Das Fest und die Geister
Viel zu tun/Büscher “Der Weg”/Serie “Die Mafia mordet nur im Sommer”/Weihnachtsmenüs
Die Mehrheit der Französinnen und Franzosen glaubt nicht an Gott, das ist ein weltweiter Spitzenwert. In meiner französischen Familie war der Atheismus Programm. Weihnachten bestand aus einer langen Reihe gebratener Vögel, begleitet vom Sound endloser Diskussionen über Politik. Noch heute kenne ich alle Positionen auswendig und stelle mir vor, was sie zu Mélenchon (Spinner, aber immerhin ein linker Spinner) , Macron (der Einfluss seiner konservativen Frau wird ihm zum Verhängnis) und Bayrou (Immerhin Lehrer, aber nun in der falschen Branche) sagen würden. Mein Großvater würde wochenlang argumentativ davon zehren, dass Elon Musk die AfD unterstützt – die verräterische Allianz von Kapital und Faschismus war sein Lebensthema. Die Nachmittage wurden im Kino verbracht.
In späteren Jahren feierte ich bei meiner vom Geist der Achtundsechziger inspirierten Mutter. Sie lud dann eine muntere Schar verlorener Seelen zum Essen ein, die sonst nirgends willkommen waren. Ein Weihnachtsgast erschien im Anzug mit Krawatte und schilderte lang und breit sein Habilitationsverfahren. Machte sich über all jene lustig, die nach der Promotion aufgegeben haben. Später verriet mir meine Mutter, dass er nicht mal Abi hat. Für ihre Gäste hatte sie noch extra eingekauft, damit deren Kühlschrank nicht leer bleibt über die vielen Feiertage. Bei der Verabschiedung dieser Weihnachtsmänner und -frauen flüsterte sie mir zu “Attends, je lui donne sa Tüte”.
In vielen deutschen Familien lastet ein gewisser Ernst, um nicht zu sagen eine Schwere über Weihnachten. Wenn ich als Kind oder als Student mal irgendwo eingeladen war, standen zwischen der adventlichen Deko die Fotos uniformierter junger Männer im Wandschrank oder neben dem Fernseher. Die Weihnachtstage waren eine Gelegenheit, um die Toten zu trauern. Auch um jene, die vielleicht glühende Nazis waren. So manifestierte sich die von Alexander und Margarete Mitscherlich beschriebene Unfähigkeit zu Trauern. Über diesen Umgang wird heute leichtfertig geurteilt, weil so wenig über Krieg und Massenmord an den Juden geredet wurde. Heute frage ich mich eher, ob man die Wahrheit ausgehalten hätte. Wenn man jüngst edierte Zeugenaussagen aus den Vierzigern nachliest, dreht sich einem der Magen um. Noch die schonungslose Darstellung von Krieg und Schoah in Bild oder Literatur ist verglichen mit der Realität dieses Grauens ein harmloser Cartoon.
Vor einem Jahr kam es dann zu den größten Demonstrationen der bundesdeutschen Geschichte. Millionen gingen auf die Straße, um gegen die Deportationspläne der AfD zu protestieren. Es waren Demonstrationen aus dem Geist alter Fotoalben und von Weihnachtsfesten, die eigentlich Trauertage sind.
An diesem Weihnachtsfest, leugnen nutzt nix, ist die radikale Rechte so stark wie noch nie seit 1945. Dabei ist die Weihnachtsgeschichte das perfekte Narrativ gegen Fremdenhass, Tyrannei und Diskriminierung. An diesen Tagen feiern alle die Geburt eines palästinensischen Juden, dessen Eltern mittellos umherziehen. Danach geht wieder das Rennen darum los, wer am gnadenlosesten abschiebt und Migranten öffentlich wirkungsvoll drangsaliert.
Macron und Scholz hängen – selbst verschuldet – in den politischen Seilen. Trump, Putin, Musk und Co können vor Kraft kaum laufen. Aber so ein Zenith hat eine Eigenschaft: Er ist schnell überschritten. Vielleicht sind die Zeiten vorbei, in denen man Politik im Fernsehen genießen konnte, wie eine Sportübertragung. Es gibt viele Felder, auf denen man die demokratische Arbeit beginnen kann. Wenn die offene Gesellschaft und das vereinte Europa noch für die kommenden Generationen da sein sollen, muss mehr geschehen, um diese Erbschaft zu verteidigen: Regulierung der digitalen Öffentlichkeit, wirksamere Sanktionen gegen Russland und eine Europäisierung der Medien gehören dazu. Aber auch, glaube ich, eine Reform des Mietrechts und des Wohnungsmarkts. Man kann sehr viel tun.
Und seit gestern werden die Tage wieder länger.
Ich begebe mich nicht so gern auf Reisen, außer eben nach Frankreich. Wenn ich mal unterwegs bin, gefällt es mir, aber es muss schon viel zusammenkommen, damit ich eine Fernreise unternehme. Darum schätze ich die Bücher von Wolfgang Büscher. Ich folge ihm auf seinen Touren durch die weite und enge Welt. Er bemüht sich um einen reduzierten Stil und betrachtet Land und Leute mit einem Blick für Nebensächlichkeiten und Eigenarten. Ich erinnere mich an viele seiner Bücher so, als wäre ich selbst gefahren. Dabei lässt er die sogenannten großen Themen unserer Zeit mehr oder weniger links liegen. Dennoch schwingen jede Menge Thesen und Fragen mit, wenn Büscher ein Land besucht und beschreibt. Aber seine Gedanken überlagern eben nicht die Beschreibung, alles wird kunstvoll miteinander verwoben. Sein neues Buch führt nach Afrika und ist schon jetzt ein Highlight 2025, Erscheinungsdatum ist der 9.Januar.
Es scheint unmöglich, über den Terror der Mafia im Sizilien der späten siebziger Jahre eine lustige Serie zu produzieren, doch ist es hier gelungen. Aus Kinderperspektive wird der Alltag einer ziemlich normalen Familie in einer verrückten Zeit geschildert. Für alle, die das italienische Kino vermissen, ist die Serie eine gute Fortsetzung der großen Tradition. Bewundernswert, wenn die Kultur eines Landes die Probleme und Sünden der Vergangenheit in solch einer vollendeten Form verarbeiten kann. Kann man übrigens auch gut en famille ansehen…
https://www.arte.tv/de/videos/120406-001-A/die-mafia-mordet-nur-im-sommer-1-12/ (Opens in a new window)Vieles ist einfacher geworden in der Welt. In Frankreich zahle ich Steuern zB per App und QR-Code, dann folgt eine höfliche Dankesmail des Fiskus.
Was nicht einfacher, sondern höllisch komplex geworden ist: Kochen an Weihnachten. Das sind die Küchentage, an denen ich den Oktopus und seine acht Arme beneide. Unser Freund Vinzent Klink hat natürlich auch dieses problem behandelt und gelöst:
https://www.wielandshoehe.de/2024/12/14/was-kochen-wir-an-weihnachten/ (Opens in a new window)Stabil vegetarisch und ambitioniert sind die Vorschläge meines saarländischen Landsmanns Herr Grün:
https://www.herrgruenkocht.de/das-3-gaenge-weihnachtsmenue-2024-von-herrn-gruen/ (Opens in a new window)Eine Reise durch die Weihnachtsküchenwelt mit einem meiner liebsten Briten, Nigel Slater, gibt es hier (Die Sache mit Jeanne d’Arc vergessen wir mal kurz.)
https://www.dailymotion.com/video/x76h5r0 (Opens in a new window)Eben wurde der Tod der großen Maité vermeldet – was für ein Leben! Hier ihre Vorschläge für ein amtliches Festessen im Stil der alten Gascogne. Nicht übertrieben viel Gemüse, aber herrlich!
https://www.youtube.com/watch?v=at3AMgpWEOk&t=141s (Opens in a new window)Kopf hoch,
ihr
Nils Minkmar
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