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Warenverkehr im Nebenkapitalismus

Liebe Alle,

hier ein Foto aus Hongkong, ich erzähle später kurz etwas von der Reise. Aber der Newsletter soll mit einem Foto anfangen, und der nächste Teil des Textes lässt sich einfach nicht schön illustrieren.

Zwei Monate lang ist nichts von mir gekommen, und darüber müssen wir kurz reden. Ich habe einen Text alle zwei Wochen in Aussicht gestellt. Es wurde dann eher ein Text pro Monat, und auch längere Schreibpausen wie die jetzige kann nicht ausschließen, weil – das Leben. Zur Zeit ist es gerade besonders ichweißauchnichtwas. Bestimmt besonders. Und diese Texte haben keinen Waren- und keinen Servicecharakter und sind einfach nur da, und manchmal nicht mal das.

Es gibt aber Menschen, die auf mein Versprechen hin für diesen Newsletter bezahlen. Und wenn Menschen ein Abo abgeschlossen und das ganze Jahr im Voraus bezahlt haben, und jetzt kündigen möchten, weil sie enttäuscht sind – zu Recht, weil wir uns hier ja auf einem Dienstleistungsportal befinden, das Ware für Geld verspricht –, dann überweise ich nach der Kündigung gern den Restbetrag privat zurück. Bitte einfach melden!

Kund*innenzufriedenheit ist ein hohes Gut, so ungern ich alle, die hier lesen, als Kund*innen sehe. Es fließt aber Geld, da kann man es sich nicht aussuchen. Unser Verhältnis als Verkäufer und Kund*innen ist durch die äußeren Umstände gesetzt. Und es gehört zu den Stärken des Kapitalismus , dass er klare Regeln setzt, die im Idealfall allen nützen.

Schade dass es diesen Idealfall nicht gibt und in seiner gegenwärtigen Form sonst nicht mehr viel Gutes am Kapitalismus ist: Wahrscheinlich wird er uns umbringen, und mein Ziel bleibt weiter, dabei zu helfen, nebenkapitalistische Räume zu öffnen, von meiner seltsamen Warte als superprivilegierter Boomer-Autist aus.

Wobei nebenkapitalistisch für mich auch postpatriarchal heißt, postpaternalistisch, postnationalistisch. Ich habe neben dem Schreibtisch eine große Tonne stehen, in die man das alles reintreten kann, Krieg, Sport, Leistungsgesellschaft, alles eine Soße. Gleichzeitig rausche ich auf die Pleite zu, weil ich zum ersten Mal als Übersetzer partout keine Aufträge mehr bekomme, und bekommen kann ich sie nur vom kapitalistischen Literaturbetrieb, der den Wert der Ware festsetzt, die ich anbiete.

Dieser Wert scheint hoch zu sein. Im April wird der Preis der Leipziger Buchmesse sich zum Teil über mich als Übersetzerpreisträger definieren, und vor der Verleihung des Preises 2023 wird ein ein sehr kurzes Videoporträt von mir als beispielhaftem Preisträger gezeigt. Ich sage auch ein paar Worte, nur leider nicht, dass ich Aufträge brauche.

Das alles gehört zu diesem Komplex „Das Leben ist im Augenlick ganz – besonders“. Das Video haben wir gedreht, als die Pandemie gerade losging. Mitten während der Dreharbeiten kam die Nachricht, dass die Leipziger Buchmesse abgesagt wird. Wir haben trotzdem weitergemacht, und jetzt wird der Film aus der Schublade geholt, als wäre nichts gewesen.

Und auch dieses „als wäre nichts gewesen“ gehört zum aktuellen Lebenskomplex, zu den Bleigewichten, die an mir und vielleicht auch sonst noch ein paar Menschen hängen. Die Verdrängung von Covid-19 als Realität mit Auswirkungen, die uns auf Jahrzehnte begleiten werden, ist eine gesamtgesellschaftliche Anstrengung, und unsere Regierung hat auch sie für uns individualisiert: Das ist jetzt euer Problem, tschüssikowski!

Der Qualitätsjournalismus bringt auch lieber Exkulpatorisches: Wie haben Sie die Pandemie erlebt, Herr Spahn?  – Wozu recherchieren, wenn man auch Promis am Nimbus rumspielen kann. Hauptsache, man verdirbt es sich nicht mich Jan Josef Liefers!

Und nichts kann Deutschland besser als Verdrängung.

Außerdem wollen die Menschen das! Die Menschen wollen wissen, was Ex-Minister fühlen!

Was man so Mensch nennt jedenfalls.

Was noch als Mensch durchgeht, was Menschlichkeit ist und wo staatlich organisierte Menschlichkeit ihre Grenzen hat, ist ja eine Frage, mit der die Pandemie uns gründlich konfrontiert hat. (Für alle, für die es die im Mittelmeer ertrunkenen und noch immer ertrinkenden Flüchtenden noch nicht geschafft haben jedenfalls – diesmal geht es ja um UNS!)

Ich habe mich sehr über den Text von Frédéric Valin im „Neuen Deutschland“ über seine drei Jahre Pandemie gefreut. Er beschreibt, wie er gezwungen ist, sich als immungeschwächter Mensch ganz zu isolieren, wie er den Spott eines Lieblingsschauspielers auf die Schutzmaßnahmen erlebt hat und wie er den dauernden öffentlichen Tanz um die Rechtfertigung der eigenen Verantwortungslosigkeit sieht:

„Für die diversen Fehleinschätzungen und Irreführungen gab es kaum Konsequenzen. Paradebeispiel dafür ist der Virologe Hendrik Streeck, der regelmäßig falsche Einschätzungen abgab und trotzdem quasi ins Fernsehen einzog. Das hieß: Es gibt keine nennenswerte Verantwortungsübernahme in diesem Bereich. Das wiederum bedeutet: Der Medizin ist nicht zu trauen.“

Ich verlinke den Text unten. Valin spricht darin vom „Terror der Normalität“. Für unsere Gesellschaft, in der dieser Autor als einer lebt und schreibt, der ein bisschen zu viel Herz hat, war die Pandemie ein Anlass, sich als Gesellschaft der Sieger zu beweisen: In unserem inneren SUV kann das Virus uns nichts anhaben, und wer sich keinen leisten kann, hat Pech gehabt.

Im Jahr 2015 hat Peter Sloterdijk es für notwendig erklärt, dass unsere Gesellschaft sich „ein Abwehrsystem aufrichtet, zu dessen Konstruktion eine wohltemperierte Grausamkeit vonnöten ist“. Damals ging es nicht um Grausamkeit gegenüber Deutschen mit schwachen Abwehrkräften gegen Viren, sondern um die sogenannte „Flüchtlingswelle“.

Eine unübersehbare Zahl von Weinkellern wird sich Sloterdijk aufgeschlossen habe nach diesem Satz, Weinkeller von Bürgern, die ihre Ängste gern mit Gewalt gegen Schwächere abwehren möchten. Warum sehe ich in diesen Weinkellern vor meinem inneren Auge immer Wolfgang Kubicki neben Sloterdijk sitzen? Den Bundestagsvizepräsidenten, der in der Pandemie so männlich stolz erklärt hat, trotz aller Verbote NATÜRLICH weiter seine illegale Kneipe benutzt zu haben.

Dieses Recht auf Privilegierten-Anarchismus ist offenbar das oberste Gesetz. Diese selbsterteilte Erlaubnis, sich im Hinterzimmer des Stammlokals an der eigenen Lust auf Grausamkeit zu delektieren, egal was im Grundgesetz steht, um dann auf dem Podium zum Beispiel triumphierend zu erklären, der eigentliche Feind des Grundgesetzes sei die Klimabewegung.

Der Terror der Normalität. Muss man sich auch erstmal leisten können. Prost! Und das ist ja bei uns das eigentliche am „wir“: zu zeigen, dass wir uns was leisten können.

Ich war einen Monat lang in Hongkong, hier noch ein Foto.

Wenn ich eine der viel zu vielen Erfahrungen teilen kann, die ich dort gemacht habe, auf einer Reise, von der ich immer noch nicht wieder ganz zurückgekehrt bin, dann ist es vielleicht die vom Gehen auf der Straße. Hongkong ist eine Stadt, die Energie in einen Menschen hineinpumpt. Durch das Gedränge auf der Straße bewegt man sich mit kampfsportartiger Direktheit und Energie. Man kämpft sich durch und respektiert das Recht der anderen, sich durchzukämpfen, ohne sie weiter zu beachten. Man kämpft nicht gegeneinander, man kämpft miteinander, nur zufällig in verschiedene und oft gegenläufige Richtungen. Das ist wie ein ruppiger Tanz, und er hat etwas beglückend Egalitäres.

Als ich wieder in Berlin-Mitte war, habe ich das Gehen hier als Schautanz empfunden, als Gehen gegeneinander. Das Gegeneinander drückt sich darin aus, dass man das Gegenüber nicht einmal ignoriert. Man demonstriert, dass der Platz, den man einnimmt, einem zusteht. Man präsentiert sich. Man fährt nicht nur, man geht auch SUV.

(Man fährt in Hongkong übrigens gern sehr dicke Autos, und egalitär geht es nur auf den Gehwegen zu. Die Hälfte dieser Autos wurde in den Werkstätten unten in dem alten Haus repariert in dem wir gewohnt haben – McLarens oder tiefstgelegte, Silberpfeil-artige Mercedesse, deren jaulende Motoren ausgiebig getestet wurden. Auf der Straße wirkt ein Ferrari schon fast prollig, aber mit einem neongrünen Lamborghini kann man noch punkten.)

Ich habe versucht, in jeden Absatz dieses Newsletters einen gesellschaftlichen Widerspruch zu packen und alle miteinander zu verknoten. Jetzt etwas aus der Tierwelt, die so etwas nicht kennt: Während wir in Hongkong waren, ist mein Kampffisch Batman gestorben, an Altersschwäche. Das war sehr traurig. Ich habe das Becken für ein Pärchen Betta mahachaiensis neu eingerichtet, beide Fische sind sehr schön. Hier ein Foto vom Weibchen.

Das Pärchenleben ist aber stark von männlicher Aggressivität geprägt, und ich musste dafür sorgen, dass das Weibchen ausreichend Versteckmöglichkeiten hat. Ich verbiete mir, das nach menschlichen Kriterien zu bewerten, was aber Energie kostet.

Drei Krähen kommen täglich ans Fenster. Eine holt sich ihre Erdnüsse inzwischen bei offenem Fenster drinnen von der Fensterbank, auch wenn ich im Zimmer bin; sie zieht wahrscheinlich bald ganz ein. Eine schreckt selbst dann zurück, wenn ich bei geschlossenem Fenster im Zimmer bin, und die dritte und älteste kommt immer noch gern zum Plaudern. Dann sitzt sie vor dem Fenster auf der Leitung der Tram und kräht, keckert, gurrt und wackelt mit dem Kopf. Ich wackele auch mit dem Kopf, aber ich bleibe stumm, weil ich mich nicht lächerlich machen möchte, während ich mich so weit aus dem Fenster lehne.

Vor allem aber ist bei den Krähen jetzt Paarungszeit, eher spät in diesem Jahr. Ich weiß noch nicht, wer in das Nest vor der Backfactory zieht, es wird aber schon repariert.

Danke für die Geduld beim Warten auf diese Lieferung, danke fürs Lesen, danke fürs Abonnieren, wenn das Geld reicht. Und auch meine Geld-zurück-Garantie möchte ich noch einmal ausdrücklich bekräftigen.

Übrigens bin ich der Meinung, dass das Patriarchat … siehe oben.

Links und Vids

Der Text von Frédéric Valin:

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1171605.jahre-pandemie-corona-in-kranker-gesellschaft.html (Opens in a new window)

Die Bücher von Frédéric Valin im Verbrecher Verlag:

https://www.verbrecherverlag.de/author/detail/134 (Opens in a new window)

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