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Tempuswechsel sind erlaubt

Deutschlehrer*innen wird das nicht gefallen, aber: In einer Story darfst du ruhig ins Präsens rutschen und später wieder in die Vergangenheitsform wechseln. Im Alltag machst du das schon. Und du darfst es auch auf dem Papier, im Ton und Bild machen. Sofern du es geschickt anstellst - very mindful, very demure eben.

Präsens oder Vergangenheit?

Welche Zeitform soll es sein? Journalist*innen schreiben oft im Präsens, auch wenn etwas Jahrzehnte zurückliegt. Sie wissen um die ungeheure Wirkung dieser Zeitform:

🔥Unmittelbarkeit

🔥Nähe, Authentizität

🔥Hebt die POV des Erzählers hervor

🔥Wir identifizieren uns mit dem Erzähler

🔥Präsens verdichtet: Zoom-in Effekt

➡️ Präsens lädt dazu ein, durch die Brille des Erzählers zu schauen und Dinge mitzuerleben. Wir tauchen in die Geschichte ein und vergessen im besten Fall den Rest um uns herum.

Super oder? Jain. Eine längere Geschichte braucht Platz für Abstraktion, eigene Interpretationen, kritisches Hinterfragen. Die Vergangenheitsform schafft etwas Distanz und Raum für Reflexion.

Du musst dich nicht entscheiden

Warum also nicht die Zeitform an den entscheidenden Stellen wechseln? Du denkst vielleicht, das ist absurd. “Wähle eine Zeitform und bleibe dabei” gilt als Kardinalregel. Dabei sind Tempuswechsel in der Alltagssprache normal.

Die meisten Menschen erzählen im Perfekt von vergangenen Ereignissen. An bestimmten Stellen rutschen sie ins Präsenz und wir merken es gar nicht: “Wir hatten einen ganz entspannten Abend auf dem Balkon und dann sagt er zu mir: Du, wir müssen reden.” Das ist das sog. narrative Präsenz.

Den Interviewpartner in die Präsenz-Erzählhaltung bringen

In “Out on the Wire” erzählt Ira Glass, wie er Interview-Partner dazu bringt, so zu erzählen, als würden sie das Ereignis wieder erleben. Die naheliegende Frage wäre: “Erzählen Sie mir von dem Ereignis”. Nur bekommt man da Töne wie diesen: “Jemand hat auf unser Haus geschossen, ok?”.

Glass bittet die Interviewpartnerin, ihm die Orte zu zeigen, die für das Ereignis wichtig sind. Das sei übrigens das erste, was Reporter bei “This American Life” lernten.

Die Interviewpartnerin erzählt Schritt für Schritt, was passiert ist: “Am nächsten Morgen bringt Kenny den Müll raus und als er wiederkommt, ist er kreidebleich. (…) Er sagte ‘Du solltest die Polizei anrufen. Jemand hat auf unser Haus geschossen’.”

Diese Erzählhaltung ist schwieriger zu erzeugen, wenn du und die andere Person nicht am Ort des Geschehens seid. ➡️ Arbeite imaginativ: Lass die Person die Augen schließen und bitte sie, dich an die Orte mitzunehmen, wo es passiert ist.

Geschickt ins Präsens wechseln

Der Wechsel sollte so natürlich sein, dass man ihn gar nicht bemerkt. Weiter oben habe ich geschildert, wie oft Autor*innen im Präsens schreiben. Die Wahrheit ist: Im Alltag rutschen wir beim Erzählen nur ganz kurz für ein bis zwei Sätze ins Präsens. Wie können wir geschickt die Zeit wechseln?

📌 Verwende Präsens nur in echten Szenen. (Opens in a new window)

📌 Erzähle einer anderen Person das, was du schreiben möchtest und nutze die Formulierungen aus dem natürlichen Gespräch nutzen.

📌 Dosiert einsetzen. Weniger ist mehr.

Was ist noch spannend?

🔗 Beispiele für Tempuswechsel in literarischen Texten. (Opens in a new window) Fett markiert, falls man es nicht bemerkt.

🔗 Matrix Generation (Opens in a new window): eine Doku über die Geschichte hinter der Matrix Filme mit Bezügen zur Popkultur, Literatur und Philosophie. Bis zum 26. November in der Arte Mediathek.

🔗 Ellen Heinrichs, Gründerin des Bonn Instituts, darüber, warum wir nicht objektiv berichten können (Opens in a new window) und uns mit dem eigenen POV auseinandersetzen sollten.

Bis zum nächsten Mal

Teodora