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Wie das Kaputte funktioniert

Percy Grainger: “The Ciphering C” für Saxophon-Ensemble (1933-1939)

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Der australische Komponist Percy Grainger (Foto: Public Domain, Quelle (Opens in a new window))

Heute machen wir mal ein kleines Experiment. Ich erzähle euch vorher nichts über das Stück, um das es diesmal geht. Ihr müsst erst zuhören. Deal? Ich verspreche eine erstaunliche Pointe und dass ihr es danach gleich nochmal werdet hören wollen.

Also los (aber nach dem Video nicht gleich weiterscrollen; wenigstens eine Minute zuhören!):

https://www.youtube.com/watch?v=xfZ6XEh9fsU&list=OLAK5uy_nR6wUVIQVgcrbX40Gn4KTXiNdA4mdltyk (Opens in a new window)

Zuerst mal: Was ihr da hört, ist ein Saxophon-Ensemble. Das Saxophon ist ja schon einzeln ein umstrittenes Instrument. Es gehört nicht zum klassischen Orchester-Setup und selbst in Popsongs gilt ein Sax-Solo als Ausweis fragwürdigen Geschmacks. Und hier ist, wie gesagt, ein ganzes Ensemble zugange.

Aber klingt es nicht super? So smooth und gesanglich, man will sich einwickeln in diesen Sound. Diese Version von “The Ciphering C” (oder “The Immovable Do” wie das Stück auch heißt) ist meine liebste, es gibt noch welche für großes Orchester, Streichorchester, Blaskapelle, gemischten Chor – und das Original für Harmonium. Das Harmonium funktioniert wie eine Mundharmonika, sieht aber aus wie ein Klavier. (Luft wird über Metallstreifen geleitet, die den Ton erzeugen.)

Nun soll auf Graingers Heim-Harmonium ein C geklemmt haben. Angeblich tritt dieses Problem öfter auf. Eine Taste wird längst nicht mehr gedrückt, aber das Harmonium schert sich nicht darum und der Ton erklingt weiter. Im Englischen soll dieses Phänomen “cypher” oder “cipher” heißen.

Und was macht Percy Grainger, dieses australische Wunderkind, einer der besten Pianisten seiner Zeit, ein exzentrischer, größenwahnsinniger, talentierter Spinner, der eigentlich für das Sammeln und Arrangieren englischer Volkslieder bekannt war? Er komponiert einfach drumherum. Er schreibt ein ganzes Stück, in dem von vorne bis hinten das C durchgehalten wird, gut viereinhalb Minuten lang. Und. Man. Merkt. Es. Nicht.

Alfred Sohn-Rethel beschrieb 1926 unter dem Titel “Das Ideal des Kaputten” technische Vorrichtungen in Neapel, die grundsätzlich kaputt seien, aber eben deshalb funktionierten:  “[B]eim Neapolitaner fängt das Funktionieren gerade erst da an, wo etwas kaputt ist.”

Wenigstens muss man, um Graingers Stück zu spielen, nichts kaputt machen. Falls auf einer Orgel alle Cs funktionieren, legt man einfach ein Gewicht auf die Tasten. In der folgenden Aufnahme übernimmt die Orgel die Funktion des ciphering C, während Artis Whodehouse das Stück auf dem Harmonium dazu spielt:

https://www.youtube.com/watch?v=LyF-mvZr2Ig (Opens in a new window)

Ein psychoakustisches Spiel mit Harmonien, die sich mit dem C vertragen. Das C ist die ganze Zeit da: Kaputt, aber es funktioniert. 

Hier findet ihr das Stück im Streaming (Opens in a new window).

Schöne Grüße aus Berlin
Gabriel

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