Eine Kreissäge
Ich gucke jetzt abends gern Filme, in denen ein unfassbar mutiger Secret-Service-Mann den amerikanischen Präsidenten rettet; es gibt erstaunlich viele davon. Und erstaunlich oft droht dem Präsidenten, der in einem dieser Fime korrekterweise als Symbol bezeichnet wird, dabei Tod und Vernichtung durch eine Verschwörung aus dem Staatsapparat. Wenn der Präsident gerettet ist, hält er dann auf den Trümmern des in Schutt und Asche gelegten Weißen Hauses eine Rede an die Nation und erklärt, dass sie jetzt nach überstandener Krise neu zusammenfinden wird, noch edler, noch freier, noch heiliger.
Ich mag das sehr gern. Ich möchte noch einmal davon träumen, dass es das geben könnte, den guten, gütigen Landesvater, der über das Wohlergehen der ihm anvertrauten Bürger*innenschar wacht und einen Schutzschirm über Europa legt. Als würde ich nicht gerade Abschied nehmen, von den Vereinigten Staaten von Amerika, als Symbol und als Land voller Menschen, die sehr wichtig für mich waren. Hier ein Screenshot aus „Olympus has fallen“ aus dem Jahr 2013 – der Secret-Service-Mann geleitet den geretteten Präsidenten aus dem zerstörten Weißen Haus. Er wird von Gerard Butler gespielt, der mich an Markus Söder erinnert, der niemanden retten wird.

Mein erster Abschied von den USA ging so: Ich bin 19 Jahre alt und sitze in der schönsten Stadt, die ich bis dahin gesehen habe, in einer Abstellkammer mit Gästebett. Vor mir steht ein winziger Schwarzweißfernseher mit schlechtem Empfang.
Die Stadt heißt San Francisco. Das Haus mit der Abstellkammer gehört Jael, einem Theaterregisseur und Träger eines McArthur Genius Grant, der mich für eine Nacht untergebracht hat. Es steht in Potrero Hill, von dort hat man einen atemberaubenden Blick auf die Skyline. In keinem Hollywoodfilm, der in San Francisco spielt, fehlt dieser Blick. Ich mache ein Foto davon:

Das war alles nicht für mich vorgesehen – dass ich an Drehorten von Hollywoodfilmen stehe. Meine Eltern sind vor meinen Amerika-Plänen in nacktem Entsetzen erstarrt, und ich musste durch diese Erstarrung hindurchbrechen, um aus ihrem Haus zu kommen.
Auf dem winzigen flimmernden Bildschirm in der Kammer mit dem Gästebett läuft "Apocalypse now" von Francis Ford Coppola, immer wieder von weißem Rauschen unterbrochen. Ich sehe den Film zum zweiten Mal. Captain Willard reist ins Schreckensreich von Colonel Kurtz, an dessen Grenzen Leichen an Bäumen hängen. Verzerrt sehe ich Marlon Brando im Halbprofil und höre die Worte The horror. The horror.
Am nächsten Morgen geht mein Flug zurück nach Deutschland, eine Reise, vor der mir graut. Jael fährt mich zum Flughafen und schenkt mir vorher aus seiner Privatbibliothek einen Band Eisenstein. In meiner Einnerung ist meine Route seltsam. Bei einem Zwischenstop auf einem Flughafen in Nordengland gibt eine alte Dame mir ihr Butterbrot, weil ich verhungert wirke, später lande ich in Bremen. Jetzt ist die ganze Weite, die ich mir erobert hatte, wieder weg, die räumliche Weite und die Weite im Kopf. Alles, was ich mir in einem aberwitzigen Befreiungsschlag erobert habe.
Heute regiert ein Wahnsinniger die USA, und die Welt hat beschlossen, mit ihm umzugehen wie mit einem vernünftigen Menschen. Ich glaube nicht, dass die Vernunft sich davon wieder erholen kann. Kein vernünftiger Mensch würde sich jetzt nicht zitternd auf dem Bett zusammenrollen. Ich rolle mich zusammen und höre eine heisere Stimme: The horror. The horror.
Meine erste Reise in die USA ging so: Ich bin 18 Jahre alt und liege um Mitternacht auf einer Bank vor dem Brüsseler Bahnhof. Neben der Bank stehen zwei Pappkoffer mit Holzbeschlägen, darin befinden sich unter anderem zwei Garnituren Bettwäsche und der stw-Band „Schamanistische Extasetechnik“ von Mircea Eliade. Weil die französische Eisenbahn streikt, ist mein Zug nach Paris ausgefallen. Am frühen Morgen kommt ein Bus und bringt mich und ein paar andere zum Pariser Flughafen. Als ich einchecke, spreche ich zum ersten Mal mit einer schwarzen Person. Sie sagt „You’re welcome“, und ich verstehe nicht genau, was sie damit meint.
Dann stehe ich auf dem Flughafen von New York vor einem Münztelefon. Ich habe es geschafft, ein R-Gespräch mit der Theaterschule anzumelden, zu der ich unterwegs bin. Dort müssen sie wissen, dass ich Stunden später komme. Jetzt will die Vermittlung plötzlich, dass ich noch 25 Cent einwerfe. Ich lasse meine beiden Koffer stehen und mache mich panisch auf die Suche nach Kleingeld.
Dann bin ich im letzten der drei Flugzeuge meiner Reise. Wir fliegen über Suburbs – Vorstadthäuschen mit Vor- und Hintergärten, genau wie bei meinen Eltern. Was, wenn ich nie abgereist bin? Ich esse ich das letzte Stück Lübecker Marzipan, das meine Mutter mir als Reiseproviant eingepackt hat. Am Abend darauf sitze ich in der Flughafenbar von McKinleyville, Ca., und ein Sherriff erzählt mir von seiner riesigen weiblichen Marijuanapflanze.
Die Präsidentenrettungsfilme, mit denen ich mich heute beruhige, dramatisieren den jeweils aktuellen Stand terroristischer Bedrohungsszenarien und der Technologie, die für ihre Abwehr angeschafft werden muss. Sie sind ko-finanziert von den Sicherheitsdiensten, die jetzt nichts tun, um die USA vor ihrem Präsidenten zu retten. Aber erstaunlicherweise ist es dann jedesmal ein einzelner, vom Kriegseinsatz gestählter Mann, der sich den Weg freischießen muss, um einen Gegner niederzuringen, der neben dem Symbol der heiligen Nation auch seine eigene Frau und Familie bedroht. Und der Feind wird gern auch mit der Hand niedergerungen, wenn alle Kriegswaffen leergeschossen sind: Gut und Böse in inniger, unangenehm verschwitzter Umarmung. Männergewaltsex. Mit Markus Söder.

Als ich wieder in Deutschland war, habe ich die Enge nicht mehr ausgehalten – die Enge, die ich heute „Merz“ nennen würde. Nach ein paar Monaten bin ich wieder nach San Francisco geflogen. Mein zweiter Abschied aus den USA ging so: Ich bin 19 Jahre alt, und in San Francisco hat mich eine Varieté-Truppe, die Gummihühner jongliert, als Beleuchter für eine Europatournee engagiert. Ich bekomme eine kostenlose Unterkunft in Amsterdam, muss dafür aber Computerchips aus Menlo Park nach Holland schmuggeln, zwei lange Stangen mit riesigen spinnenartigen Dingern. Die Chips sind für die erste computergesteuerte Light-Show einer Rockgruppe gedacht, die „Genesis“ heißt. Ich werde nicht erwischt.
Es gibt ein Bild von mir bei meinem ersten USA-Aufenthalt, als Theaterschüler im nordkalifornischen Holzfällerdorf. Ich bin 18 Jahre alt und stehe vor einem niedrigen, grün gestrichenen Blockhaus, in einer magentafarbenen Jogginghose und einer rostfarbenen Daunenweste. Im Profil, mit schrägem Blick in die Kamera. Aufrecht, die Arme hinter dem Rücken verschränkt wie ein Offizier, der eine Parade abnimmt. Das Bild eines ephebenhaften, zarten Menschen, verletzlich, aber auch so tief verletzt, dass in seinem Herzen im Dauerbetrieb eine Kreissäge rattert. Man kann sich daran wehtun.
Ich bin natürlich noch immer so, eine verletzliche Kreissäge, und meine Kreissäge beschwöre ich in diesen Tagen: Säge, liebe kleine Kreissäge, säge mich, säge uns alle hier raus!
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In other news: In der taz habe ich etwas über den „Nahost“-Krampf geschrieben, hier (Opens in a new window). Für Berlin Review habe ich etwas über Thomas Brasch, Rolf Dieter Brinkmann und einen männerdominierten Literaturbetrieb der Vergangenheit geschrieben, hier (Opens in a new window). In der Aprilausgabe des „Merkur“ erscheint ein Prosatext von mir.
Übrigens bin ich der Meinung, dass das Patriarchat zerstört werden muss.