Riesa
Eigentlich sollte an dieser Stelle am Freitag ein launiger Überblick über die Werke jener kreativen Menschen erscheinen, deren Werk am 1. Januar in die Gemeinfreiheit überging, mit (für mich) überraschenden Einblicken und bemerkenswerter Kunst. Der fristgerechten Aussendung stand dann ein längerer Zahnarztaufenthalt entgegen, ihr kennt das. Also Samstag.
Samstag habe ich den Artikel fertiggeschrieben und nicht abgeschickt, denn er erschien mir zu banal für das, was sich an diesem Tag entfaltete. So richtig sortieren konnte ich das noch nicht, schrieb aber abends immerhin das ins Netz, was mir die ganze Zeit vor der Seele gebaumelt hatte:
Riesa erhielt 1623 das Stadtrecht und verlor es bald wieder und erhielt erst irgendeine Form von Signifikanz, weil es auf halbem Weg zwischen Dresden und Leipzig und an der Elbe liegt und, das ist entscheidend, dort die entsprechende Eisenbahnlinie den Fluss kreuzte. Plötzlich konnten dort Güter vom Schiff auf den Zug und umgekehrt verladen werden, und so erhielt Riesa seine regionale Identität. Riesa leitet sich vom slawischen Riezowe ab, aber natürlich gibt es eine Legende über einen Riesen, weil Migrationszeugnisse noch nie so richtig gut funktioniert haben in der deutschen Sprache. Hallo Köln.
In Riesa hat am Wochenende der AfD-Bundesparteitag stattgefunden, wie 2022 auch schon, es ist eine Stadt, in der sich die Partei wohlfühlen kann, sie erhielt bei der letzten Kommunalwahl viereinhalb mal so viele Stimmen wie die Ampelparteien, zweistellige Prozente erhielten ansonsten nur CDU und BSW.
Riesa wird, so ist meine pessimistische Deutung, mal als ein Kipppunkt der deutschen Geschichte im 21. Jahrhundert gelten. Denn dort verlor die AfD sämtliche Hemmungen, sich irgendwie als Zentralorgan des Rechtsextremismus zu gebärden. Es wurden nicht mehr wie früher die Meuthens vorgeschickt, die Ausländer zwar auch scheiße finden, aber die Privatisierung der Rente für viel wichtiger halten, es wurde nicht mehr pflichtschuldig von Höcke distanziert, man skandierte einmütig „Alice für Deutschland“, jau hehe, klingt so wie „Alles für Deutschland“, SA und so – nächstes Jahr recken sie dann alle die linke Hand nach oben oder etwas ähnlich infantil mit Auschwitz, Treblinka und Weltkrieg spielendes. Und Alles-Alice Weidel, die „seriöse Promovierte“, die so lange von den öffentlich-rechtlichen Fernsehredaktionen gehegt wurde, nahm das auf und kündigte für ihre Machterg.. Machtüb… Wahl an, die Berliner Republik, wie wir sie koalitionsübergreifend kennen, zu zerstören: Der Abriss der Bauten, die 30 Prozent unseres Stroms erzeugen und in die zahlreiche Bürgerinnen und Bürger investiert haben, macht sich da geradezu lächerlich aus gegenüber der unverhohlenen Ankündigung, die Freiheit der Wissenschaft zu beenden und die Universitäten AfD-konform gleichzu.. orienti… umzustruktu… ach, sagen wir es doch einfach wie es ist, die Universitäten gleichzuschalten. Von der „Remigration“, also einer gewaltvollen Homogenisierung des Staatsvolkes aufgrund von Blutsherkunft, ganz zu schweigen
Wir sind über alle Ausflüchte hinweg: Wer jetzt die AfD wählt, der ist einverstanden mit dem Ende unserer Demokratie, mit Gewalt, mit Tod, auch von Leuten, von denen er oder sie denkt, dass sie einem nahestehen. Und vielleicht ist gerade das das Problem unserer Arbeit für die Demokratie gewesen: Dass wir immer davon ausgegangen sind den Leuten erklären zu müssen, dass die AfD nicht dazu passt, dass sie ja eigentlich gute Menschen sein wollen. Wer das Johlen beim Wort „Remigration“ in Riesa gehört hat, muss ja verstehen: Die Grausamkeit ist der Punkt bei diesen Leuten. Die wollen nicht gut sein, die wollen nicht anständig sein, die wollen die Gewinner der Geschichte sein. Und wenn sie am Ende eine billige Wohnung kaufen können, weil die Nachbarn die Weihnachten nicht feierten plötzlich weg sind – umso besser. Vielleicht lassen sie ja noch ihr Shawarma-Rezept da, das essen die Kinder so gerne.
Es gilt also, damit zu arbeiten, dass die Menschen egoistisch sind. Also werden wir den noch für einen Diskurs erreichbaren Teilen der 20 %, die aktuell der AfD ihre Stimme geben wollen, erklären müssen, was deren Politik an Folgen für sie hätte. Denn es ist ja vollkommen offensichtlich, dass dort eine rassistische Kleptokratie in Planung ist, die nur so lange populär sein könnte, wie es noch Minderheiten gibt, denen man die Schuld aufhalsen und das Vermögen abjagen kann.
Viel davon ist nicht neu. Eigentlich nichts. Aber wir werden es so klar benennen müssen, und wir müssen Pläne machen. Denn auf ein Bundeskanzler Merz wird in den kommenden vier Jahren nicht dazu führen, dass in Deutschland niemand mehr seine nichtdeutsche Heimatsprache an der Bushaltestelle spricht, dass es weniger Barbershops gibt oder Benzin unter 20 Cent kostet. 2025 ist also eine Wahl, vor der man Angst haben kann, 2029 ist die Wahl, vor der wir Angst haben müssen. Diese Angst gilt es konstruktiv zu nutzen: Netzwerke zu schaffen, die auch nichtdigital funktionieren, und Informationen über alles zu sammeln, was notwendig sein könnte.
Denn auch das zeigte Riesa: Wir können uns nicht darauf verlassen, dass die gesamte bewaffnete Staatsmacht, wenn sie vor der Wahl „AfD oder BRD“ steht, die demokratische Ordnung hochhalten wird. Denn das ein demokratisch legitimierter Parlamentarier, in Riesa geboren als Sohn vietnamesischer Ex-Vertragsarbeiter, von einem Polizisten bewusstlos geschlagen wird, der daraufhin nicht unmittelbar festgenommen und erkennungsdienstlich behandelt wird, ist ein weiteres Zeichen: Man kann sich als Demokrat nicht blind auf diese Strukturen verlassen. Das ist deprimierend, aber es ist wichtig, sich dessen bewusst zu sein.
Wir aus der Geschichtsvermittlung, da schließe ich ausdrücklich auch die Lehrerinnen und Lehrer mit ein, ebenso wie die Verantwortlichen für die Bildungspläne der Länder, haben uns schlicht zu lange darauf verlassen, dass die Kenntnis über die Abläufe von 1918 bis 1933 und 1933 bis 1945 ausreichen würde, Menschen dagegen zu immunisieren. Nun stehen wir vor der Situation, dass das durchaus breite Wissen, dass die Menschen davon haben, fürs Gegenteil verwendet wird: Vergleichen wir die AfD 2025 mit der NSDAP z.B. des Jahres 1929, werden wir in vielen Detailfragen Unterschiede finden. Doch diese Unterschiede reichen nicht zur Entlastung. Auch die NSDAP hat nicht mit Dachau angefangen, aber die Logik der Entmenschlichung, der Verhöhnung und der Absage an die Menschenwürde ist eben doch gleich, und wir können es bei der Machtfrage nicht auf den Versuch ankommen lassen, ob sie es heute wieder so machen würden. Nie wieder war schon gestern, nie wieder ist am 23. Februar, nie wieder hört in keiner Sekunde auf.