Interkontinentalraketen, Ballistik und Maskirowka – Für Laien
In der vergangenen Nacht hat Russland eine Interkontinentalrakete gegen die Ukraine eingesetzt.
Während die einen Panik bekommen und die anderen Panik verbreiten, machen sich Fachleute und OSINT darüber lustig.
Ich versuche zu erklären, warum das so ist.
Hinweis vorab: Ich bin gesundheitlich stark beeinträchtigt. Sehr ernsthaft. Mitglieder und Abonnenten sind informiert.
Ich bitte es mir nachzusehen, wenn ich diesen Beitrag lediglich als eine Art ausführliches Social Media Posting ohne große Recherche herunterschreibe. Ich möchte die Situation für Laien verständlich machen, um aufkommenden Gerüchten und Panik zu begenen.
Zum zweiten habe ich gestern Abend in einem Social Media Posting auf der Facebook Fanpage (Opens in a new window) geschrieben, dass ich die Meldungen über die Einsatzbereitschaft russischer Interkontinentalraketen für „Schwachsinn“ halte. Ich habe nicht weiter recherchiert, aus obigem Grund.
Das war offiziell meine erste Fehleinschätzung seit es U.M. gibt.
Weil ich, trotz eines einigermaßen guten Verständnisses über die innere Funktionsweise des Kremls und russische Mentalität, nicht damit gerechnet habe, dass die Russen so dermaßen bescheuert sein können. Ich werde am Ende darauf zurückkommen.
Screenshot Bild Zeitung: „Putin feuert 50-Tonnen-Rakete auf Millionenstadt.“
Die Rakete wiegt 50 Tonnen, was nichts über die Sprengkraft aussagt. Und in Dnipro hatte vor dem Krieg knapp eine Million Einwohner.
Interessanterweise erst um 13:51 Uhr veröffentlicht, der Weltkrieg schein nicht so dringend zu sein.
Interkontinentalraketen
Immer wieder wird von ballistischen Raketen gesprochen. „Ballistik“ ist als „die Lehre von geworfenen Körpern“ Teil der Physik.
Artillerie schießt ebenfalls „ballistisch“.
Ob eine Rakete „ballistisch“ ist, hat also nicht mit ihrer Sprengkraft zu tun, sondern ausschließlich mit ihrer Flugbahn. Sie beschreibt eine hohe Parabel.
Dabei gehen die Raketen teilweise sehr hoch. Weit über die Wolkendecke und teilweise bis in „den Weltraum“.
Der Vorteil daran ist, dass umso höher sie kommen, umso dünner wird die Luft. Und damit bietet sie einen geringeren Widerstand. Zudem wird sie automatisch gekühlt. Damit braucht sie weniger Energie, also weniger Treibstoff.
Und deshalb können ballistische Raketen gebaut werden, die sehr weit fliegen. Über Kontinente hinweg.
Das bedeutet aber auch etwas anderes, woran Laien vermutlich gar nicht denken. Weil sie „ballistische Raketen“ oder „Interkontinentalraketen“ sofort mit „Atomraketen“ gleichsetzen.
Nämlich, dass es eben auf den Gefechtskopf ankommt, der auf der Rakete sitzt. Moderne Raketen (und Marschflugkörper) sind modulare Systeme.
Wir haben schon viel von russischen Raketen gehört, auch ich habe schon berichtet. Beispielsweise von Iskander oder den Ch-101. Sie werden seit Beginn des russischen Überfalls auch auf die Ukraine eingesetzt. Und sie alle können auch nukleare Sprengköpfe tragen.
Eine Interkontinentalrakete ist also im Grunde nichts anderes, als diese Raketen auch. Nur dass sie sehr weit fliegen kann.
Diese laienhafte Fehleinschätzung ist es, die Boulevardmedien und Clickbait-Kanäle nun ausnutzen.
Über den Einsatz vergangener Nacht macht die Bildzeitung eine riesige Schlagzeile, während man sich auf OSINT-Kanälen und bei „Insidern“ über den Einsatz eher lustig macht.
Der Luftschlag
In der vergangenen Nacht hat Russland eine solche Interkontinentalrakete eingesetzt.
Der erste „scharfe“ Einsatz einer solchen Rakete in der Menschheitsgeschichte.
Gefeuert wurde nicht, wie vorher gemutmaßt, auf Kyjiw, sondern auf die Stadt Dnipro. Dort wurde auf eine Fabrik gezielt, den „Yuzhny machine building“ Komplex. In der Ukraine und Russland wird alles erstmal „machine building“ – also „Maschinenbau“ genannt. Ich gehe davon aus, dass dort der Staatliche Konzern Pivdenmash sitzt, der Raketen baut.
Gefeuert wurde eine RS-26 „Rubesch“. Das ist tatsächlich ein ziemlich neues Ding, das ab 2010 in Dienst gestellt wurde und mehrere Vorgänger abgelöst hat. Was wiederum bedeutet, dass noch nicht so viel über diese Rakete bekannt ist.
Es erscheint überflüssig zu erwähnen, dass kein nuklearer Sprengkopf verwendet wurde.
Verwendet wurde ein MIRV, ein „Multiple Independently Targetable Reentry Vehicle“.
Das bedeutet, weit oben öffnet sich der Gefechtskopf der Rakete und entlässt kleinere „Raketen“ . Diese können vorher auf einzelne Ziele programmiert werden. Also so etwas wie Cluster Bombs, nur mit eigener „Zielsuche“.
Russland hat durch den Einsatz Informationen preisgegeben.
Denn bisher ging man davon aus, zumindest die offenen Quellen – Militär und Nachrichtendienste wissen immer mehr –, dass diese Gefechtsköpfe drei bis sechs weitere Raketen tragen können.
Von dem Einschlag in Dnipro sind mehrere Videos öffentlich. Sie zeigen zwei Dinge. Zum ersten sind sechs mal sechs Einschläge zu sehen. Das ist etwas, was öffentlich so nicht bekannt war. Zum zweiten sind keine größeren Detonationen zu erkennen.
Das bedeutet, die hatten keinen eigenen „Sprengstoff“. Erst recht nix nukleares. Sie wirken nur durch die kinetische Energie, also die eigene Geschwindigkeit. Was man dennoch nicht unterschätzen sollte. Beispielsweise hat auch der Leopard II Kampfpanzer u.a. solche KE-Geschosse, die durch ihre reine Geschwindigkeit Panzerungen durchschlagen können. Aber es war eben kein so großer Bums, wie er hätte sein können.
Ich ersprare mir zu recherchieren, von wo aus sie abgefeuert wurde.
Russland hat etwa 180 solcher Raketen mobil, also auf den oben zu sehenden LKW, und etwa 20 in Silos. Wie viele nukleare Gefechtsköpfe sie hat, ist öffentlich unbekannt. Geschweige denn, wie viele jeweils einsatzbereit oder einsatzfähig sind.
Warum nicht Kyjiw?
Man kann also voraussetzen, dass es sich bei dem Einsatz um eine Machtdemonstration und Einschüchterung Russlands handelt. Es wurden auch ca. sieben Ch-101 auf die Ukraine gefeuert und eine Hyperschallrakete Kinschal. Von den Ch-101 wurden wohl sechs von sieben abgefangen.
Und das ist bereits ein erster, für Fachleute interessanter Hinweis: Warum wurde nicht auf Kyjiw gefeuert?
Ich persönlich interpretiere das bei jetzigem Stand so, dass Russland befürchten musste, dass die Rakete (oder Raketen des MIRV) abgefangen wird. Denn Kyjiw ist gut geschützt, auch durch deutsche und amerikanische Flugabwehrsysteme wie die Patriot. Und die hat belegt schon mindestens eine Hyperschallrakete Kinschal runtergeholt.
Wäre also nur eine der kleinen Raketen abgefangen worden, wüssten alle anderen Staaten sofort „Ah, siehe da, die kann man mit der Patriot abschießen“. Oder genauer: Die können mit Systemen mit Geschwindigkeit x abgewehrt werden. Und das wäre natürlich ein riesiger Verlust der Abschreckungswirkung für Russland.
Ich bin auch sicher, dass in vielen Nachrichtendiensten und Militärs derzeit viele Menschen an der Forensik sitzen und diese Nummer auswerten.
Die Doktrin
Noch ein Wort zur Doktrin, das ich zumindest in einem Posting heute eh verlieren wollte.
Die USA haben der Ukraine erlaubt, Waffensysteme auf russischem Boden einzusetzen. Inzwischen wurde auch mindestens eine Storm Shadow eingesetzt, also haben Großbritannien und Frankreich mitgezogen.
Am gleichen Tag hat Putin die Erweiterung der Militärdoktrin unterschrieben. Live im Fernsehen übertragen.
Laut dieser Erweiterung können auch Staaten nuklear angegriffen werden, die einem Feind Russlands Waffen liefern und diese Waffen gegen Russland eingesetzt werden.
Diese beiden Vorgänge haben nichts miteinander zu tun. Diese Erweiterung wurde bereits im September groß angekündigt.
Der gestrige Luftschlag ist selbstverständlich die russische Antwort auf den Einsatz westlicher Waffen auf russischem Territorium. Aber hat mit der Militärdoktrin nichts zu tun.
Ich möchte es anders erklären:
Ich bin Mitglied in einem gemeinnützigen Verein, der kostenfreie Profi-Beratung zu vielen Themen, von häuslicher Gewalt bis zur Schuldnerberatung, anbietet.
Steigt man aus dem Aufzug, sieht man im Wartebereich zwei große Plakate mit den Leitlinien des Vereins. „Wir möchten ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen!“ und solche Stichpunkte.
Das ist eine Doktrin. „Doktrin“ ist lateinisch für „Lehre“, es sind Leitlinien.
Und das bedeutet, sie sind im Falle Russlands völlig sinnfrei. Ein Propaganda-Instrument. Ein Instrument der Maskirowka. Denn der Kreml braucht keine Doktrin. Es ist kein Gesetz, an das die Führung des Putinismus sich eh nicht halten müsste. Sie braucht es auch nicht. Sie haben die absolute Macht.
Es ist, als hätte Hitler - im Volksempfänger live übertragen - unterschrieben, dass Deutschland Polen angreifen könnte, wenn es sich „feindselig“ verhält. Übrigens eine Vokabel, die Russland tatsächlich verwendet.
Maskirowka
Um Maskirowka zu verstehen, muss man tiefer gehen. Denn Maskirowka geht weit über militärische Ablenkung und Potemkinsche Dörfer hinaus.
Auf einer tieferen Ebene bedeutet Maskirowka auch, möglichst viel Unfug zu verbreiten, um den Gegner als Gesellschaft zu verunsichern. Der Putinismus hält eine demokratische Gesellschaft für Schwäche, dazu gibt es sogar wörtliche Aussagen.
Im Englischen sagt man „Flood the zone with shit“. Das ist exakt das, was bewusst betrieben wurde, um die Aktivitäten Russlands in der Ukraine ab 2014 als „Bürgerkrieg“ zu framen und was die Palästinenser und die iranischen Proxys machen. Wenn sich alle zanken, bekommt kaum einer mit, was wirklich läuft und die demokratische Führung hat es schwerer, Maßnahmen umzusetzen. Selbst ein Trump muss sich rechtfertigen, ein Putin und ein Chamenei müssen das nicht.
Screenshot X: „Hallo, mein Name ist Michael Michaelovsky und ich lebe im Oblast London. Ich bin dadurch sehr verängstigt. Wir müssen die Unterstützung für die Ukraine sofort beenden.“
Tausende russische Trolle fluten das Netz.
Doch darunter liegt noch eine weitere Ebene, die den meisten Europäern unbekannt und unverständlich ist.
Es gibt Protokolle und Berichte von westlichen Politikern zu Verhandlungen mit und in Moskau. Unter anderem auch, als Russland seine Truppen ab 2021 vor der Ukraine zusammenzog. Und die Russen sagten, „da ist nichts“.
Die Logik dahinter ist eine andere.
Ich lüge dich an. Du weißt, dass ich dich anlüge. Ich weiß, dass du weißt, dass ich dich anlüge. Und ich lüge dich trotzdem an. Denn es gibt nichts, was du dagegen tun kannst. Und das zeige ich dir damit.
Es ist eine Form von Machtausübung, die es in der europäischen Kultur so nicht gibt.
Screenshot X: Die Pressesprecherin des Kremls bekommt während der live übertragenen Pressekonferenz einen Anruf, in dem ein Mann ihr die Anweisung gibt, nichts zum Einsatz der Interkontinentalrakete zu sagen. Dummerweise sind die Mikrofone so sensibel, dass die Anweisung klar zu hören ist.
Unterm Strich
Der Einsatz einer Interkontinentalrakete in der Ukraine stellt rein militärisch keine Eskalation dar.
Der Einsatz nuklearer Gefechtsköpfe wäre eine Eskalation. Der „nackte“ Einsatz ist es nicht. Es ist nur ein anderes Vehikel für das gleiche Ziel.
Würde der Kreml tatsächlich nukleare Waffen in der Ukraine einsetzen wollen, würde er das über andere Waffensysteme tun. Nicht mit Interkontinentalraketen. Deren Einsatz Informationen verrät, die beobachtet werden und wegen der Reichweite völlig overpowered sind.
Was wir gestern gesehen haben, war nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen. Sondern mit der neusten Kanone aus Gold mit einer Papierkugel auf einen Schmetterling, während der gegnerische Spion direkt danebensteht und sich Notizen macht.
Ich hatte damit gerechnet, dass Russland diese Maskirowka durchzieht. Sie ist tief in der russischen Mentalität verankert. Aber dass die Führung im Kreml zumindest ahnt, dass sie an einen Punkt kommt, wo der Westen nicht darauf hereinfällt. Kenne deinen Feind.
Gerade habe ich den Eindruck, dass die das wirklich nicht kapieren. Was für mich natürlich schon etwas Bedeutsames ist, womit ich mich auseinandersetzen werde, sobald ich wieder fitter bin.
Kurz bevor ich zum Militär gegangen bin, besetzte der Irak Kuweit. (Was übrigens im Nachspiel zur Vertreibung von 450.000 Palästinensern aus Kuweit führte, weil sie Partei für den Irak ergriffen. Und was irgendwie in der Öffentlichkeit vergessen wurde.)
Die USA setzten dem Irak ein Ultimatum. Hussein machte weiter auf dicke Hose. Weil er nicht verstand, dass ein solches Ultimatum keine weitere Verhandlungsbasis ist. Und weil er vorher immer gute Geschäfte mit den USA gemacht hatte.
Das Ultimatum lief ab. Als zwei Stunden später die US-amerikanischen Flieger über Bagdad waren, hatten die das Licht noch an. Am nächsten Morgen gab es de facto keine irakische Luftwaffe mehr. Der Krieg dauerte nicht einmal zwei Monate.
Das bedeutet es, wenn man die Mentalität des Gegners nicht versteht.
Ich habe gerade das Gefühl, der Kreml begeht den Fehler der völligen Fehleinschätzung.
Als ich heute Mittag die Augen aufschlug und die Meldungen las, war mein erster Gedanke nicht „Fuck, Dritter Weltkrieg“. Sondern „Alter, wie bescheuert sind die denn?“.
Und das erklärt hoffentlich auch meine gestrige Reaktion, die ersten – und zum Teil auch falschen Meldungen – als „Schwachsinn“ abzutun.
Denn ich hätte nie damit gerechnet, dass Russland die Maskirowka so hart durchzieht, dass es so etwas absurd Bescheuertes macht.