Nostalgie nach der Zukunft
Nachmittage mit Otto/En Fanfare/ Doku Vertrauensfrage/Andrea Maurers Buch über den BSW/Gemüse ist das neue Fleisch/ Emmanuel Renaut
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Manchmal hänge ich im Park in der Nähe ab und bringe, wenn Menschen vor dem Denkmal stehen blieben, das Gespräch auf Otto von Bismarck. Die meisten Passanten wissen von der Reichseinigung, einige kennen noch das allgemeine Wahlrecht – aber die Sozialistengesetze oder gar die Berliner Kongokonferenz von 1884 und 1885 sind vergessen. Auch, dass er schlechte Nerven hatte und gerne mal in Tränen ausbrach – das Standbild drückt ja nicht ohne Grund das Gegenteil aus. Mann aus Eisen, ha ha.
Jedenfalls hält das Studium seines Lebens und Wirkens einige Warnungen für uns bereit. Das Kaiserreich war eine diverse, lebendige und fortschrittliche Gesellschaft. Kunst und Wissenschaft blühen, die Bevölkerung ist wach und politisiert, die großen Emanzipationsbewegungen der Arbeiter, der Frauen und der Homosexuellen beispielsweise, sie sind schon alle da. Aber Bismarck und seine Förderer in Adel, ostelbischem Grundbesitz und Industrie entkoppeln diese soziale und kulturelle Dynamik von der politischen Entwicklung. Während es in vielen Bereichen schwindelerregend rasch vorwärts geht, herrscht im Reich jener Untertanengeist, den Heinrich Mann so treffend beschrieben hat. Bismarck gelingt es, die Weichen der Politik gegen die Interessen der Mehrheit zu stellen und Deutschland auf harten rechten Kurs zu bringen. Erst 1945 ist, dank der Aliierten und nach Millionen von Opfern, Schluss damit.
In diesem, dem deprimierendsten Bundestagswahlkampf aller Zeiten, erinnert viel an diese Disparität. Im Alltag und auf unserem Smartphone freuen wir uns über Programme und content aus der ganzen weiten Welt, aber in den Nachrichtensendungen am Abend wird gezeigt, wie Bayern die Grenze zu Österreich absichert. Franken sollte die Grenzen zu Alt-Bayern dicht machen, dann wäre restlos alles klar. Ich warte täglich darauf, dass erst ein irrer AfD ler und bald darauf auch einer aus der Union die Rückkehr von Elsass-Lothringen nach Deutschland fordert. Lange empfand ich die postmoderne Zivilgesellschaft, die internationale Verflechtung der Wirtschaft und das ausgeprägte private Freiheitsstreben als Sicherheit für den demokratischen Kredit der Gesellschaft: Die Leute flippen ja schon aus, wenn es in der Kantine das falsche Brot gibt, wie sollten sie es dann hinnehmen, dass Sozialstaat und Freizügigkeit eingeschränkt werden? Aber Bismarcks Trick – das Versprechen auf Wohlstand für das obere Bürgertum und die Illusion von Ruhe und Sicherheit – könnte immer noch funktionieren. Es geht schnell. Trump ist drei Wochen im Amt, schon berichtet die amerikanische Nachbarin entgeistert, dass in der Schule der hiesigen Base der US-Army kein Black History Month mehr auf dem Lehrplan steht.
Ich mochte Wahlkämpfe, in denen auch konservative Politiker weit in die Zukunft blicken. An unsere Uni kam mal Otto Graf Lambsdorff. Er hatte keine Furcht vor linken Studentinnen und Studenten und trotz seines fortgeschrittenen Alters freute er sich auf die Zukunft, für uns. (Er war übrigens ein großer Verehrer von Roger Willemsen, was Roger selbst mit gemischten Gefühlen aufnahm, als Lambsdorff es ihm gestand.) Helmut Kohl, Richard von Weizsäcker oder Kurt Biedenkopf: Sie waren nicht links und nicht woke, aber fest davon überzeugt, dass die Zukunft besser wird. Sie schwärmten von Europa, von neuen Technologien und wenn sie über Sozialisten und Kommunisten schimpften, dann nahm diese Polemik nicht die ganze Redezeit ein. Sie verzettelten sich nicht im Kulturkampf, sondern vertrauten auf die Wissenschaft, den gesunden Menschenverstand und den Fortschritt. Doch gerade in einem wesentlichen Punkt, der damals erhofft wurde und heute erreicht ist, geht uns die Puste aus: Europa. In Frankreich wird wieder über das Wesen der Staatsangehörigkeit diskutiert, hier dreht sich der ganze Wahlkampf um die Grenzwärter in ihren Grenzwärterhäuschen.
Otto von Bismarck konnte auch anders. Vor einigen Jahren sind Tonwalzen (Opens in a new window)aus dem Jahr 1889 aufgetaucht, damals der neueste Shit von der Thomas Edison Company, die er mit Freude besprochen hat. So kann man heute noch seine Stimme hören. Welchen Text wählte er? Unter anderem die Marseillaise, denn sein Leben war geprägt von der französischen Revolution und Napoléon – dialektisch allerdings. Manchmal im Park macht er mir Vorwürfe. Ich hatte damals nur diese Karten auf der Hand. Aber ihr?
In Frankreich wurde “En Fanfare” mit über zwei Millionen Kinobesuchern zu einem Gesellschaftsphänomen – am Ende der Vorführung wird applaudiert, manche singen auch mit. Ich habe ihn erst in der letzten Woche gesehen. Er läuft aber noch in vielen deutschen Kinos und lohnt sich unbedingt.
https://www.youtube.com/watch?v=cZSmrA0-RBg (Opens in a new window)Es geht um zwei Brüder, die erst als Erwachsene voneinander erfahren, denn sie wurden bei ihrer Adoption als Kleinkinder getrennt. Beide sind außergewöhnlich musikalisch begabt, aber das Umfeld eröffnet ihnen unterschiedliche Chancen: Der eine (Benjamin Lavernhe) wird ein weltweit berühmter Dirigent, der andere (Pierre Lottin) arbeitet in der Schulkantine und spielt in der örtlichen Musikkapelle. Ihre Wege kreuzen sich, als der Dirigent, Thibault, an Leukämie erkrankt und eine Rückenmarkspende braucht. Angenehm fand ich, dass neue Gesichter zu sehen sind und nicht die ewig gleichen französischen SpitzenschauspielerInnen. Auch der Ort der Handlung, das wüste Nordfrankreich, sorgt für einen spannenden Verfremdungseffekt. Und es führt mitten in den politischen und kulturellen Kern der Gegenwart: Was hält Frankreich noch zusammen? Wo begegnen sich Paris und Provinz? Wird unser Charakter von Fleiß und Talent also den Genen bestimmt oder von der Familie, in der wir aufwachsen? Was sind die Faktoren für ein gelungenes Leben? Die Story hat ein paar Sprünge, aber es gibt nach dem Film genügend Bilder und Themen, um sie im Kopf weiter zu spinnen. Die Sache endet mit Aznavour, fantastisch. (Es ist immer wieder verblüffend, wie wahnsinnig viel Text so ein Charles Aznavour Chanson transportiert, es sind vertonte Romane, eigentlich.)
Mit jeder Dokumentation dringt Stephan Lamby weiter vor auf dem Terrain der politischen Safari. Mit den Jahren werden seine Filme auch darum immer besser, weil die Politprofis ihm augenscheinlich vertrauen. Sie nutzen die Interview Momente mit ihm als Gelegenheit, ihre Sicht der Dinge zu deponieren und auch, um sich Luft zu machen. Friedrich Merz trifft sich im Wald mit Lamby und wirkt entspannt und sympathisch – in dieser Umgebung jedenfalls . Nach Bambis vorigem Film “Ernstfall” hatte sich Christian Lindner darüber beschwert, zu wenig und zu schlecht vorzukommen. Nun gibt es mehrere Szenen mit Lindner und sie sind ziemlich spektakulär. Lügt er in die Kamera? Alice Weidel sorgt für einen Gruseleffekt. Lamby schafft es, auch mit unseren so kontrollierten Politprofis Momente der Wahrheit zu finden. Mit dieser spannenden Doku kann man sich die ganzen Wahl-Sondersendungen weitgehend sparen.
https://www.daserste.de/information/nachrichten-wetter/ard-sondersendung/videos/vorschau-die-vertrauensfrage-video-100.html (Opens in a new window)Das Timing könnte nicht besser sein, um ein frisch recherchiertes Buch über Wagenknecht und ihre Freunde zu veröffentlichen. Die ZDF-Journalistin Andrea Maurer, der wir schon die tolle Mini Serie Inside BSW verdanken, hat mehr als eine politische Analyse geschrieben. Ich lese das Buch wie eine Milieustudie, einen zeitgenössischen Roman über Menschen, die in Freiheit und Wohlstand leben und Wladimir Putin verfallen sind. Das Buch spielt in Limousinen, am Flughafen, in feinen Restaurants und unter Menschen, die ich mir gut als Kunden bei Manufactum vorstellen kann. Das Leid der Anderen, in der fernen Ukraine – es nervt sie.
Das Buch ist eine präzise und faire Beschreibung des Aufstiegs dieser One Woman Bewegung, die allerdings auch die Möglichkeit des Absturzes vorscheinen lässt.
https://www.droemer-knaur.de/buch/andrea-maurer-wut-und-widerspruch-9783426563199 (Opens in a new window)Seit einiger Zeit steht in unserer Küche ein großer schwarzer Air Fryer. Ohne großen Aufwand kann ich damit abends Gemüse so zubereiten, dass es allen schmeckt. Es ist ein unaufwendiges Verfahren, nichts kann schief gehen. Währenddessen kann man noch den Tisch decken oder die Wäsche aufhängen und auch das schlichteste Wintergemüse glänzt goldgelb und knusprig. Das ist gewissermaßen die fettarme Variante zum Rezept in Le Monde von dieser Woche.
https://www.lemonde.fr/les-recettes-du-monde/article/2025/01/24/legumes-sautes-la-recette-d-erwan-humbert_6513727_5324493.html (Opens in a new window)Emmanuel Renaut (Opens in a new window) ist einer der weniger bekannten französischen Drei-Sterne-Köche. Er ist stolz darauf, in seiner Küche nie laut zu werden, nicht herum zu schreien und wirkt generell wie ein netter Typ. Spitzenküche rechnet sich finanziell kaum, also muss er schon mal ins Fernsehen ab und zu. Hier ist seine Interpretation von Poulet, Pomme de Terre, Salade in der Sendung Top Chef
https://www.dailymotion.com/video/x471emw (Opens in a new window)Kopf hoch,
ihr
Nils Minkmar
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