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Die liebliche Gegenwart

Randall Thompson: Sinfonie Nr. 2 (1931)

In den Schleichwegen zur Klassik stelle ich regelmäßig nicht so bekannte Musikstücke vor, die ich hörenswert finde – mal sind sie einfach schön, mal schwierig, aber immer sind sie interessant. Da selbst Klassik-Spezis diese Stücke oft nicht kennen, herrscht Waffengleichheit. Hier ist alles für alle neu! Recherche und Schreiben kosten Zeit, also freue ich mich über deine freiwillige Unterstützung auf Steady (Opens in a new window).

Als ich im Frühling 2015 für einige Jahre in die USA zog, stand ich noch unter dem Eindruck der überraschenden Hinfälligkeit meines Körpers. Ich hatte wenige Wochen vor dem Abflug Bauchschmerzen bekommen. Erst schenkte ich ihnen keine besondere Aufmerksamkeit, aber sie blieben konstant, an der gleichen Stelle, mehrere Tage lang, bis ich dann doch zu meinem Hausarzt ging.

Dr. J. sagte, sein Ultraschallgerät zeige ihm nichts Auffälliges in meinem Abdomen, aber sein Ultraschallgerät sei auch sehr alt. Er drückte auf meinem Bauch herum und meinte dann, jetzt müsste er eigentlich alle Luft rausgedrückt haben, aber wenn es an dieser einen Stelle immer noch weh tut (und das tat es), dann “nehmen Sie sich jetzt ein Taxi und fahren ins Krankenhaus. Warten Sie nicht noch zwei Stunden.”

Solche Anweisungen befolgt man ja auf Autopilot, ohne nachzudenken, ohne zu zögern. Nicht zwei Stunden warten, das ist oddly specific und dadurch so unabweisbar besorgniserregend – was wäre denn in drei Stunden?

Das Krankenhaus war keine zehn Minuten weg. Dort schob man mich in ein hochmodernes Ultraschallgerät, so groß wie ein kleines Zimmer. Der Arzt sagte: “Oh. Dann ziehen wir Sie jetzt mal vor.” Ich hatte bereits die Betäubungstablette im Mund als ich noch irgendwas unterschrieb und eine Stunde später war ich, durch drei endoskopische Löcher in meinem Unterbauch, meinen akut entzündeten Blinddarm los. Eine Stunde später und es wäre sehr gefährlich geworden. Das also wäre eine Stunde später gewesen.

Als ich ein paar Wochen später wieder fliegen durfte, wurde mein Flug wegen eines Streiks bei Air France abgesagt. In einem weiteren Anlauf schaffte ich es dann immerhin bis nach Boston, aber aufgrund eines Schneesturms saß ich dann dort bei minus zwanzig Grad unter meterhohen Schneedecken fest und konnte die letzte Etappe nach Providence, Rhode Island, dem Ziel meiner Reise, erst am nächsten Tag antreten. Die Nacht verbrachte ich in einem Hotel, dessen Heizung ihre liebe Mühe hatte mit dem eisigen Chaos, das New England da draußen am zusammenstöbern war.

Die äußerlichen Umstände waren also nur unwesentlich besser als meine inneren, denn ich wusste ja jetzt, dass es offenbar möglich war, innert weniger Tage von recht gesund zu mausetot zu avancieren, einfach so, ohne Zutun, durch schieres Existieren. Es fühlte sich nicht gut an.

Ein paar Monate später, die Sorge um die inneren Organe war verebbt, die Schneeberge in den pittoresken Straßen Rhode Islands geschmolzen, machten wir uns auf den Weg nach Buzzards Bay, einer fünfundvierzig Kilometer langen Bucht in Massachusetts. Wir tranken eine sehr süße Gurkenlimo, aßen Pizza und spazierten den Sandstrand entlang, an dem vereinzelte, aber um so prächtigere Anwesen wie große, träge Tiere herumlungerten. Vielleicht gingen wir auch kurz ins Wasser. Es war in the low eighties, also so um die 28 Grad. Es war das beste Wetter, nichts tat mir weh, die Pizza war super, sogar die sehr süße Gurkenlimo war es. In der Ferne, auf der anderen Seite der Bucht, stand irgendwo das Institut für Meeresbiologie, aufgrund dessen wir überhaupt in der Gegend waren. Aber das war nur Arbeit und die konnte noch ein paar Tage warten.

Als wir wieder ins Auto stiegen und auf dem heißen Asphalt an dem kleinen Imbiss mit den frittierten Littleneck-Muscheln vorbeifuhren, lief auf dem lokalen Klassiksender eine Musik von leuchtender, schwelgerischer Schlichtheit und für ein paar Minuten gab es keine Kritik, keine Fragen, keine Angst, keinen Schmerz, kein Gestern und kein Morgen, es gab nur liebliche Gegenwart.

Die Musik war der zweite Satz aus Randall Thompsons zweiter Sinfonie von 1931. Es ist keine Filmmusik, es sei denn natürlich, dein Leben ist ein Film. Hört ihn euch an: 

https://www.youtube.com/watch?v=75ximAdSAI8 (Opens in a new window)

Und hier findest du das Stück bei den Streamingdiensten (Opens in a new window).

Schöne Grüße aus Berlin
Gabriel

P.S.: Danke, dass du die Schleichwege liest. Wenn dir dieser Newsletter ein Schlüssel zu klassischer Musik ist, unterstütze meine Arbeit auf Steady (Opens in a new window). Als kleinen Dank erhältst du eine Spotify-Playlist mit einhundert Lieblingsstücken zum Entdecken. Merci!

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