Die Sherlock-Strategie
Eine ernste Jahreszeit/ Daniel Mendelsohn/Smartphone und "Jungle Monkey"/ Chorba für die Seele
Man kann reisen, aber Züge und Bahnhöfe sind leerer als einst und so still.. Abends ist kaum jemand auf den Straßen. Kneipen und Restaurants sind teils geschlossen, teils kaum besucht. Zur tobenden Pandemie – die kaum noch anhand von Inzidenzen, Strategien oder Impfstoffen diskutiert wird, sondern nur noch mit der Frage "Hattet ihr es schon oder noch nicht?" – gesellt sich der Anstieg der Inflation und die Drohung eines Krieges in Europa. Und all das in der ohnehin schon zähesten Saison, in der die Feste zum Jahresende vorüber, jene des Frühlings aber noch weit weg sind.
Um gut durch solche Zeiten zu kommen, nehme ich mir ein Vorbild an Sherlock Holmes: Der Detektiv aus Arthur Conan Doyles Geschichten verbringt seine Tage, manchmal Nächte unterwegs, in Verkleidung, um zu ermitteln und die Wahrheit zu suchen. Und dann macht er wieder Pausen: Bleibt zu Hause, macht Musik, liest und genießt die Wirkung von Opiaten. (Drogen sind und waren nie was für mich, aber mein einstiger Chef Roger Willemsen geriet in heftigstes Schwärmen, wenn er davon erzählte, wie er einmal Opium rauchen durfte. Aber unsere Supermärkte halten mit Kaffee, Schokolade und Bordeaux ja gute, legale und billigere Alternativen bereit.) Die Sherlock-Mischung aus Rausgehen, Reisen und Rausfinden, dann wieder drin bleiben und darüber nachdenken, in dem man etwas ganz anderes oder schlicht gar nichts macht, funktioniert in solchen angespannten Jahreszeiten für mich gut.
Es hilft auch, sich mit anderen Themen zu befassen als jenen, die gerade in den Nachrichten sind. Die Älteren erinnern sich vielleicht noch an letztes und vorletztes Jahr, als uns sogenannte Identitätsdebatten beschäftigten. Es lief daraus hinaus, dass Emanzipationsbewegungen – zum Beispiel von Schwulen und Lesben und FeministInnen – die Schuld am Zerfall der Linken zugeschrieben wurde. Ich persönlich habe das nicht feststellen können. Ich habe zwar in diversen Redaktionen schon viele unendlich lange reaktionäre Monologe gehört, aber nie einen Hauch von tyrannischer politischer Korrektheit verspürt, auch nie einen SPD-Gebietsfunktionär getroffen, dem Wokeness über alles geht.
Wer aber mehr über das Thema erfahren möchte, sollte zu einem Buch greifen, das schon viele Jahre alt ist, aber jetzt erst und damit zum idealen Zeitpunkt auf Deutsch erscheint: "Flüchtige Umarmung" von Daniel Mendelsohn.
https://www.penguinrandomhouse.de/Buch/Fluechtige-Umarmung/Daniel-Mendelsohn/Siedler/e473148.rhd (Opens in a new window)Der amerikanische Philologe schaut sich da - in einer Zeit vor dem Internet- das Wesen dieses Wortes genau an: "Idem et idem" - die Verdopplung des Gleichen ist die Identität. Er verbindet diese Reise durch klassische römische und griechische Texte mit seiner persönlichen Geschichte als schwuler Intellektueller im New York der neunziger Jahre, der zugleich Ziehvater eines Kindes ist. Identität, so das Fazit, ist immer zusammengesetzt, verdoppelt und auch flüchtig. Gerade wer sie am meisten bezweifelt, verstärkt sie und vice versa. Eine Identitätspolitik, mit der man Interessen, Erfahrungen und Erwartungen äußert und verhandelt, ist immer schon Wesenskern der bürgerlichen Öffentlichkeit.
Wer Kinder im Smartphonealter hat, kennt den Impuls, sie hin und wieder von dem Gerät abzuziehen. Ich klinge dann wie die Erwachsenen meiner Kindheit, die mahnten, nicht so viel brutales Fernsehen zu schauen und damit meinten sie die Cartoon-Serie vom "Rosaroten Panther".
Die Virtuosität der Kinder im Umgang mit Spielen und anderen Apps ist allerdings bewundernswert. Manchmal muss ich dann an Paul McCartney denken, der in Interviews gern erzählt, wie ihn sein wohlmeinender Vater ermahnte, nicht dauernd mit diesem John Lennon in der Bude zu hocken und auch mal an etwas anderes zu denken, als an die Musik. Kulturgeschichtliche Erziehungstipps – eine Marktlücke auf dem Büchermarkt.
Aber frische Luft muss gerade in Coronatimes sein und für Mädchen und Jungs im Teenageralter hilft da etwas Equipment. Zufällig entdeckte ich die Sachen von "Jungle Monkey", einer deutschen Minifirma aus Gütersloh (zu der ich full disclosure gar keinen Bezug habe, bin bloß Kunde). Das Taschenmesser ist für den Preis wirklich gut und die - geniale Idee - Magnetangel sorgt für große Begeisterung. Falls also mal ein Geburtstag ansteht:
https://www.junglemonkey.de (Opens in a new window)Die französische Schauspielerin und Autorin Stéphanie Schwartzbrod beschäftigt sich mit Gerichten und Rezepten, die an den Feiertagen der monotheistischen Religionen wichtig sind. Sie schrieb ein Buch zu diesem Thema und machte daraus auch ein Bühnenprogramm: "Salé sucré salé". Im Laufe des Abends bereitet sie auf der Bühne eine Suppe zu, die das Publikum im Anschluss essen darf. Es ist eine Chorba, eine dicke Kichererbsensuppe mit Hammelfleisch, mit der in der Zeit des Ramadans bei Muslimen das Fastenbrechen beginnt.
Tut aber auch Ungläubigen wie mir in dieser Jahreszeit gut. Bei "Le Monde" verrät sie ihr Rezept:
https://www.lemonde.fr/le-monde-passe-a-table/article/2022/01/20/stephanie-schwartzbrod-cuisiniere-j-ai-prepare-la-chorba-tant-de-fois-que-je-peux-la-faire-les-yeux-fermes_6110295_6082232.html (Opens in a new window)PS: In den letzten Wochen kam es zu Problemen bei der Zustellung dieses Newsletters an Mailadressen aus dem Apple-Kosmos. Das sollte aber unterdessen behoben sein. Vielen Dank für die vielen Rückmeldungen und die Geduld!
PPS: In der vorvorigen Ausgabe habe ich meinem Nachbarn und Spaziergängerkollegen Michael Hüther einen neuen Arbeitgeber verpasst. War ein Fehler: Herr Hüther ist bekanntlich beim Institut der deutschen Wirtschaft und nicht woanders.
Kopf hoch,
ihr
Nils Minkmar