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Den Song mag ich!

Ruth Gipps: Song for Orchestra (1948)

In den Schleichwegen zur Klassik stelle ich regelmäßig nicht so bekannte Musikstücke vor, die ich hörenswert finde – mal sind sie einfach schön, mal schwierig, aber immer sind sie interessant. Da selbst Klassik-Spezis diese Stücke oft nicht kennen, herrscht Waffengleichheit. Hier ist alles für alle neu! Recherche und Schreiben kosten Zeit, also freue ich mich über deine freiwillige Unterstützung auf Steady (Opens in a new window).

Für viele Menschen ist klassische Musik, wenn man im Konzertsaal sitzt und nicht weiß, wann man klatschen soll. Oder gar nicht erst ins Konzert geht, weil man denkt, man müsste etwas besonders Festliches anziehen. Oder sich gleich ganz fernhält, weil man von komplizierten, langen Titeln so verschreckt ist.

In einem Twitter-Thread fragt @Kleinstod: “Warum haben klassische Songs eigentlich so schreckliche Titel, die man niemals wiederfindet mit 100 Nummerierungen?” 

https://twitter.com/Kleinstod/status/1484826684327088128 (Opens in a new window)

Zugegeben, in dem Thread ging es um einen ganz besonders schlimmen Fall, nämlich die Klavierbearbeitung eines Menuetts aus einer Suite für Cembalo von Händel. Dieses Menuett ist bei Spotify ein Song mit folgendem Titel: “Keyboard Suite No. 1 (Set II) in B-Flat Major, HWV 434 (arr. W. Kempff for piano): 7 Keyboard Suites, Set II, No. 1: IV. Menuet (arr. W. Kempff).” Als Interpret wird (korrekt) der Pianist Roland Pöntinen genannt und wenn man dann noch ein bisschen rumklickt, erhält man in einem Fenster mit dem Titel “Songinfos” die nicht ganz unwesentliche Information: “Geschrieben von: George Frideric Handel, Wilhelm Kempff”.

Über die Probleme, die insbesondere auf Pop ausgelegte Streamingplattformen wie Spotify mit Klassik haben, habe ich bei Zeit Online (Opens in a new window) schon mal geschrieben. Aber in dem Händel-Wirrwarr ist fast alles drin, was Werkbenamsung im Streaming zur Hölle macht: Komponist und Interpret sind nicht dieselbe Person. Mehrere Interpreten können das gleiche Werk aufführen. Das Werk stammt von einem ungeheuer produktiven Komponisten, dessen Werk nach seinem Tod von Musikwissenschaftlern in irgendeine Ordnung gebracht wurde (und nummeriert!). Der Name des Komponisten wird in verschiedenen Sprachen unterschiedlich geschrieben und so weiter und so weiter.

Und damit wären wir bei dem populärsten Problem bei der ganzen Sache, nämlich dass bei Spotify einfach jedes Musikstück ein Song ist. Ein Satz aus einer Symphonie oder einem Konzert: ein Song. Ein Stück für Klavier solo: Song. Das Vorspiel zu einer Oper: Song. Und eben auch ein Händel-Menuett: alles Songs!

Weil wir ja hier unter uns sind: Es ist diese schlichte Sache, mit der man sich sofort als Klassik-Newbie zu erkennen gibt – in dem man es so macht wie Spotify und alles umstandslos “Song” nennt. Wenn du die Musik magst, nenn sie gerne so, denn mit Begriffsfragen sollte niemandem der Weg in die Klassik verbaut werden. Aber es gibt einen einfachen Trick, wenn man nicht weiß, mit welcher Form man es zu tun hat: Das Wort “Song” ist fast immer falsch, aber das Wort “Stück” passt fast immer. Es ist nicht perfekt, aber damit kommt man schon ziemlich weit.

Es wäre so schön, wenn ich jetzt einfach sagen könnte: Ein Song ist es nur, wenn da jemand singt. Das wäre wirklich schön. Es ist auch fast richtig. Aber nicht immer, wenn jemand singt, ist es ein Song. Mehrstimmige Gesangswerke für Chor sind keine Songs (es sei denn es sind für Chor arrangierte Songs, was aber eher ein Randphänomen ist). Und während jeder Song ein Lied ist, ist nicht jedes Lied ein Lied. Denn das Lied ist eine auch außerhalb der deutschen Sprache gebräuchliche Bezeichnung für eine bestimmte Gattung Lied, nämlich das deutsche Kunstlied (das heißt wirklich le lied in Frankreich und the lied in Großbritannien). Die Aufführung eines Kunstlieds benötigt eine Gesangsausbildung und Noten lesen können muss man dafür eigentlich auch (im Gegensatz zum Volkslied, das durch Vorsingen, Zuhören und Nachsingen weitergegeben wird).

Wenn man “Lied” auf Französisch übersetzt, kommt chanson heraus, aber wenn man das zurückübersetzt, könnte auf Deutsch auch ein Chanson gemeint sein, wenn es um die typisch französische Liedgattung geht. Und während im Englischen Lieder songs sind, sind Songs im Deutschen nur gesungene, populäre Musikstücke des 20. und 21. Jahrhunderts, “die sich an anglo-amerikanischen Vorbildern” orientieren, sagt zumindest Wikipedia. Es ist geradewegs zum Verrücktwerden!

Können wir uns wenigstens darauf einigen, dass in allen Spielarten von Lied und Song gesungen wird? Hahaha, da könnte ja jede*r kommen! Natürlich ist das nicht so! Es gibt den Begriff des Songs nämlich zu allem Überfluss auch noch in einem weiteren Sinne: für Instrumentalstücke mit einer bestimmten liedhaften Ästhetik.

Von Felix Mendelssohn-Bartholdy stammt eine Sammlung von Klavierstücken, die so klingen, als würden sie gesungen (oder als könnte man leicht eine Melodie dazu singen), aber es gibt keinen Text und niemand singt. Man kann sich aber gut vorstellen, wie diese Stücke kleine Geschichten erzählen (wie ein Lied) und nicht wenige haben echte Ohrwurmqualitäten (wie ein Lied). Diese Klavierstücke nannte Mendelssohn “Lieder ohne Worte”, wobei nicht ganz klar ist, ob dieser eingängige Titel nicht doch von seiner Schwester Fanny Hensel stammt.

Womit wir bei den Frauen in der Klassik wären, von denen man zu wenig hört – vor allem, wenn man sich aufrafft, etwas Festliches oder nicht so Festliches anzieht, und ins Konzert geht. Wenn man nämlich nicht aufpasst, bekommt man praktisch durchweg Musik von Männern vorgesetzt. Ich habe zum Beispiel noch nie ein Werk der Engländerin Ruth Gipps in einem Konzertsaal gehört. Bis sich das ändert, hören wir uns ihre Musik eben online an und nach all dem Gejammer über den Songbegriff wäre ein guter Einstieg in ihr Werk der “Song for Orchestra”.

Es ist lyrische Musik, in dem verschiedene Instrumente singen – keine Worte stören diese kurze Tondichtung in einem typisch englischen Sound (einer von Gipps’ Lehrern war der weit bekanntere Ralph Vaughan Williams). Das Stück beginnt mit einem Solo für Oboe, die Streicher sorgen für einen warmen Hintergrund, vor dem Holzbläser und Hörner kleine Soli spielen. Dann nimmt die Intensität zu, als ob durch einen Wald aus Streichern ein plötzlicher Windstoß fährt. Es folgt ein Klarinettensolo und mit der Solo-Oboe vom Anfang schleicht sich Gipps wieder aus dem Song. Ich habe keine Worte vermisst.

https://www.youtube.com/watch?v=Q59DDLnaesw (Opens in a new window)

Hier findest du Gipps’ Song for Orchestra bei den Streamingdiensten (Opens in a new window).

Schöne Grüße aus Berlin
Gabriel

P.S.: Die Schleichwege zur Klassik sind  für einen “Goldenen Blogger 2022 (Opens in a new window)” nominiert – in der Kategorie “Bester Newsletter”. Ich freue mich sehr! Wie über die Preisvergabe entschieden wird, ist noch nicht bekannt, aber ich sage Bescheid, falls es eine Publikumsabstimmung gibt. ☺️

Und danke, dass du die Schleichwege liest. Wenn dir dieser Newsletter ein Schlüssel zu klassischer Musik ist, unterstütze meine Arbeit auf Steady (Opens in a new window). Als kleinen Dank erhältst du eine Playlist (für Spotify und Apple Music) mit fast einhundert Lieblingsstücken zum Entdecken.

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