Der Reset
Reise nach Paris/Serie Der Wahlkämpfer/Polentalasagne nach Ariane Delmas
In der vergangenen Woche war ich für die Süddeutsche in Paris, um über die Stimmung vor dem Jubiläum am heutigen 22. Januar zu schreiben. Vor sechzig Jahren wurde der deutsch-französische Freundschaftsvertrag, bekannt als der Élyséevertrag, unterschrieben. Ich konnte Georg Stefan Troller besuchen, der damals als Reporter dabei war, heute mit 101 Jahren über den Dächern der Stadt wohnt und von de Gaulle und Adenauer so spricht, als habe er sie eben erst getroffen. Er erzählte auch vom Krieg, seiner Flucht und wie er mit der US-Armee das Konzentrationslager Dachau befreite. Da wurde mir klar, was mich an der Dauererzählung vom Ende der Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich gestört hat: Sie übergeht die funktionierende,ganz und gar nicht feindliche Zusammenarbeit zwischen den beiden Regierungen bis Kriegsende. 1944 war die Spitze des Vichy-Regimes in Sigmaringen im Schloss der Hohenzollern untergekommen – was ich lange gar nicht gewusst hatte. Was 1963 also begründet wurde, war eine wertegebundene Gemeinschaft zwischen einst verfeindeten Nationen. Oder wie Troller es formulierte: De Gaulle und Adenauer waren ihm nicht besonders sympathisch, lagen beide nicht perfekt auf seiner politischen Linie – "aber sie waren anti Nazi".
Darum geht es auch heute, um den Kampf für die Werte der französischen Revolution, die heute in der Ukraine verteidigt werden. Es ist ein völliges Rätsel, weshalb die deutsche Ampelkoalition, der so viel gelungen ist, die so viel für die Ukraine gemacht hat, heute so schlecht da steht, international isoliert und unfähig, die eigene Strategie vernünftig zu erklären. So wird aus allen möglichen Haltungen das jeweils schlechteste kombiniert: Deutschland unternimmt große Anstrengungen, steht aber da wie ein Land, das nichts macht. Unfähig auch, aus der Debatte um einen Panzertypus herauszufinden, bevor kein Mensch mehr den Namen der sympathischen Großkatze mehr hören kann.
So oft es geht, besuche ich in Paris den Philosophen Bernard-Henri Lévy. Er ist viel in der Ukraine, dreht Dokumentarfilme, bald kommt ein neuer. Als ich ihn auf dieses Panzerproblem und die deutsch-französischen Missstimmungen ansprach, sah er mich an wie jemanden, der sich im Dezember 1963 bei einem Amerikaner nach dem Befinden des sympathischen Präsidenten Kennedy erkundigt. Überrascht, aber doch um Höflichkeit bemüht: "Aber es wird doch den Reset geben zwischen Scholz und Macron, es ist längst alles vereinbart."
Er wohnt nicht weit vom Élysée, pflegt gute Kontakte zu seinem Nachbarn. Mal sehen.
Frankreich steckt in einer Art Krise der sozialen Repräsentation: im Fernsehen tauchen immer die gleichen Menschen auf, es gibt einfach zu wenig Diversität in der Regierung oder in den Medien. Niemand da, der diese Rentenreform erklären kann und dem die Menschen vertrauen. Niemand mit Akzent, keine populäre Figur, keine Frau, keine älteren Menschen und schon gar keine, die eine andere Hautfarbe aufweisen. In jeder Fahrt mit der Métro sieht man ein ganz anderes Frankreich, als wenn das Kabinett tagt. Darum können auch irre rechtsradikale Theorien vom Unglück der Zuwanderung in Diskussionsrunden und Talkshows so gut gedeihen, im Alltag von Paris sieht man das Gegenteil. Aber Frankreich erlebt auch eine kulturelle Blütezeit. Und thematisiert exakt dieses Problem nun in der Netflix Serie En Place.
https://www.netflix.com/watch/81522492?trackId=14170289&tctx=1%2C0%2Ce4ff1ea1-2e87-4c4d-98ca-6c9360bdfae3-131859586%2CNES_C6AB5021F8CFE22BE750B50F542255-994911DC4F528C-A256D6C38B_p_1674296393136%2CNES_C6AB5021F8CFE22BE750B50F542255_p_1674296393136%2C%2C%2C%2C81520506%2CVideo%3A81520506 (Opens in a new window)Nach vielen Klassikern der französischen Küche soll heute einmal etwas Neues versucht werden. In Le Monde empfiehlt die einstige Aktivistin Ariane Delmas, heute Proponentin einer besseren Alltagsverpflegung, etwa in Schulen, ein Rezept, das modern und nicht allzu kompliziert, vor allem aber sehr wohlschmeckend sein soll. Besonders interessant ist hier wieder die politische Dimension der französischen Küche: Weil sich Delmas nicht genau entscheiden konnte, für welche aller guten Sachen, gegen welche der vielen Ungerechtigkeiten sie sich engagieren sollte, verlegte sie sich darauf, für Aktivstinnen und Aktivisten zu kochen.
https://www.lemonde.fr/le-monde-passe-a-table/article/2023/01/19/les-lasagnes-de-polenta-aux-legumes-la-recette-d-ariane-delmas_6158482_6082232.html (Opens in a new window)Kopf hoch,
ihr
Nils Minkmar
PS: Wenn Sie diesen Newsletter lesen, bin ich vielleicht gerade unterwegs in ein Hörfunkstudio, um an der legendären SR2-Radiosendung Fragen an den Autor teilzunehmen. Der Link wird dann hier eingestellt:
https://www.sr.de/sr/sr2/sendungen_a-z/uebersicht/fragen_an_den_autor/index.html (Opens in a new window)PPS: Der Charakter dieses Newsletters scheint mir darauf zu gründen, dass ich ihn ganz frei gestalten kann. Damit ich dafür auch die Zeit habe, kann, wer es möchte, hier einen kleinen Beitrag dazu leisten: