Hände, die einander wärmen
Über einen Sommertag im Garten von Helga Schubert, über Kohlweißlinge und Streuselkuchen, Erinnerungen, Geröllfelder und die Gemälde von Johannes Helm
Ein Sommertag in Mecklenburg. Abgeerntete Felder, ein wolkenloser Himmel. Sonnenblumen, die in der Hitze tanzen.
„Da ist sonst nichts“, sagt der Taxifahrer und fährt stoisch auf den Horizont zu, an dem alles zu enden scheint. Ist es dort, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen? Er verzieht keine Miene. „Das finden nicht mal Fuchs und Hase. Also, der Fuchs sowieso nicht.“
Er muß es wissen, er ist von hier. Und natürlich führt die Straße wohin. Neu-Meteln heißt der Ort, der nicht viel mehr Häuser hat als Buchstaben. Eine halbe Stunde von Schwerin entfernt, wenn man ein Auto hat. Aber es fährt auch ein Bus, gleich auf dem Bahnhofsvorplatz; und wenn man am Tag vorher anruft, wartet in Lübstorf das Ruftaxi.
Der Fahrer sagt nicht viel; wir sind in Mecklenburg, da haben sie nichts zu verschenken, jedenfalls keine Worte. Aber Helga Schubert kennt er. Die hat er schon mal gefahren. Offenbar war es eine gute Begegnung, denn nun beschenkt er mich doch und fährt an der Haltestelle vorbei, direkt zu ihrem Haus.
Helga Schubert lacht, als ich ihr erzähle, daß der Fuchs sie sowieso nicht findet. Ein strahlendes, fast mädchenhaftes Lachen, das die Falten in ihrem Gesicht in Lachfalten verwandelt. Später, als ich sie fotografiere, rutscht mir der Satz heraus: Sie schauen heute so ernst. „Ja“, sagt sie, „das paßt zu diesem letzten Jahr. Das war nicht zum Lachen.“
Im vorigen Herbst, als ich das erste Mal hier war, prasselte der Regen gegen die Fenster. Wir saßen im Wintergarten und sprachen über „Judasfrauen“, wie ihr Buch über Denunziantinnen in der Zeit des Nationalsozialismus heißt. Die dunklen Wolken, die über das Haus zogen, schienen direkt unserem Gespräch entstiegen, das um Diktatur und Verrat kreiste, um Schuld und Mut.
Jetzt stehen Fenster und Türen offen; ein Kohlweißling flattert herbei, als wolle er uns nach draußen bitten. Auf die Wiese, auf die der Sturm vor ein paar Nächten körbeweise Äpfel geschüttet hat. Zu Tisch und Stühlen, die uns erwartungsvoll entgegenblicken. Zum Brombeerschwarz und den glockenschwer herabhängenden Birnen. Noch sind sie ein bißchen grün um die Ohren, aber das gierige Summen der Wespen, keine Frage, das können sie hören.
Helga Schubert drückt mir Kissen in die Hand, holt Gläser, eine Flasche. Und dann sitzen wir im Garten, nur ein paar Schritte von der Stelle entfernt, an der sie vor vier Jahren saß, an einem Frühsommermorgen. Hinter ihr leuchtete das Grün; und ein Leuchten war auch in ihren Augen, als sie ihre Erzählung „Vom Aufstehen“ las, die mit dem Satz beginnt: „Auf, auf, sprach der Fuchs zum Hasen, hörst du nicht die Hörner blasen?“
Mit dieser Lesung, von der Kamera eingefangen und noch weit jenseits der Apfel- und Birnbäume zu hören, gewann sie den Ingeborg-Bachmann-Preis. Sie war die älteste Teilnehmerin, die jemals diesen Wettbewerb gewann. Aber alt sah eher der Literaturbetrieb aus, der über all seinen Aufgeregtheiten diese Autorin von Rang vergessen hatte – und jetzt so tat, als habe er Amerika entdeckt oder zumindest eine neue Orchideenart.
Jahrelang schrieb Helga Schubert für die Schublade, kein Verlag interessierte sich für sie. Wohl nicht zufällig hatte sie bei ihrer Lesung gleich neben dem Wasserglas ein paar Bücher plaziert. Ein dezenter Hinweis.
Nein, sie war kein unbeschriebenes Blatt, sondern eine gestandene Autorin mit gut einem Dutzend Büchern: die meisten zu DDR-Zeiten erschienen, einige auch im wiedervereinigten Deutschland. Ihr erstes, der Erzählband „Lauter Leben“ von 1975, schloß mit einem preisenden Nachwort von Sarah Kirsch, in dem es heißt: „Profession und Talent haben sie mit Über-Blicken über das Leben der Menschen ausgerüstet.“
Fast ein halbes Jahrhundert später stießen die lange Zeit so ignoranten Experten plötzlich ins gleiche Horn. Landauf, landab wurden die Erzählkünste von Helga Schubert gefeiert. Die Verlage rissen sich um sie; und schon bald gesellten sich zu ihren nur noch antiquarisch erhältlichen Büchern drei neue hinzu.
Gleich das erste, „Vom Aufstehen“, 2021 erschienen, wurde begeistert aufgenommen. Und das völlig zurecht: Neben der titelgebenden Erzählung über das Leben und Sterben ihrer vom Krieg traumatisierten Mutter enthielt er zwei Dutzend Geschichten aus den letzten Jahren. Geschichten, wie man sie lange nicht gelesen hatte: autobiographisch grundiert, voller Lebenserfahrung und Zartsinn, von einer beiläufigen Poesie.
In einer der schönsten erinnert sich Helga Schubert an die Sommerferien im Garten ihrer Großmutter in Greifswald, wo sie als Kind in der Hängematte lag, Streuselkuchen aß und Bücher las, Äpfel pflückte und Johannisbeeren. Es geschieht nicht viel auf diesen knapp vier Seiten, aber für die Erzählerin ist es eine ganze Welt, und was sie ihr bedeutet, noch immer, teilt sich mit in jedem Wort – schon lange vor den letzten drei Sätzen, auf die alles zuläuft: „So konnte ich alle Kälte überleben. Jeden Tag. Bis heute.“
Auch jetzt sitzen wir in einem Garten in Norddeutschland, aber nicht in Vorpommern, sondern in Mecklenburg. Während die Wespen summen und drüben auf dem Feld ein Traktor brummt, geht es um Anton Tschechow: für Helga Schubert viele Jahre lang ein erzählerisches Vorbild.
„Er war der mit dem Heiligenschein“, heißt es in dem schmalen Buch, das sie ihm im vorigen Jahr gewidmet hat. Allerdings klingt schon der nächste Satz wie Ketzerei: „Solange ich noch einen Heiligen hab, dachte ich, solange bin ich noch nicht erwachsen.“
Ja, sagt sie, dieser Gedanke habe sie lange begleitet. Wenn man schreibe, könne man Vorbilder haben oder elektrisch geladene Zäune. „Aber richtig schreiben heißt, daß man beide nicht mehr braucht.“
Was denn elektrisch geladene Zäune seien?
„Eine Weile habe ich immerzu gedacht: Bloß nicht langatmig werden! Oder sentimental. Auch nicht belehren oder missionieren. Solche Zäune sind das. Die darf man nicht berühren. Das ist wie bei den Pferden, die haben auch solche Zäune. Ein paarmal passiert es ihnen, daß sie ihnen zu nahe kommen. Aber dann lernen sie und gehen nicht mehr dorthin. Und so habe ich das auch gelernt.“
Im Mittelpunkt ihres Buches steht eine Erzählung, die Tschechow als 25jähriger schrieb. Sie selbst war nur wenige Jahre jünger, als diese Erzählung sie in einer ihr ausweglos erscheinenden Situation beschützte: „Sie half mir, den kleinen lebensrettenden Schritt vor dem Abgrund zurückzuweichen.“
Immer wieder hat sie die Geschichte gelesen, über hundertmal im Laufe ihres Lebens. „Und sie wurde zur wichtigsten Erzählung für mich.“
„Gram“, so heißt sie, erzählt von dem Kutscher Jona Potapow, der in einer Winternacht wie ein Häufchen Elend auf seinem Kutschbock kauert. Er fährt so langsam, daß die betrunkenen Fahrgäste anfangen, ihn zu beschimpfen, und mit wüsten Drohungen antreiben. Ein ums andere Mal versucht er zu erklären: Der Sohn sei ihm gestorben, ganz plötzlich! Aber diese Mitteilung facht den Ärger der Leute nur noch mehr an. Es hagelt Schimpfwörter, ja sogar Schläge. Von der Not des Alten will keiner etwas hören.
Es ist eine Geschichte über menschliches Leid und den Unwillen, mit dem andere ihm begegnen – als fürchteten sie, sich daran anzustecken. Als Helga Schubert die Erzählung als junge Frau las, erging es ihr wie dem Kutscher: daß sie „niemanden hatte, dem ich mich anvertrauen konnte“.
Ihr Leben lang, schreibt sie, habe sie sich die Kürze dieser Erzählung zum Maßstab genommen, „die Menschenfreundlichkeit und das Wissen um die gefährliche Gleichgültigkeit gegenüber dem Kummer, dem Gram eines Gegenübers, die er nur leise und vorsichtig andeutet“.
Tschechow als Lehrmeister des Existenziellen?
Sie nickt. „Ganz kalt soll man sein beim Schreiben, hat er mal gesagt. Also immer auf Distanz bleiben. Das kann er meisterhaft. Aber er ist nicht der einzige. Natalia Ginzburg oder Katherine Mansfield, die können das auch. Die schreiben auch lakonisch, mit Abstand. Und da habe ich mich immer zugehörig gefühlt.“
Aber solche Vorbilder, sagen Sie, braucht es nicht, um richtig zu schreiben?
„Nein, man darf einem Genie wie Tschechow nicht nacheifern. Man muß wirklich sein ganz Eigenes haben und dazu stehen. Dafür braucht es furchtbar viel Mut. Und es bedeutet: Einsamkeit. Da ist überhaupt keiner mehr da. Man muß am Abgrund schreiben, so wie man auch am Abgrund leben muß – und sich trotzdem sicher fühlen.“
Neulich, erzählt sie, sei sie jemandem begegnet, der die Alpen durchquert habe. Sie habe ihn gefragt, ob es dort inmitten der Geröll- und Schneefelder auch Seile gegeben habe, zum Festhalten. Nein, die gab es nicht. „Und ich habe gedacht: Das ist wie mit dem Schreiben. Daß man ganz auf sich zurückgeworfen ist und seinem eigenen Geschmack vertrauen muß.“
Ein Mensch, der allein über ein Geröllfeld geht ...
Fast unwirklich, jedenfalls weit weg erscheint einem dieses Bild, während man jetzt im Garten sitzt, unter diesem unendlichen Blau; man braucht nur die Hand auszustrecken, um eine Brombeere zu pflücken. Der Kohlweißling hat sich verdoppelt und tänzelt über unsere Köpfe; aber nicht mal zwei von der Sorte gehen als Wolke durch. Nein, nichts wirft einen Schatten auf diesen Sonnentag. Kein Abgrund weit und breit.
Und was, wenn der Abgrund in uns selbst ist? Wenn man sich einen Weg bahnt, den noch keiner gegangen ist. Das Papier so weiß wie ein Schneefeld. Woran hält man sich dann fest?
Ob es ihr hilft, frage ich Helga Schubert, daß sie schon etliche Bücher geschrieben hat.
„Ja“, sagt sie, „das hilft sehr.“
Und dann kommt sie auf ihr neues Buch zu sprechen. Das heißt: ein Buch ist es noch nicht. Aber auch keine weiße Seite; ein paar Erzählungen gibt es schließlich schon.
Es geht um die Lebensgeschichten ihrer Großmütter Klärchen und Wilhelmine: mit allem, was daran hängt. Ein fast uferloser Stoff. Die Frage sei, wie sie sich beschränken soll. „Ich weiß ja nicht, wieviel Lebenszeit ich noch habe. Das kann mir ja keiner sagen, da gibt es keinen Haltegriff.“
Als junge Frau habe sie das gekonnt: sich beschränken. Sie habe mit kurzen Erzählungen begonnen. Später seien sie länger geworden. „Aber da wußte ich immer: mein ganzes Leben liegt noch vor mir, und alles, was ich noch nicht erzählt habe, das erzähl ich dann eben, wenn es soweit ist, daß ich es ambivalent finde.“
Das sei die Voraussetzung, daß sie über etwas schreiben könne: daß etwas nicht nur schwarz oder weiß sei, sondern daß sie darin Widersprüche entdecke. „Alles Schwarz-Weiße ist ein elektrisch geladener Zaun.“
Aber mit dem Beschränken, das werde mit zunehmendem Alter schwierig. Was sie gern noch erzählen würde, das könne sie nicht mehr in die Zukunft schieben. „Mit 84 ist meine Lebenszeit ja nun wirklich sehr begrenzt.“ Sie lacht. „Wilhelmine ist mit 81 gestorben.“
Ob sie sich sage: Diese oder jene Geschichte muß ich unbedingt noch schreiben? Und was sei mit den anderen, die sie noch nicht erzählt habe?
Sie überlegt nicht lange. „Das hört sich vielleicht merkwürdig an oder sehr selbstbewußt. Aber ich habe ein großes Vertrauen, daß die Geschichte, die als nächstes erzählt werden will, auch erzählt wird. Und dann bleibt eben eine andere auf dem Weg. Die war vielleicht nicht so wichtig.“
Diese Geschichte war ihr wichtig: „Der heutige Tag“, im letzten Jahr erschienen, erzählt von der Liebe zu ihrem Mann Johannes Helm, den sie zu Hause pflegt.
„Derden“ nennt sie ihn im Buch, was ausbuchstabiert heißt: Der, den ich so liebe. Man braucht nur die ersten Seiten zu lesen, um zu wissen: Das ist keine Floskel und auch kein im Überschwang hervorgesprudeltes Kosewort. Es steckt Lebenserfahrung darin und eine lange gemeinsame Geschichte.
Was es heißen kann, jemanden zu lieben: in guten wie in schlechten Zeiten, das erfährt man hier. Es kann heißen: Für den anderen da zu sein, statt ihn in ein Heim zu geben. Seine Würde zu achten und ihm in seiner Schwäche und Hilflosigkeit beizustehen.
Fast ein halbes Jahrhundert sind Helga Schubert und Johannes Helm verheiratet – und sie sagt über diese Zeit, daß sie „nichts“ vergessen hat; alles erscheine ihr „wie gerade erlebt“. Was für ein Kontrast zur Demenz ihres Mannes, der sie manchmal nicht erkennt und in Gedanken durch eine andere Wirklichkeit irrt. Ein Wanderer über ferne Geröllfelder.
An diesem Sommertag ist er ganz bei sich. Den Gast hat er freundlich begrüßt und ein paar Sätze mit ihm gewechselt. Jetzt sitzt er im Rollstuhl am gedeckten Tisch, ißt und trinkt und blinzelt zufrieden in die Sonne.
Wenn er etwas sagt, wendet sich Helga Schubert ihm zu, nimmt den Faden auf, fragt nach. Nur einmal, als ich mich nach etwas erkundige, fällt ihm die Antwort nicht ein. „Das habe ich vergessen“, sagt er. „Wissen Sie, ich habe viel vergessen. Ich bin ja auch schon 96 ...“ Er hält inne und legt ein paar Falten mehr auf. „Oder 97?“ Er lacht.
Und dann sind da diese Momente, wo er den Kopf hebt, die Augen zusammenkneift und Ausschau hält. „Wer ist das, da hinten, unter den Bäumen?“ Was meinst du, fragt Helga Schubert. „Da sind doch Menschen!“ sagt er und zeigt in Richtung Feld, wo vorhin der Traktor gebrummt hat. Sie folgt seinem Blick. Dann sagt sie: „Weißt du, ich sehe da niemanden.“ Und noch einmal, weil er darauf beharrt: „Ich sehe sie nicht.“
Ich habe gelernt, sagt sie später zu mir, daß man nicht sagen darf: Dort sind keine Menschen. Man soll sagen: Ich sehe die Menschen nicht. Es kann ja sein, daß er sie sieht. Und wenn ich ihm das abspreche, ist das eine Kränkung.
Es ist ein Geschenk, zu erleben, wie Helga Schubert mit ihrem Mann spricht: so liebevoll wie geduldig. Ich muß an Tschechows Erzählung denken und daran, was dem Kutscher Jona Potapow widerfuhr, dem der Sohn gestorben war. Wie keiner ihm zuhören wollte. Wie alle sein Leid abwehrten. Und da stelle ich mir vor, wie Helga Schubert zugestiegen wäre: in jener Winternacht, als er auf dem Kutschbock saß, verzweifelt und „ganz weiß, wie ein Gespenst“.
Die Kohlweißlinge sind wieder da: als wollten sie sich erkundigen, ob wir noch einen Wunsch haben. Es sieht nicht so aus. Johannes Helm macht ein Nickerchen, erwacht, hört eine Weile zu, schläft wieder ein. Helga Schubert schaut einer Wespe zu, die wie berauscht ein ausgetrunkenes Apfelsaftglas ergründet. Dabei erzählt sie mir von Klärchen und Wilhelmine.
Schon letztes Jahr, als ich ihr im bis zum letzten Stuhl gefüllten Hamburger Literaturhaus meine Fragen stellen durfte, hatte sie von ihnen gesprochen. Sie war ganz beschwingt, und ich spürte, wie eine große Vorfreude sie erfüllte. Sie schien es kaum erwarten zu können, als nächstes dieses Buch zu schreiben.
Jetzt wirkt sie nachdenklich. Die Suche nach der Form treibt sie um. In Hamburg hatte sie ihre Arbeit mit der eines Bildhauers verglichen. Ihre Erinnerungen seien der Lehm, aus dem sie ein Kunstwerk forme. „Es ist ein Irrtum zu denken, daß das Material bereits die Kunst ist. Das Material kann man auf vielfältige Weise verarbeiten.“
Noch weiß sie nicht wie. An diesem Nachmittag breitet sie verschiedene Möglichkeiten vor mir aus, erörtert die Anforderungen, die sie selbst an ihr Schreiben stellt. Immer wieder wägt sie ab, verwirft, denkt neu. „Die Idee habe ich jetzt gerade“, sagt sie einmal.
Aber es ist nicht nur die Form. Je länger sie erzählt, um so mehr begreife ich: Die Leben ihrer Großmütter sind nicht irgendein Stoff. Er ist verwoben mit ihrer eigenen Geschichte, und er schließt alle Arten von Empfindungen ein – die glücklichen wie die schmerzlichen. Kein Wunder, daß sie all das wieder und wieder durchdenkt.
Wie hatte sie in Hamburg gesagt? Das Schreiben sei ein Weg, etwas für sich selbst zu klären, das Erlebte und auch das als schlimm Empfundene zu verarbeiten.
Während sie spricht, steht mir das Bild des sommerlichen Gartens wieder vor Augen, der ihr als Kind ein Refugium war: mit seinen Äpfeln und Johannisbeeren, mit dem frisch gebackenen Streuselkuchen und der Hängematte. „Mein idealer Ort“ hat Helga Schubert die Geschichte genannt, in der sie davon erzählt. Diese Geschichte, die mit den Sätzen endet: „So konnte ich alle Kälte überleben. Jeden Tag. Bis heute.“
Jetzt erzählt sie mir, wie es weiterging: mit diesem Garten und der Großmutter, Wilhelmine, deren Fürsorge später umschlug in Mißgunst und Wut. Die versuchte, der Enkelin ihren Willen aufzuzwingen, als diese schon eine junge Frau war, die ihr Leben lebte, ihrer Wege ging.
Nach dem Tod ihrer Mutter fand Helga Schubert die Briefe, die Wilhelmine an diese schrieb: in forderndem Ton, ungehalten, ja böse. „Sie hat meine Mutter gegen mich aufgehetzt.“ Jahrelang schickte Wilhelmine diese Briefe, jeder fünf, sechs Seiten lang, in kleiner Schrift. Es war damals, als ihre Mutter zu ihr sagte: Wärst du doch gestorben auf der Flucht.
Der Widerspruch, von dem sie vorhin sprach: der Widerspruch, den es brauche, damit sie über etwas schreiben könne – hier ist er. Da der paradiesische Garten, die Geborgenheit; dort die alte Frau: ihre Erbitterung, ihre Wut.
Helga Schubert blickt vor sich hin: „Fast achtzig Jahre habe ich gedacht: Dieser Garten in Greifswald, der war immer meine Oase. Und das habe ich beschrieben in dieser Geschichte.“
Sie hält inne. „Aber der Garten bleibt ja. Obwohl ich weiß, wie es weiterging, bleibt er. Das ist ja wichtig im Leben: daß man etwas bejahen kann, auch so wie man es früher gesehen hat. Es war ja trotzdem nicht anders. Und es war existenziell.“
Im nächsten Augenblick wendet sie sich ihrem Mann zu. „Jetzt habe ich ganz kalte Hände“, sagt sie. Sie beugt sich zu seinem Rollstuhl hinüber und legt ihre Hände in seine. Die Kohlweißlinge und ich schauen zu, wie die Hände einander fassen und zärtlich streicheln.
Und mir fällt die Stelle in Helga Schuberts letztem Buch ein: „Das ist übrig nach unseren Jahrzehnten, dachte ich: Hände, die sich aneinander wärmen. Ich gab ihm unter der Decke die Hand und drückte sie. Und er drückte meine Hand. Wie ein Versprechen.“
„Sie waren noch nicht in der Galerie?“ fragt Helga Schubert erstaunt, und ich sage: „Nein, leider. Beim letzten Mal flog uns ja die Zeit davon. Aber heute würde ich sie mir gern anschauen.“
Kurz darauf stehen wir vor dem kleinen Gebäude, in dem sich der überwiegende Teil von Johannes Helms malerischem Werk befindet. Nach einem langen Berufsleben als Psychologe und Universitätsprofessor in Berlin hatte er beschlossen, sich ganz der Malerei zu widmen. Seither entstanden weit über tausend Gemälde, die er in seiner eigenen Galerie ausstellte.
Während Helga Schubert die Tür aufschließt, erzählt sie mir von den „Bilderwechseln“, zu denen sie viele Jahre lang einluden. Manchmal kamen vierzig Leute, einmal sogar siebzig. Und jedesmal las Helga Schubert eine Geschichte, die sie, wenn alle Bilder ihren Platz gefunden hatten, in der Nacht zuvor geschrieben hatte. Zwei Dutzend dieser Geschichten standen dann in dem Erzählungsband „Vom Aufstehen“.
Gleich an der ersten Wand entdecke ich ein mir bekanntes Selbstporträt. Der Maler vor grünem Abendhimmel: im gestreiften Unterhemd, mit zerknautschter Mütze und nachdenklichem Blick. Es ist mir in dem Band „Malgründe“ begegnet, der nicht nur Bilder von Johannes Helm enthält, sondern auch seine Gedanken und Geschichten zu diesen Bildern.
Weil er bereits 1978 erschien, sind mir viele Gemälde neu. Die späteren Selbstporträts, natürlich, aber auch die mecklenburgischen Landschaften mit den gewaltigen Wolken, die Bauernhöfe, der Leuchtturm vor dem wogenden Meer. Auch religiöse Motive gibt es und manches rätselhafte Arrangement, in das man sich stundenlang vertiefen könnte.
Bilder, wohin das Auge reicht. Die Wände sind voll davon, und was keinen Platz mehr fand, lehnt Leinwand an Leinwand in großen Regalen im Nebenraum. Das Klavier steht davor; darauf die beiden Bronze-Abgüsse von Ernst Barlach, die ich aus der Erzählung kenne, die Helga Schubert damals hier im Garten las. Wir schieben es zur Seite, damit der Rollstuhl zwischen Klavier und Wand hindurchpaßt.
Schweigend sitzt Johannes Helm zwischen seinen Bildern. Ein Gemälde nach dem anderen zieht er aus dem Regal und betrachtet es eine Weile: erst die Vorderseite, schließlich den Rahmen, auf dem das Entstehungsjahr notiert ist. Dann schiebt er es ins Regal zurück.
Durch das Fenster fällt warm und golden das Sonnenlicht, läßt die Farben glänzen, die Brillengläser des Malers, den Ring an Helga Schuberts Hand.
Der Nachmittag neigt sich dem Ende zu. Es wird Zeit, daß ich mich wieder auf den Weg mache.
Als ich das Tablett mit den Gläsern und Tellern vom Garten ins Haus balanciere, fällt mir ein orangefarbener Jutebeutel ins Auge: „Erinnerung als Auftrag“ steht darauf. Wie gut er zu Helga Schubert paßt! Zu ihrem Buch „Die Welt da drinnen“ über die 1941 als „lebensunwert“ ermordeten Patienten der Schweriner Nervenklinik. Zu ihrem Interesse an den Mechanismen der Diktatur. Zu ihrem Eintreten für die offene Gesellschaft.
Es ist ein Auftrag, der aus den Erfahrungen eines langen Lebens erwächst. Einer der berührendsten Sätze in ihrer Erzählung „Vom Aufstehen“ wendet sich an ihre kriegstraumatisierte Mutter. Mit ihrer Unfähigkeit, das eigene Kind zu lieben, hatte diese ihrer Tochter einst einen Rucksack voller Steine aufgeladen. Dafür gab sie ihr etwas anderes mit auf den Weg.
„Ich danke dir“, schreibt Helga Schubert, „daß du mir von klein an so viel von 1933 erzählt hast, wie alles kippte, von euerm Geschichtslehrer, der im Unterricht plötzlich sein Jackett auszog, und darunter war das Braunhemd, von eurem Erschrecken, weil deine Freundin doch eine Jüdin war.“
Da sind die Geschichten ihrer Großmütter Klärchen und Wilhelmine: Geschichten von Krieg und Flucht und vom Überleben in einem verbrecherischen Regime. Bald ein halbes Jahrhundert später sind sie noch immer da und warten darauf, aufgeschrieben zu werden.
Und dann sind da ihre eigenen Erfahrungen als Schriftstellerin in der DDR, der 1981 die Druckgenehmigung für ihren Erzählband „Das verbotene Zimmer“ verweigert wurde. „Was Sie über unsere Partei schreiben“, erklärte man ihr, „ist wie ausgekotzt. Hören Sie auf zu schreiben! Das ist Analphabetismus.“
All das schwingt immer mit, wenn Helga Schubert erzählt: auf den Seiten eines Buches oder in ihrem Garten in Mecklenburg – mag der Sommertag auch noch so heiter sein mit seinem wolkenlosen Blau, den Sonnenflecken, dem Tanz der Kohlweißlinge.
Johannes Helm ist zurück aus der Welt der Bilder. Ich erzähle ihm, daß man sein Buch „Malgründe“ antiquarisch nur schwer bekommt und wie ich es in Lüneburg als Fernleihe bestellen wollte und die Bibliothekarin zu mir sagte: „Das brauchen Sie nicht! Das habe ich zu Hause. Bring ich Ihnen morgen mit.“
Dann frage ich ihn nach den Büchern seiner Frau. Selber lesen, sagt er, könne er ja nicht mehr. Aber sie habe sie ihm vorgelesen.
Und was sagt er dazu?
„Na, wenn es um mich geht, werde ich ...“ Einen Augenblick sucht er nach dem Wort. Als er es hat, lacht er: „... spitzohrig.“
Hat er auch mal Einwände?
„Nein, nein.“ Er winkt ab. Die habe er nicht.
Kurz darauf stößt Helga Schubert zu uns. „Komm, Hannes!“ sagt sie. „Wir begleiten Herrn Deckert noch ein Stück.“ Gemeinsam laufen wir die Straße vor, an dessen Ende das Ruftaxi schon wartet. Johannes Helm im Rollstuhl blinzelt in die Spätnachmittagssonne.
Der Fahrer ist ein anderer als am Vormittag, nicht der mit Fuchs und Hase. Aber auch er kennt Helga Schubert, hat sie schon ein paarmal gefahren. „Ihren Mann auch“, sagt er, und mehr sagt er nicht, während er über die Dörfer fährt, vorbei an einem Feld mit verblühten Sonnenblumen, bis zu dem Wartehäuschen, wo der Bus nach Schwerin hält.
Aber als wir losfahren in Neu-Meteln und Helga Schubert winkt und ich winke, da winkt auch er.
Eine Geschichte wie diese schreibt sich nicht von allein. Um so dankbarer bin ich allen, die mit einer Mitgliedschaft meine freiberufliche Arbeit an „Wolken und Kastanien“ ermöglichen. Das geht schon zum Preis einer Tasse Kaffee im Monat. Wollen auch Sie Unterstützer(in) werden? Das geht hier:
Schon 1531 Leserinnen und Leser haben „Wolken und Kastanien“ abonniert. Wenn auch Sie meine Geschichten erhalten möchten, tragen Sie sich gern hier ein: