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Wie man in vier Tagen ein Crowdfunding organisiert – die Meduza-Kampagne von innen

Mein Membership-Newsletter "Blaupause" hilft dir, dich unabhängig zu machen, indem du erfolgreich Mitgliedschaften anbietest. Die heutige Ausgabe ist etwas Besonderes: Ich habe eine Chronik der vergangenen Woche aufgeschrieben, die – wie du gleich lesen wirst – ganz schön intensiv war. Die Hauruck-Aktion, um die es hier geht, ist sicher spannend für alle, die sich für Mitgleidschaften interessieren.  

Montag

Am Vormittag meldet sich Rico Grimm (Krautreporter (Opens in a new window)-Mitgründer) bei Leon Fryszer (Geschäftsführer) und mir (Herausgeber). Unser ehemaliger Autor Moritz Gathmann, inzwischen bei Cicero und in der Ukraine unterwegs, hatte Rico auf die verzweifelte Lage der unabhängigen Journalist:innen in Russland hingewiesen, speziell von Meduza (Opens in a new window).  Das größte noch funktionierende unabhängige russische Medium sende Notrufe wegen seiner finanziellen Lage. „Ich glaube, schnelle Hilfe wäre jetzt gut“, schreibt Moritz.

Seit Ausbruch des Krieges verbringen wir bei Krautreporter die Tage vor Twitter und verfolgen den Krieg in der Ukraine, hilflos und tatenlos. Die Aussicht, etwas zu tun, ist genau das, was wir als Redaktion brauchen. Wir haben einige Erfahrung mit solchen Situationen. Ich hatte schon 2014 die Kolleg:innen von Direkt 36 (Opens in a new window) in Budapest unterstützt, ein Gründungs-Crowdfunding zu organisieren. Auch anderen befreundeten Projekten haben wir mit Know-how helfen können, etwa Athens Live (Opens in a new window) in Griechenland während der Eurokrise.

Meduza ist ein Ausnahmefall unter den unabhängigen Medien in Russland.  Niemand dort darf den Ukraine-Krieg „Krieg“ nennen. Auch für sonstige, nicht näher definierte Verstöße drohen Journalist:innen bis zu 15 Jahren Gefängnis und andere drakonische Strafen. Erst die BBC, dann auch ARD und ZDF und weitere ausländische Medien stellten die Berichterstattung aus Russland (vorübergehend) ein. Aber Meduza hatte vorausschauend geplant. Bereits seit der Annektion der Krim 2014 sitzt die Redaktion Sitz nach Riga/Lettland, also in der Europäischen Union. Meduza kann also weiterberichten – solange das Geld nicht ausgeht.

Immer wieder drohen Journalist:innen ihre Unabhängigkeit zu verlieren, oder die Möglichkeit, ihre Arbeit zu tun, weil ihnen der Geldhahn zugedreht wird. Ausweglosigkeit ist das Gefühl, was solche Krisenmomente verbindet. Die Lage scheint vielleicht ausweglos, aber einen letzten Ausweg gibt es doch: die Leser:innen um Hilfe bitten. Für diese Projekte kann ein erfolgreiches Crowdfunding der Geburtsmoment einer Community sein, die unabhängigen Journalismus ermöglichen will. 

Für Meduza allerdings war dieser Moment bereits im vergangenen Jahr gekommen. Sämtliche Einnahmen aus Werbung gingen verloren, als die russischen Behörden die Journalist:innen des Magazins als “ausländische Agenten” eingestuft und mit drastischen Auflagen versehen hatte. Die 50-köpfige Redaktion stand von heute auf morgen ohne Einnahmen da. Also sprangen die Leser:innen ein und begannen, zu spenden. Mehr als 30.000 Mitglieder, fast ausschließlich russisch, finanzierten Meduzas Berichterstattung von nun an, um weiter von den Regierungsmedien unabhängige Informationen zu erhalten.

Aber dann kam der Krieg, und mit ihm die westlichen Sanktionen. Es gelangt kein Geld mehr von Russland in die EU, auch nicht von Meduzas Mitgliedern. Das Magazin steht schon wieder vor dem Nichts. Und das zu einer Zeit, da Russlands Medien die Gräuel des Kriegs totschweigen und ihn als “Spezialoperation” verharmlosen müssen.

Was können wir tun? Es gibt ein paar Ideen. Leon nimmt im Lauf des Vormittags Kontakt auf. Meduza ist dankbar für unser Angebot. Wir verabreden uns für den nächsten Tag.

Ich gehe in diesem Newsletter absichtlich nicht ins Detail. Wer für Meduza arbeitet, ist gerade in Gefahr. Umsicht ist in diesem Fall keine Wichtigtuerei, sondern notwendig. Ich spreche hier also nicht von Menschen, Orten und Kommunikationskanälen, sondern abstrakt von Meduza. 

Leon und ich beginnen, zu planen. Die Idee: Wenn die etwa 30.000 russischen Mitglieder Meduza nicht mehr helfen können, dann müssen Mitglieder aus dem Westen ihren Platz einnehmen. Wir sind überzeugt, dass sich für folgende Mission genug Leute in Europa und vielleicht Amerika finden werden: Gemeinsam sorgen wir dafür, dass die Menschen in Russland die Fakten erfahren über Putins Krieg gegen die Ukraine.

Also braucht es eine Kampagne, die für ein westliches Publikum funktioniert. Und zwar sehr, sehr schnell.

Was fehlt? Die Zahlungsinfrastruktur gibt es zwar bei Meduza – ein Account beim Payment-Anbieter Stripe (Opens in a new window) und eine englischsprachige Seite (Opens in a new window). Nur wäre es unserer Meinung nach schwierig, damit ein langfristig nachhaltig funktionierendes Mitgliedschaftsangebot bei einem westlichen Publikum zu etablieren. Innerhalb einer Stunde haben wir die Struktur einer neuen Kampagnenseite zusammen und einen ersten Pitch-Text. Hier kann man diesen ersten Entwurf (Opens in a new window) von vor genau einer Woche noch finden.

Dienstag

Wir reden. Meduzas Lage ist dramatisch, verzweifelt, unübersichtlich. Am Wochenende sind fast alle Reporter:innen, die noch aus Russland selbst berichteten, geflohen.

Man muss sich das so vorstellen: Dem Team wird innerhalb kürzester Zeit bewusst, dass sich der russische Staat schnell von einem autoritären Regime zu einem Unterdrückungsapparat mit Militärzensur wandelt. Gleichzeitig wird das Ausmaß westlicher Sanktionen klar. Es bleibt nur Zeit, zum Flughafen zu fahren und den erstbesten der wenigen Flüge zu nehmen, die noch verfügbar sind. Einreise in die EU ist nicht mehr möglich, also stranden die Reporter:innen in der russischen Peripherie – Aserbaidschan, Usbekistan, Turkmenistan, Georgien, der Türkei oder Ägypten. Zwei Tage noch funktionieren die Bankautomaten, aber man kann nur geringe Summen abheben. Also kommen die meisten Meduza-Leute mit wenig Bargeld in der Tasche in Airbnbs und Hotels unter oder schlafen auf Sofas von Freunden, ohne Aussicht auf Weiterreise nach Europa. Daran hat sich bis heute, eine Woche später, wenig geändert.

So berichten sie über den Krieg. Meduza ist in Russland nur unter Mühen zu erreichen, aber trotzdem bricht der Traffic auf die Webseite – vor dem Krieg mehrere Millionen Besucher am Tag – kaum ein. Das Magazin bietet viele Möglichkeiten an, die Zensur zu umgehen. Auch nutzen viele Russen VPN-Services, Tor-Browser und andere Hacks, um die Netzsperren auszutricksen.

Das Meduza-Team befindet sich also in einer Grenzsituation. Auf der Flucht, in Sorge um Freund:innen und Familie, gleichzeitig rund um die Uhr arbeitend in dem Bewusstsein, gerade den wichtigsten Job zu tun, den Journalisten tun können. Im Gespräch merken Leon und ich sofort, dass wir mit diesen Leuten eine Chance haben. Meduza handelt in dieser Lage schlau, schnell und  entschlossen. Es gibt ein Entwicklerteam, Designer:innen, erfahrene Kampagnen-Expert:innen. Das wird klappen.

Wir sprechen ab, wer was macht. Meduza kümmert sich um die Technik und die Inhalte. Krautreporter soll ein Video produzieren, ein internationales Netzwerk organisieren, bei der Struktur der Kampagnenseite beraten. Das Produktions-Kollektiv LELP (Opens in a new window) ist sofort bereit, zu helfen. Innerhalb weniger Tage werden sie ein Kampagnen-Video liefern.  

Im Nachhinein denke ich, unser wichtigster Beitrag war in diesem Moment: Fokus. Einen Plan formulieren, den wir gemeinsam in wenigen Tagen abarbeiten würden. Wann kann es losgehen? “Donnerstag Nachmittag”, sagt Meduza. Das wäre Rekord.

Gegen Abend meldet sich Kalifornien. Krautreporter-Mitgründerin Theresa Bäuerlein hat ihre Schwester informiert, Monika Bäuerlein. Monika ist ebenfalls Journalistin, und als CEO des renommierten Magazins Mother Jones (Opens in a new window) in San Francisco (“smart, fearless journalism”) gut verknüpft in den US-Medien, besonders im Non-Profit-Journalismus. Sie bietet ihre Hilfe dabei an, die Meduza-Kampagne nach Amerika zu tragen.

Mittwoch

Am Morgen finden wir als Figma-Datei den ersten Entwurf für die Kampagnen-Seite vor. Die Struktur stimmt. Aber wir feilen über Stunden mit Meduza an den Details der verschiedenen Pakete, der Höhe der Summen für Jahres- und Monatsmitgliedschaften. Den vielen rechtlichen Aspekten und vor allen der Frage, wie wir Vertrauen schaffen können für eine Marke, deren Namen die meisten Unterstützer:innen zum ersten Mal hören werden. Welche E-Mails kommen wann, und was steht drin? Welches sind die häufigsten Fragen und in welcher Reihenfolge zeigen wir sie? Wie können Unterstützer:innen leicht kündigen oder Rechnungen anfordern?

Mittags beginnt das Meduza-Tech-Team, die Seite zu bauen. Unter save.meduza.io (Opens in a new window) verfolgen wir live den Fortschritt. Es wird klar, dass Donnerstag zu ambitioniert ist. Wir peilen Montag als Start der Kampagne an.

Nachmittags wird gefilmt. Das Meduza-Team beginnt, aus dem Exil mit dem Handy aufgenommene Schnipsel zu senden. Es sind vor Erschöpfung blasse Kolleg:innen, aber sie sprechen klare Worte. In kurzen, kräftigen Sätzen erzählen sie von den noch unscharfen Plänen für die Zukunft. Sie bitten um Unterstützung, um ihre Arbeit fortführen zu können: vom Krieg berichten, Russland informieren.

Leon und ich kontaktieren Kolleg:innen von anderen Medien, zunächst in Deutschland. Auch der Rest des Krautreporter-Teams trommelt ein Netzwerk zusammen. Wir schreiben ein Dokument (Opens in a new window), in dem steht, was westliche Medien tun können, um Meduza zu helfen.

1. Werde am Montag Supporter:in.
2. Verteile den Aufruf: Poste auf deinen Kanälen,
hier sind Vorlagen & Texte (Opens in a new window).
3. Aktiviere deine Redaktion: Leite dieses Doc weiter, gib
die Vorlagen (Opens in a new window) an dein Social-Media-Team weiter.

Für Donnerstagnachmittag laden wir zu einem Zoom-Call ein, Zusagen gehen schnell ein. Die Kampagne nimmt Gestalt an und Fahrt auf. 

Seit knapp drei Tagen sind wir erst in Kontakt. “Als ob es Wochen her wäre”, sagt Meduza.

Donnerstag

Am Morgen feilen wir an der Seite und bereiten den Netzwerk-Call vor. Noch ist unklar, wie groß diese Kampagne werden wird. Unser Gefühl ist: Sie wird GROSS.

Um 16:30 Uhr füllt sich unser Zoom-Raum. 57 Kolleg:innen hören zu, darunter große Marken. Meduza ist auch vertreten. Es wird durchaus kontrovers diskutiert: Sollte so eine konzertiere Aktion nicht allen unabhängigen Journalist:innen helfen? Und wie unterstützen wir ukrainische Medien? Ist es sinnvoll, nur Meduza zu unterstützen?

Ich argumentiere pragmatisch: Meduza ist jetzt bereit. Als einziges unabhängiges russisches Medium verfügt Meduza noch über die notwendige Infrastruktur, um sofort weiter zu berichten und viele Menschen zu erreichen. Die Unterstützung von tausenden Mitgliedern aus Westen wird Meduza ein stabiles Einkommen verschaffen und unabhängig machen, auch von institutionellen Geldgebern aus dem Westen. Nicht einmalig, sondern dauerhaft, zur Not über die nächsten Jahre hinweg.

Die Mehrheit scheint überzeugt. Gemeinsam wollen wir am Montag die deutsche digitale Öffentlichkeit informieren und zur Unterstützung aufrufen.

Freitag

Leon und ich brauchen zum ersten Mal eine Pause. Seit Montag sind wir im Tunnel. Es ist intensiv. Kein Vergleich natürlich zu der Erschöpfung, die Meduza mit sich herumschleppt, und die sich bereits seit Monaten und Jahren aufbaut.

Wir feilen an Details. Das Meduza-Team verzweifelt etwas an den europäischen Vorschriften zu Abo-Verkäufen im Internet, zu genauen rechtlichen Formulierungen und den Nutzungs-Gewohnheiten von Usern, die ein Netflix Experience erwarten. Aber das kriegen wir hin, bis Sonntag zumindest. Ich zahle auf der fast fertigen Seite. Es funktioniert!

An der Westküste ist es erst 9 Uhr, in New York Mittag und bei uns 18 Uhr: internationaler Netzwerk-Call. Es nehmen Kolleg:innen aus anderen europäischen Ländern teil, vor allem die Community der Membership-Medien, zu denen wir als KR Kontakt halten. Und es schalten sich einige amerikanischen Medien zu. Und zwar große Marken, mit für europäische Verhältnisse unfassbaren Reichweiten. Sie werden mitzziehen. Wir sind – gelinde gesagt – beeindruckt. 

Samstag

Wir versuchen, abzuschalten und Kräfte zu sammeln, während das Video-Team und das Entwicklungs-Team weiterarbeiten. Es gehen Presseanfragen und Unterstützungsangebote von beiden Seiten des Atlantiks ein.

Sonntag

Ich schreibe Mails und diesen Newsletter. Der Schnitt des Videos dauert länger als erhofft, womöglich wird es erst nach dem Start der Kampagne fertig werden. Auch die Webseite ist nicht vollständig bereit. Aber wir sind sicher: Das ist good enough.

Am Abend ein letztes Gespräch mit Meduza. Wir versuchen, uns auf alle Fälle vorzubereiten. Einen schnellen Erfolg mit vielen tausend Mitgliedern am ersten Tag, aber auch einen Pannen-Launch mit einer Kampagne, die erst langsam in Fahrt kommen wird. Wir wissen: Es wird etwas schiefgehen. Nur was genau, das wissen wir noch nicht.

Das ist Stand jetzt, Sonntagabend um 22 Uhr. Das Video fehlt noch immer. [Update heute morgen: um 02:18 Uhr ist es fertig geworden!] Wie erfolgreich unser Versuch sein wird, unabhängigen Journalismus in Russland zu ermöglichen, wissen wir vielleicht schon an diesem Montagabend.

Der Erfolg hängt jetzt: an dir. Unterstütze Meduza, und teile den Aufruf in deinem Netzwerk. Gleich jetzt als nächstes. Vielen Dank.

Bis nächsten Montag,     
👋 Sebastian

P.S.: Der nächste Newsletter wird kurz, versprochen! Und: Nach der ersten Runde am vergangenen Montag sind Blaupause-Mitglieder heute wieder eingeladen zum Think-In per Video, ausnahmsweise um 16 (statt 17) Uhr. Wer dazukommen möchte, kann gern noch Mitglied werden (Opens in a new window).

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