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Ich lese kaum Newsletter. Die einzigen, die ich aktiv abonniert habe, bekomme ich, weil sie mit einem Gutschein verbunden waren für ein Produkt, das ohnehin schon in meinem Warenkorb lag. Dazu kommen ein paar mehr oder minder regelmäßige Informationen über Kindergärten, Schulen und Corona-Maßnahmen, aber wer zählt die denn im Jahr 2022 noch? Die Newsletter die ich lese, habe ich nicht abonniert, sondern klicke manchmal auf die Links dazu, wenn mich das Thema interessiert.

Wenn ich jetzt einen schreiben will, liegt das in meiner Neugier begründet. Das Format ist spannend, weil es dem eines Blogs gar nicht so unähnlich ist, und gebloggt habe ich das erste Mal vor ziemlich genau 20 Jahren auf einem Bloghoster, der glücklicherweise ohne überlebende Backups insolvent gegangen ist. Im Gegensatz zu Blogs erwartet es aber eine Regelmäßigkeit, die mich dazu zwingt, mehr zu schreiben. Ich schreibe nämlich eigentlich gerne. Ich tue es nur zu selten. In meinen Blogs habe ich das auf verschiedene Weisen versucht zu lindern, durch vollkommen weltfremd als „Daily“ bezeichnete Rubriken oder den Gruppenzwang der „Iron Blogger“. Geendet ist das fast immer in Meta-Posts, in denen ich darüber bloggte, dass mir nichts zum Bloggen einfiele. Dass ich nun mit so einem Meta-Post starte, ja, die Ironie habe ich auch bemerkt, danke.

Dass ein Großteil meines öffentlichen Schreibens nun auf Twitter stattfindet, hat nur vorrübergehend dazu geführt, dass ich mehr geschrieben habe; in den letzten Monaten ist es sogar deutlich weniger geworden. Das liegt an der Kurzform, die ich eigentlich gerne mag: Sie lässt nicht viel Platz um Gedanken auszubreiten, und weil zumindest meine Gedanken sich oft an etwas eher Banalem, (für mich) Selbstverständlichen entlang entfalten, brauche ich den Platz, denn das Banale (oder was ich für banal halte) hat mit Sicherheit schon jemand getwittert, und so eine Art Twitteruser, der die Takes einfach reproduziert oder übersetzt möchte ich nicht sein.

Also nun hier. Die Plattform ist mir geläufig, andere Newsletter-Autor:innen empfahlen sie mir. Ich habe nicht vor, damit Geld zu verdienen, deshalb wird das hier frei verfügbar sein. Wer mir Geld dafür geben möchte kann dies gerne tun, jedes einzelne Abonnement erhöht mein Pflichtgefühl für eine wöchentliche Erscheinungsweise in beträchtlicher Weise.

Ein geschichtsbezogener Aufreger dieser an geschichtsbezogenen Aufregern wirklich nicht armen Woche kam, nicht vollkommen überraschend, von Harald Martenstein, dem deutschen Boomer to end all boomers. Seinen Bericht über das Seniorenstudium in Freiburg, den er als „Comeback des Jahres“ im Zeit-Magazin platziert hatte, habe ich zu großen Teilen sehr gerne gelesen. Gelegentlich erscheint mir die Empörung über seine arg vereinfachten Senioren-Takes eher wie ein einstudiertes Ritual.

https://twitter.com/Tagesspiegel/status/1490697493411151883/ (Opens in a new window)

Ich glaube, in diesem Fall ist die genauere Diskussion notwendig. So notwendig, dass ich sogar ein Probeabo beim Tagesspiegel abgeschlossen habe, um diesen Bezahlartikel in Gänze lesen zu können. Er verrät mehr über Martenstein und deutsche Debattenführung als über den Artikelgegenstand.

Martenstein erinnert mich in seinem publizistischen Wirken oft an ältere Personen, die seit einer ganzen Weile alleine leben und denen deshalb das gedankliche Korrektiv des Gegenübers fehlt: Im Heimatdorf meiner Kindheit war das eine ältere Witwe, die merkte, dass gegenüber immer um genau 20 Uhr das Licht ausging, und die sich das nur mit einem geheimdienstlichen Schichtende erklären konnte. Hätte noch jemand in ihrem Haus gewohnt, die erste Äußerung eines solchen Gedankens hätte ihn vermutlich korrigiert. So haben wir das Haus immer gemieden, weil die Dame mittlerweile mit einem Fernglas auf ihrer Terrasse saß und sich über alle Notizen machte, die vorbeikamen.

Nun möchte ich Martenstein keine paranoide Erkrankung andichten, die zu verstehen mir 1992 noch nicht möglich war. Aber auch Martenstein fehlt offenbar das ursprüngliche Korrektiv, das „Nee. Denk nochmal drüber nach“. Problematisch ist das, weil seine Kolumnen geradezu lustvoll auf jedwede Art von Recherchearbeit verzichten. Was in Martensteins Kolumne passiert, ist allein seinem Kopf entsprungen. Die Frage ist, ob der Tagesspiegel als publizierendes Organ da nicht eine gewisse Fürsorgepflicht für seinen Autoren hat.

Martensteins Kernargument, das hat der Tagesspiegel so auch vertwittert, lautet: Den „Judenstern“ als Coronapolitikgegendemonstrant:in zu tragen ist dumm, es wird seinem historischen Hintergrund nicht ansatzweise gerecht, es ist nicht zu entschuldigen, aber es ist nicht antisemitisch. Denn, so der Kolumnist, die „Träger identifizieren sich ja mit den verfolgten Juden.“

Und hier entzündet sich das Drama. Denn Martenstein wird, gerade auf Twitter, nun Verharmlosung von, manchmal gar Verbreitung eines eigenen Antisemitismus vorgeworfen, ganz als wolle er die sog. „Spaziergänger“ von diesem Vorwurf reinwaschen. Ich würde mich dem nicht anschließen. Ich glaube, Martenstein hat „nur“ ein völlig unterkomplexes, vor Jahrzehnten steckengebliebenes Verständnis davon, was Antisemitismus ist. Es ähnelt dem von Linke-Politiker Diether Dehm, der mal sagte (Opens in a new window), Antisemitismus sei Massenmord und müsse dem Massenmord vorbehalten bleiben.

Für Martenstein und Dehm, die sich ansonsten vermutlich nur auf maskuline Rasurmode einigen können, beginnt Antisemitismus also da, wo sich jemand offen positioniert, Juden insgesamt und als Juden unerträglich zu finden, bei der Judenfeindschaft. Das passt natürlich nicht zu Menschen, die sich das Zeichen der deutschen Judenverfolgung anpappen.

Martenstein meint das natürlich gut. Ihm wird dieser Gedanke irgendwann zugeflogen sein, und dann hat er ihn weitergesponnen wie einen bartgrauen Faden. Er hat keine Sympathie mit diesen Leuten, das ist eindeutig erkennbar, aber der Konträrdenker in ihm muss halt auch zu Wort kommen.

Das zugrundeliegende Problem ist, dass Martensteins Vorstellung von Antisemitismus so eng ist, dass sie seit 1945 kaum eine Aktualisierung erfahren konnte. Denn natürlich ist es antisemitisch, sich wegen einer empfundenen Benachteiligung im demokratischen Rechtsstaat in eine Reihe mit der rechtlosesten Menschengruppe der europäischen Moderne zu stellen. Natürlich ist es antisemitisch, sich ausgerechnet den Tiefpunkt des deutschen Zivilisationsbruches auszusuchen, um daraus politisches Kapital zu schlagen. Und angesichts der immer noch global existierenden grundsätzlichen Bedrohung von Jüdinnen und Juden ist schon der Gedanke antisemitisch, man könne in dieser Tradition irgendwie Macht oder Einfluss erlangen.

Irritierend ist, dass Martenstein ja selbst die Verharmlosung erkennt und benennt. Er weiß, dass es eine vollkommene Missachtung des jüdischen Leids im Nationalsozialismus ist, sich als in einer vergleichbaren Situation befindlich zu wähnen. Er kann dann nur den letzten logischen Schritt nicht gehen: Dass etwas, was ausschließlich und zielgerichtet Jüdinnen und Juden missachtet, vermutlich irgendwie doch schon antisemitisch wäre.

Das alles steht so nicht ausdrücklich im bemerkenswert kurzen Text: Die ganze Kolumne ist schon kürzer als das, was ich nun dazu schreibe. Sie besteht hauptsächlich aus Sinnieren über Hitlervergleiche, was in sich ja schon absurd ist, weil es einmal um eine negative Fremdzuschreibung (Hitler) und einmal eine positive Selbstzuschreibung (jüdische Opfer) geht. Außer der Bezugsepoche ist da nichts, was beides verbindet, es sind funktional unterschiedliche Dinge. Martenstein versucht das noch mit einem der ältesten Tricks der Internetdiskussion zu retten, dem „Viele die X, machen selbst Y“-Vorwurf:

„Von denen, die das „antisemitisch“ nennen, würden wahrscheinlich viele, ohne mit der Wimper zu zucken, Trump mit Hitler und die AfD mit den Nazis vergleichen. Der Widerspruch in ihrem Verhalten fällt ihnen nicht auf.“

Dass er sich hier über eine Inkongruenz im Verhalten selbsterfundener Personen aufregt und das im Jahr 2022 tatsächlich noch veröffentlichen lässt, wirkt tatsächlich etwas peinlich. Es ist die Art von Argumentation, die sich nur Menschen leisten, deren Welt nicht aus dem Hören von Gegenargumenten besteht. Ich kenne ein paar davon. Sie denken, das liegt an ihrer Intelligenz. Tatsächlich haben einfach alle entnervt aufgegeben.

Was noch war:

Die Diskussionsveranstaltung, die ich in meinem Übermedienartikel zu „Eldorado KaDeWe“ (Opens in a new window) angekündigt hatte, ist nun bei YouTube abrufbar. Sie war zu kurz, aber sehr spannend: 

https://www.youtube.com/watch?v=kUXRovg7qlU&t=1s (Opens in a new window)

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