Palästinensische Kinder von Scharfschützen erschossen?

Immer wieder wird die propagandistische Behauptung öffentlich gemacht, palästinensische Kinder würden von israelischen Scharfschützen erschossen.
Nicht nur Propagandisten behaupten das. Es wird auch von Organisationen und Ärzten behauptet.
Gehen wir einmal durch, warum das Unfug ist. Und welche fatalen Unterschiede ein laienhafter Übersetzungsfehler macht.
Scharfschützen, Scharfschützen und Scharfschützen
Seitdem es Schusswaffen gibt, gibt es auch Scharfschützen.
Das stammt noch aus der Zeit, als die Soldaten in Reih und Glied nebeneinander standen und aufeinander schossen. Im Gegensatz dazu gab es Soldaten, die darauf trainiert waren, einzelne Ziele zu bekämpfen. Aus dieser Zeit stammt der englische Begriff „Marksman“.
Aber die Kriegsführung hat sich verändert, die Soldaten stehen nicht mehr wie bei Napoleon oder im amerikanischen Bürgerkrieg gegenüber. Sie liegen in Gräben, gehen vor oder ziehen sich zurück. Es ist dynamischer geworden. Und so hat sich auch verändert, was ein Scharfschütze ist.
Nehmen wir einen Infanterie-Zug. Also eine Gruppe von Soldaten, die im direkten Schusswechsel kämpfen. So, wie man sich das als Laie sicher allgemein vorstellt.
Dieser Zug hat eine Aufgabenteilung. Alles Soldaten sind grundsätzlich gleich, aber einer ist ein Sani, einer ein MG-Schütze, einer ein Funker, und so weiter. Das Zusammenspiel übt man beim „Zuggefechtsschießen“. Und das üben auch nicht alle Soldaten.
Jeder Zug hat ein oder zwei Leute, die am besten schießen können. Die halten sich beim Schießen eher zurück. Taucht dann beispielsweise ein Feind mit einer Rakete auf, müssen die so schnell es geht auf den schießen. Ihn gezielt bekämpfen. Die nennt man „Gruppenscharfschützen“.
Die werden auch im Englischen am gebräuchlichsten als „sharpshooter“ bezeichnet.
Englisch ist die Sprache mit den meisten Vokabeln. Englisch hat schon zwei Begriffe für das, was wir im Deutschen nur als „Scharfschütze“ kennen. Und noch einen mehr.
Es gibt noch eine dritte Kategorie. Nämlich die, die mit speziellen Gewehren auf einzelne Ziele schießen. Losgelöst von dem Infanteriezug oder einem Gefecht. Diese Leute sind in eigenen Einheiten, können aber flexibel überall eingesetzt werden. Normalerweise immer zu zweit.
Das Weiteste, was ich mal „bekämpft“ habe, war mit dem MG in einem solchen Zuggefechtsschießen auf 400 Meter. Manche der „Gruppenscharfschützen“ in einem Zug haben ein Zielfernrohr und können Ziele auf 600m bekämpfen.
Ein „richtiger“ Scharfschütze bekämpft in der Regel Ziele auf 800m bis über zwei Kilometer. Das ist so weit, dass das Projektil auch mal acht oder neun Sekunden in der Luft sein kann. Deshalb müssen diese speziell ausgebildet sein. Sie lernen sogar den eigenen Herzschlag zu verlangsamen und genau in der Pause abzudrücken.
Diese Leute werden im Englischen als „Sniper“ bezeichnet. Das kommt noch von den Briten in Indien. Die haben Schnepfen gejagt, die schwer zu finden und treffen waren. Und diese Vögel heißen im Englischen „Snipes“.

Foto: Ein israelischer Scharfschütze - kein Sniper – bei Ausschreitungen am Checkpoint Qualandia zwischen Jerusalem und Ramallah. Anlass war die Entscheidung Trumps Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen. 20.12.2017
Davon gibt es sehr wenige und das Anforderungsprofil ist etwa so hoch, wie bei Kampfschwimmern oder dem KSK. Auch die Polizei hat solche Leute, mit etwas anderer Ausbildung. Die müssen nämlich auf kürzere Distanz den Kopf treffen, Soldaten auf weitere Entfernung den Oberkörper.
Laien übersetzen „Sniper“ meist einfach mit „Scharfschützen“. Im Deutschen werden diese Soldaten aber als „Präzisionsschützen“ bezeichnet.
Die Schnepfenjäger

Wenn die palästinensische Propaganda so etwas behauptet, wird immer der Begriff des „Sniper“ verwendet. Und die Medien übersetzen das mit „Scharfschützen“, obwohl sie es mit „Präzisionsschützen“ übersetzen müssten.
Das ist keine Wortklauberei, sondern in der Praxis zwei völlig verschiedene Szenarien.
Denn die Palästinenser behaupten ja, dass Präzisionsschützen Jagd auf Kinder machen würden. Das würde bedeuten, dass Präzisionsschützen sich irgendwo im Gazastreifen auf die Lauer legen und dann gezielt auf Kinder schießen.
Ich kenne nicht einmal einen einzigen Fall, in dem irgendein Präzisionsschütze überhaupt im Gazakrieg eingesetzt worden wäre.
Üblicherweise werden Ziele aufgeklärt, in Zusammenarbeit mit den Nachrichtendiensten, und dann aus der Luft bekämpft (Opens in a new window). Auch dass man Yahya Sinwar (Opens in a new window) getötet hat, war eher Zufall.
Werden Präzisionsschützen eingesetzt, dass eher, weil zum Beispiel ein General ausgeschaltet werden soll. Die Präzisionsschützen werden in Stellung gebracht – weshalb sie auch meist mit dem Fallschirm springen können – und lauern dann. Das müssen sie tagelang können.
Die Waffen
Damit sie ihr Ziel auf eine so weite Distanz bekämpfen können, haben sie spezielle Gewehre. Waffen mit einem sehr langen Rohr, das das Projektil stabilisiert. Und sie haben eine Spezielle Munition. Sehr große Patronen, die so weit fliegen können.
Diese Gewehre haben häufig nur wenige Patronen im Magazin.
Die normalen Gewehre der IDF (Israel Defense Forces) sind die Tavor, die mit Projektilen schießen, die einen Durchmesser von 5,56mm haben. Das ist der NATO-Standard.
Darüber hinaus haben die IDF aber eine Vielzahl von Gewehren, die extra für Scharfschützen und Sniper gebaut sind. Und der Durchmesser dieser Projektile reicht von 7,62mm bis zu 12,7mm.
Beim letzteren handelt es sich um das TAC-50. Es kann sogar leichte Panzerung durchschlagen. Die Patronen sind mehr als doppelt so groß, wie von den normalen Gewehren.
Alle diese Waffen können leicht einen Motorblock durchschlagen.
Um es sehr deutlich zu sagen: Trifft ein solches Projektil den Kopf eines Kindes, bleibt von dem Kopf nicht mehr viel übrig.

Die Realität
Diese Behauptungen werden vor allem von Laien aufgestellt. U.a. von einer katholischen Kirche in Gaza, von den Palästinensern selber und von Ärzten.
Und ja, auch Ärzte sind Laien. Es sei denn, sie haben eine entsprechende forensische Ausbildung und kennen sich mit diesen Projektilen aus.
Der Unterschied in der Realität ist signifikant.
Denn würde es sich um Präzisionsschützen handeln, die gezielt auf Zivilisten und Kinder schießen, wäre das eindeutig ein Kriegsverbrechen.
Sind es jedoch normale Soldaten, kann leicht ein Irrtum vorliegen. Denn auch sie bekämpfen Ziele auf gerne mal 100 Meter, vielleicht 200 Meter. Sie schießen häufig, ohne wirklich zu erkennen, worauf sie schießen. Das mag erschreckend sein, ist aber Realität in jedem Krieg. Überall auf der Welt.
Dass dabei ein solches Kriegsverbrechen vorliegt, ist sehr unwahrscheinlich und kaum zu beweisen. Denn man müsste nachweisen, dass der Schütze genau wusste, auf wen er schießt.
Das kann jeder selber abgleichen. Indem er auf einen Sportplatz geht, jemanden am Ende der 100m Strecke platziert und schaut, was er von der Startlinie aus tatsächlich noch erkennt. Und das Ganze kann er dann auch nachts ausprobieren, ob mit oder ohne Nachtsichtgerät. Und nachdem er eine Runde um den Platz gelaufen und sein Blutdruck entsprechend ist.
Die Röntgenbilder
Am 9. Oktober 2024 sorgte ein groß aufgemachter Beitrag der New York Times für Aufsehen. Es handelte sich um einen Gastbeitrag von Feroze Sidhwa, der zeitweise in einem Krankenhaus in Chan Yunis gearbeitet hatte.
„65 Doctors, Nurses and Paramedics: What We Saw in Gaza“ (65 Ärzte, Pfleger und Sanitäter: Was wir in Gaza gesehen haben“)
Ich habe mich nicht tiefer mit dem Beitrag befasst. Und werde es auch nicht. Warum, kann ich allerdings zusammenfassen:
Fast alle zitierten Mediziner tragen arabische Namen. Es wäre müßig, die Hintergründe von jedem zu prüfen.
Der Autor Feroze Sidhwa hat auf „Electronic Intifada“ veröffentlicht.
Fast alles, was die Mediziner beschreiben, ist in einem Krieg völlig normal.
Aufgemacht wurde Artikel allerdings mit drei Röntgenbildern, die Kinder zeigen sollen, die von Projektilen getroffen wurden. Daraus wurde in der Propaganda später die Erzählung der Sniper.

Screenshot aus dem Beitrag der New York Times.
Die Röntgenaufnahmen wurden dem Autor Feroze Sidhwa von Mimi Syed übermittelt, einer in den USA geborenen, palästinensisch stämmigen Ärztin, die freiwillig im Gazastreifen gearbeitet hat. Sie ist umtriebig und veröffentlicht bis heute regelmäßig auf der Plattform „Palestine Chronicle“. Das ist eine Plattform, an die jeder seine Artikel schicken kann.
Und es ist die gleiche Plattform, auf der auch Abdullah Aljamal (Opens in a new window) veröffentlicht hat. Das war der „Journalist“, der bei der Geiselbefreiung am 06.06.2024 (Opens in a new window) getötet wurde, weil er Geiseln in seinem Haus versteckt hatte. Sein Vater Dr. Achmed Aljamal wiederum, der ebenfalls getötet wurde, war Arzt im Gazastreifen. Also vom Gesundheitsministerium der Hamas bezahlt.
Diese Röntgenaufnahmen werden in keinen Kontext gesetzt.
Zwar sagt die Bildunterschrift, dass Syed mehrere Kinder als Patienten hatte, die Schusswunden hatten. Aber nicht, ob diese Röntgenaufnahmen von ihren Fällen stammen.
Das wäre auch sehr verwunderlich. Denn ich halte diese Aufnahmen für gefälscht.
Ein Projektil verformt sich, wenn es in den Schädel eintritt. Tritt es nicht wieder aus, dann weil es so stark „aufgepilzt“ ist, dass es nicht mehr ausreichend Kraft hatte, die andere Seite des Schädels zu durchschlagen. Auf den Aufnahmen sieht man jedoch so genannte „Steckschüsse“, ohne dass das Projektil sich verformt hat.
Die einzige Aufnahme dieser Art, die ich kenne, resultierte daraus, dass ein senkrecht in die Luft gefeuertes Projektil jemandem auf den Kopf gefallen ist. Das blieb aber bereits im Knochen stecken.
Sehr theoretisch ist das möglich, aber nicht mit den Waffen und nicht in einer Stadt gleich dreimal in kurzer Zeit.
Zudem sieht man auf dem Röntgenbild ganz rechts, dass das Kind noch einen Schlauch zur Intubation im Rachen hat. Bei einem Projektil im Kopf dürfte das kaum mehr nötig sein.

Man sieht weder eine Eintrittswunde, noch Schäden an der Hirnmasse. Beides müsste auf Röntgenbildern erkennbar sein.
Daher bin ich sehr sicher, diese Aufnahmen wurden von Kindern gemacht, ob lebend oder tot, denen ein Projektil auf dem Kopf platziert wurde.
Eine US-amerikanische Forensikerin (Gerichtsmedizinerin) und mehrere ehemalige Soldaten kamen zu dem gleichen Schluss und haben es ausführlich auf X erklärt.
Fassen wir zusammen:
Sniper, Präzisionsschützen, verwenden besondere Waffen und eine besondere Munition.
Sie bekämpfen Ziele ab etwa 800 Metern Entfernung. Würden sie gezielt auf Zivilisten schießen, wäre das ein Kriegsverbrechen.
Aufgrund der Einsatzcharakteristik von Snipern ist es unglaubwürdig, dass Israel diese einsetzt, um Jagd auf Zivilisten oder explizit auf Kinder zu machen.
Zivilisten und Kinder können auch auf Entfernung durch normale Schützen getroffen werden, ohne dass diesen das bewusst ist. Ein Kriegsverbrechen liegt nur dann vor, wenn sie es bewusst tun.
Die Aussage, Israel setze Sniper ein, kommt zumeist von Laien. Die jeden Kopftreffer und jedes gezielte Feuern als „Scharfschützen“ interpretieren.
Auch Ärzte haben zumeist nicht die Kompetenz, eine Schusswunde durch einen Sniper von der durch einen normalen Soldaten unterscheiden zu können. Ob ein Soldat bewusst auf Zivilisten gefeuert hat, können sie so gut wie nie anhand der Schusswunde differenzieren.
Mir ist bisher kein Fall bekannt, bei dem die IDF im Gazakrieg Sniper eingesetzt haben. Gezielte Bekämpfungen werden eher mit Hilfe von Spezialeinheiten durchgeführt, die ein Gebäude mit Laser markieren und so eine Rakete ins Ziel lenken (Opens in a new window).
Selbstverständlich kann ich nicht ausschließen, dass israelische Soldaten erkennen, dass es sich bei dem Ziel um Zivilisten oder ein Kind handelt, und trotzdem abdrücken. Niemand kann das, in keinem Krieg. Und in jedem Krieg wird das auch passieren.
Ich wage aber auszuschließen, dass die IDF systematisch Präzisionsschützen oder Scharfschützen einsetzen, um das geplant und bewusst zu tun.