicht das, was man als Abgeordnete braucht. Oder den falschen Mann ausgesucht, was es auch nicht besser macht. Sie ist ja nicht einmal in der Lage, ihre Lebensabschnittsgefahr zum Windelwechseln zu bringen; wie soll sie dann darüber entscheiden, wie wir mit Russland umgehen?
Ich möchte nicht repräsentiert werden von einem hingeschissenen Kevin oder Chantalle, die den Job wegen gutem Aussehen, Quote oder Instagram-Follower bekommen haben.

Sehen wir es doch einmal so: Jede Hürde ist auch eine Qualitätskontrolle.

Es kann nicht nur Häuptlinge geben, es muss auch Indianer geben.
Wie der zu Unrecht häufig von Rechtspopulisten zitierte Volker Pispers sagte: Jeder kann es schaffen. Jeder. Aber eben nicht alle.
Und in nur sehr wenigen Ländern ist es einfacher als in Deutschland. Es wäre doch schön, das erst einmal anzuerkennen, bevor wir die Demokratie einschränken wollen. Oder uns echauffieren, dass zu wenig homosexuelle rechte Linkshänder mit Behinderung und Migrationshintergrund im Bundestag sitzen. Denn das wird schon einen Grund haben.

Also: Repräsentiert der neue Bundestag nicht den Durchschnitt der tatsächlichen Bevölkerung?
Aber natürlich nicht. Das kann er nicht. So funktioniert Demokratie nicht.
Aber ist das ein Grund für das Gejammer, oder sich politisch zu engagieren, aufzustehen und es zu ändern, anstatt das ganze System umzuwerfen?
Demokratie ist scheiße. Aber es ist das Beste, was wir derzeit an Staatssystemen haben. Wir sollten das erstmal aufbrauchen.

Wer mir deshalb mangelnde Kompetenz vorwirft oder den abgenudelten Spruch mit dem Schuster und seinem Leisten bringt, muss damit rechnen, dass ich angefressen reagiere.

Und nun entschuldigen Sie mich. Auf Anraten einiger Kommentatoren geh ich mich jetzt wieder um mein Raketenzeug und „Militarismus“ kümmern. Da hätte ich ja schließlich Ahnung von.

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