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Etwas stimmt nicht, und das ist richtig so

Michael Tippett: Konzert für zwei Streichorchester (1938-39)

In den Schleichwegen zur Klassik stelle ich Musik vor, die du vielleicht noch nicht kennst. Und ich liefere das Schuhwerk für deinen eigenen Schleichweg dazu. Das sind Vorschläge und Hinweise, mit denen du die Musik besser verstehen und damit mehr genießen kannst. Aber solche Texte machen Arbeit und kosten Zeit. Daher bitte ich dich: Unterstütze meine Arbeit mit einer Mitgliedschaft (Opens in a new window) (für 5 Euro im Monat) oder einem Sponsoring (Opens in a new window) (für 250 Euro im Monat). Als Sponsor erreicht deine Botschaft über tausend freundliche, neugierige und feinsinnige Menschen. Und nun zur Musik.

Foto: Larisa Birta (Opens in a new window) auf Unsplash (Opens in a new window)

Musik ist ein Kulturprodukt, Menschenwerk, das heißt sie ist hier so und anderswo anders. Aber das hindert klassikbegeisterte Menschen nicht davon ab, von der Universalität ihrer Musik zu schwärmen. Zu sagen, dass sie Grenzen überwindet und Frieden stiftet und alle Menschen werden Brüder und so weiter.

Das ist natürlich Kokolores, gut gemeinter, aber kolonialistischer Kokolores. Nur weil Europa eine fantastische Tradition klassischer Musik hat, muss diese Musik – irgendeine Musik! – keinen universellen (weltweiten!) Anspruch auf gleiche Wahrnehmung durch das Publikum haben. Es gibt keinen zwingenden Grund dafür, dass hiesige Musik, egal als wie tief oder bedeutend wir sie empfinden, überall so empfunden werden muss, denn Musik ist eben ein Kulturprodukt. Und das sage ich als jemand, der es natürlich sehr schade findet, wenn jemand meine Begeisterung für eine Mahler-Sinfonie nicht teilt. Aber wie Kathrin Passig sagt: So sind die Menschen – alle verschieden!

Und doch gibt Universelles in der Musik. Man muss sich nur auf ihre Physik besinnen. So wie man zwar darüber streiten kann, ob etwas dunkelrot, karminrot, purpurrot oder weinrot ist, sind die unterschiedlichen Wellenlängen des Lichts, die Farben überhaupt erst ermöglichen, keine Ansichtssache. Bei Schallwellen ist es auch so: Wenn eine Schallwelle doppelt so schnell schwingt wie eine andere, nehmen wir sie als sehr ähnlich wahr. Deshalb ist das, was wir eine Oktave nennen, nicht einfach ein kontingentes Kulturprodukt, das heißt: es ist keine willkürliche Festlegung, sondern basiert auf einer universellen Tatsache, der Verdopplung von Frequenzen. Wie wir die Oktave dann in Ganz- und Halbtonschritte unterteilen: das hätte auch anders kommen können.

Bevor es weitergeht, schlage ich vor, ihr hört schon mal in die heutige Musik rein. Ich verrate noch nichts, scrollt auch erstmal nicht weiter, sondern hört mindestens zwei Minuten zu:

https://youtu.be/_5ihd3NYK3E?t=390 (Opens in a new window)

Hier findet ihr das Stück im Streaming (Opens in a new window).

Vielen Dank. Ist etwas aufgefallen? Irgendwas stimmt nicht, oder? Woher kommt dieser Eindruck? Warum wissen wir, dass da etwas nicht stimmt?

 🥾 Schuhwerk für deinen Schleichweg: Es hat etwas damit zu tun, wie unser Ohr trainiert ist. Wir sind auf die zwölf Töne der westlichen Tonleiter geeicht, von denen für jede Tonart sieben ausgewählt werden, nach einem bestimmten Muster. Es gibt viele gute Gründe für die Beschaffenheit unserer westlichen Tonleitern, aber wie gesagt: Es hätte auch ganz anders kommen können – und das tat es auch.

Und zwar im historischen Mesopotamien, woher die Pentatonik, also die Tonleiter aus fünf Tönen wohl ursprünglich stammt (im Gegensatz zu den sieben Tönen unserer Tonleiter). Aus ihr gingen viele Jahrtausende später die Blue Notes hervor, das sind bestimmte Töne in Blues und Jazz, die zwischen den Tönen unserer Tonleiter liegen. Diese Töne klingen für viele Menschen auf eine schmerzliche Art ausdrucksvoll, weil sie außerhalb der etablierten musikalischen Ordnung, außerhalb des europäischen Tonsystems stattfinden, weil sie anders sind. Diese Andersartigkeit würde aber nicht so auffallen, basierten Blues und Jazz nicht grundsätzlich doch auf dem europäischen Tonsystem.

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Der englische Komponist Michael Tippett war ein großer Blues-Fan, schrieb aber Musik für klassische Instrumente, in unserem Fall für zwei Streichorchester. Auf der Bühne sitzen nur Geigen, Bratschen, Celli und Kontrabässe, dafür aber sehr viele davon. (Es ist nicht fest definiert, wie viele Musiker*innen ein Streichorchester umfasst, aber es braucht doppelt so viele!) In dem schmachtend beginnenden zweiten Satz kommen völlig unvermittelt Töne vor, die wie Blue Notes klingen, zuerst im Thema der Solo-Violine (die nach ungefähr einer halben Minute einsetzt) und gegen Ende noch einmal, wiederholt von den Celli. Tatsächlich sind Tippetts Blue Notes nicht ganz blue, sondern die für klassisch ausgebildete Musiker*innen leichter zu spielende Version, bei der einfach ein Moll-Intervall gespielt wird, wo ein Dur-Intervall erwartet würde.

Aber da stimmt wieder etwas nicht. Denn das Konzert für zwei Streichorchester steht in gar keiner heute gebräuchlichen Tonart (von deren Tonvorrat man dann mit Blue Notes abweichen könnte), sondern bedient sich eines sogenannten Modus. Das ist grob gesagt eine sehr andere, sehr alte Art, Tonleitern zu bauen, wie sie zum Beispiel in der Kirchenmusik üblich war.

Und dann ist die herzzerreißende Melodie im zweiten Satz gar nicht komplett von Tippett, sondern basiert auf einer walisischen Volksweise. Interessanterweise hat die walisische (und irische) Volksmusik auch eine pentatonische Tradition. Ich habe leider keine Quelle gefunden, die ausdrücklich sagt, von welchem Volkslied sich Tippett hat inspirieren lassen, aber ich tippe auf “Lisa Lân” (“Fair Lisa”). Hier eine nach Hollywood klingende Interpretation der walisischen Mezzosopranistin Katherine Jenkins:

https://www.youtube.com/watch?v=hVRlM4SKlVg (Opens in a new window)

Wenn euch das bekannt vorkommt, dann vielleicht, weil der amerikanische Filmkomponist Mark Isham aus diesem Traditional die Musik für “L.A. Crash” gemacht hat, einem Filmdrama aus dem Jahr 2004:

https://www.youtube.com/watch?v=qKdwwACEHc4&list=OLAK5uy_mAEftdxrszJVzHzrABNFIliEGyHhKSCtk&index=13 (Opens in a new window)

Dass ein pentatonisches walisisches Volkslied in der englischen Kunstmusik und einem amerikanischen Hollywoodfilm erfolgreich seine Arbeit macht – ist das nicht doch ein Beleg für die Universalität von Musik? Oder ist es vielmehr so, dass Tippett und sein amerikanischer Kollege Isham eine fremde, aber faszinierende Musik in ein für die westlich geprägte Hörerschaft akzeptableres Glanzpapier einwickeln und damit überhaupt erst zugänglich machen?

So oder so, Tippetts Konzert ist sehr schöne und originelle Musik, die noch viel mehr als nur walisische Folksongs zu bieten hat (wie zum Beispiel eine Fuge in der Mitte des oben verlinkten zweiten Satzes). Und ich werde ernsthaft sauer, wenn ihr das nicht auch so seht! ☺️

Schöne Grüße aus Berlin
Gabriel

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