"Die Dinge lagen nicht schon immer so wie heute. Und deswegen müssen sie auch nicht immer so bleiben." - Ein Gespräch mit dem Historiker Benno Gammerl
Mit Queer: Eine Deutsche Geschichte vom Kaisserreich bis Heute legt der Historiker Benno Gammerl das erste populäre Sachbuch vor, das einen Überblick über die Geschichte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans* und Inter*personen in Deutschland vom späten neunzehnten Jahrhundert bis in die Gegenwart gibt.
Vor zwei Jahren veröffentlichte er mit anders fühlen bereits die erste Emotionsgeschichte schwulen und lesbischen Lebens in der Bundesrepublik. Benno Gammerl lehrt und forscht als Professor für Gender- und Sexualitätengeschichte am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz.
Zur Veröffentlichung von Queer haben wir ihn interviewt.
1. Sie schreiben im Buch unter anderem auch über queere Zeitläufe, die bei Geschichtsschreibungen zentral sind. Es geht nicht um ein klassisches, chronologisches Fortschrittsnarrativ. Zudem gibt es in den Queer Studies die Idee einer queeren Zeitlichkeit (bspw. bei Jack Halberstam), die unter anderem losgelöst von der Reproduktion ist. Müssen wir Zeit anders verstehen, um queere Geschichte erzählen/erfassen zu können?
Das ist eine große Frage. Mein Buch präsentiert kein lineares Fortschrittsnarrativ, aber der Übersichtlichkeit halber geht es doch chronologisch vor. Ich würde auch nicht sagen, dass queere Zeitlichkeit losgelöst ist von der Reproduktion. In diesem Punkt bin ich anderer Meinung als Lee Edelman, der in seinem Buch „No Future“ argumentiert, dass die Zukünftigkeit, die im heteronormativen Kontext mit der Figur des Kindes verbunden sei, das queeren Wünschen nicht bestimme. Edelman spricht dann vom Todestrieb und solchen Sachen. Ich finde den dagegen erhobenen Einwand überzeugend, dass eine solche Umkehr der zukunftsorientierten Zeitlichkeit unter anderem aus einer Queer of Colour Perspektive keinen Sinn ergibt. Da geht es zuerst ums Überleben, und nicht ums Sterben-Wollen.
Außerdem gab und gibt es ja auch im queeren Kontext Generationen von Aktivist*innen, die sich miteinander verbinden, Erfahrungen austauschen und weitergeben. Deswegen finde ich das Konzept von queer kinship, so wie es unter anderen Jennifer Evans diskutiert, sehr spannend. Queere Verwandtschaft würde das im Deutschen wohl heißen. Queere Zeitlichkeit wäre dann nicht das Gegenteil einer heteronormativ-reproduktiven Zeitlichkeit, sondern sie würde mit Differenzen und Abweichungen ein anderes, sozusagen quer und daneben liegendes temporales Verlaufen und Verspringen ermöglichen.
Carolyn Dinshaws Konzept des queer touch across time, der queeren Berührung über zeitliche Abstände hinweg, halte ich deswegen im historischen Sinn für produktiver als die Ansätze von Edelman oder Halberstam. Etwas in diese Richtung habe ich im Buch versucht. Da schieben sich Zeitebenen übereinander: Die Verfolgung von gleichgeschlechtlich begehrenden und gender-nonkonformen Menschen im Nationalsozialismus erscheint im Licht der seit den 1980er Jahren entwickelten Praktiken des Gedenkens und der jüngsten Konflikte darüber, an wen wie erinnert werden sollte.
Und dieser Streit verknüpft sich wiederum mit der in den Nachkriegsjahren in West wie Ost verweigerten Anerkennung von LSBTI* Personen als Opfer des Nationalsozialismus. So kann die queere Geschichte die gängige Vorstellung von Zeit als geregeltem Vergehen produktiv verwirren.
2. Queeres Leben und Kultur hinterlassen oft nur flüchtige Spuren, auch weil sie mitunter im Verborgenen stattfinden und / oder von offiziellen Institutionen wie Archiven und Museen selten gesammelt werden. Vor welche Herausforderungen stellt dies eine queere Geschichtsschreibung?
Ja, da haben lesbische, schwule und queere Historiker*innen seit den 1970er Jahren viel Recherche- und Sammelarbeit geleistet, Archive aufgebaut, ein Forschungsfeld entwickelt. Heute gibt es Bestände, auf die man zurückgreifen kann. Es gibt Initiativen wie das Netzwerk Museen Queeren Berlin, QueerSearch, den Dachverband deutschsprachiger queerer Archive, Bibliotheken und Sammlungen, oder das DFG-Netzwerk Queere Zeitgeschichten im deutschsprachigen Europa. Kein Vergleich zur Situation von 50 Jahren.
Trotzdem bleibt es schwierig, gerade den Aspekten queeren Lebens nachzuspüren, die sich bewusst im Unauffälligen oder im Halbdunkel bewegten. Die Oral History bietet da spannende Möglichkeiten, also das Gespräch mit Menschen, die beispielsweise die 1950er oder die 1970er Jahre durchlebt haben. Oder die Taktiken der critical fabulation, also der kritischen Spekulation, die Saidiya Hartman vorschlägt, um Geschichten wieder zu finden, die die offiziellen Institutionen der Erinnerung übergangen haben und verschwinden ließen.
3. Ihr vorheriges Buch war eine Emotionsgeschichte. Ist für die Beschreibung und Erfassung queerer Geschichte ein stärkerer Blick auf Affekte und Emotionen notwendig?
Für jede gute Geschichte ist es notwendig, oder zumindest hilfreich, Gefühle in den Blick zu nehmen. Wut, Angst und so weiter machen Geschichte und haben eine Geschichte, auch jenseits des Queeren. Das Fühlen bewegt sich in den Grenzbereichen zwischen dem Körperlichen und dem Gesellschaftlichen, zwischen Natur und Kultur. Die Emotionen folgen ein Stück weit den sprachlichen Mustern, die uns zur Verfügung stehen, um sie auszudrücken. Aber gleichzeitig fordern sie unser Vokabular, unser Begreifen immer wieder heraus.
Gerade gleichgeschlechtlich begehrende Menschen erzählen oft davon, dass sie als junge Menschen etwas empfanden, das sie selbst nicht verstehen konnten. Generell können wir unser eigenes Fühlen meist nicht komplett begreifen. Diese Einsicht hilft auch bei der Verabschiedung von der klassisch modernen Vorstellung vom souveränen Subjekt, das sich selbst durchschauen kann. Wir sind nie souverän gewesen, könnte man sagen. Und das hat mit den bio-kulturellen Phänomenen zu tun, die unser Leben prägen.
Dazu gehört neben den Gefühlen auch die Sexualität. Die Beschäftigung mit dem Gefühlsleben von Schwulen und Lesben in der Bunderepublik hat mir zudem gezeigt, wie wichtig Ambivalenzen, zwiespältige Gefühlslagen für die queere Geschichte und Gegenwart sind. Ebenso wenig wie früher alles nur dunkles Leid war, löst sich heutzutage alles in sonnendurchstrahltem Wohlgefallen auf.
4. Sie beginnen ihr Buch mit der Zeit des Deutschen Kaiserreichs, als die erste Homosexuellenbewegung entstanden ist und dementsprechend auch ein Verständnis von einer kollektiven Identität, die Sexualität und Geschlecht in ihr Zentrum stellt. Denken Sie, es ist möglich, eine queere deutsche Geschichte vor diesen Ereignissen zu rekonstruieren?
Aber unbedingt. Es gibt großartige queere Geschichten zur frühen Neuzeit, zum Mittelalter oder zur Antike. Die Mittelalterhistorikerin Carolyn Dinshaw habe ich schon erwähnt. Da bewegt man sich dann jenseits der Unterscheidung von Hetero- und Homosexualität. Aber es gab trotzdem Frauen, die mit Frauen schliefen, Männer, die weibliche Kleidung trugen, Hermaphroditen und andere Menschen, die wir heute als queer bezeichnen würden.
Und die Kategorien und Konzepte, die damals verwandt wurden, um diese Phänomene zu begreifen, waren ganz andere als die heutigen. Die übrigens auch andere sind als die, die in den 1970er oder den 1920er Jahren gängig waren. Queere Geschichten, die weiter zurückblicken, zeigen, dass ganz andere Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität möglich und denkbar sind. Das ist der historische Optimismus: Die Dinge lagen nicht schon immer so wie heute. Und deswegen müssen sie auch nicht immer so bleiben.
5. Gibt es queere deutsche Literatur, die Ihrer Meinung nach integraler Bestandteil der deutschen queeren Geschichte ist?
Klar gibt es die. Einiges wird im Buch ja auch erwähnt. Anna Elisabet Weirauchs Romantrilogie Der Skorpion zum Beispiel, ganz entscheidend für das Selbstverständnis frauenliebender Frauen, die sich in den Weimarer Jahren mitunter als Skorpiongeborene bezeichneten. Oder Klaus Manns Der fromme Tanz (1925) und Stefan Zweigs Verwirrung der Gefühle (1927). John Henry Mackays Der Puppenjunge (1926), ebenfalls aus den 1920er Jahren, ein Roman über die Liebe zwischen einem jungen Mann und einem Sexarbeiter, gehört nicht zum gängigen Kanon, aber fand in seiner Zeit ein großes Publikum.
Nach 1945 schrieben Rolf Italiaander und Hanns Henny Jahnn wichtige Bücher, dann ab den 1970er Jahren Hubert Fichte und Verena Stefan, oder Ralf König. Das ist natürlich nur ein kleiner Ausschnitt. Oft waren queere Literaturen im Populären angesiedelt, kamen als Broschüren oder Groschenhefte heraus, wie die sogenannte Lesbian Pulps der 1950er Jahre. Vieles davon ist heute kaum mehr bekannt und es würde sich in jedem Fall lohnen, da weiter zu suchen und nachzulesen.
Vielen gleichgeschlechtlich begehrenden und gender-nonkonformen Menschen boten solche Lektüren Spielfelder der Vorstellungskraft, auf denen sie andere Selbstentwürfe und Praktiken des Intimen erproben konnten. Literaturen eröffneten Möglichkeitsräume und sie tun das auch heute noch.