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Gorillas im Nebel

Schrumpfende Relevanz/Hochzeit in Notre-Dame/Jana Kreisl/ Bresse

Als wir noch in Köln wohnten und unsere Tochter ein Kleinkind war, gingen wir jeden Montag in den Zoo. Ich arbeitete damals für eine Sonntagszeitung, Montag war frei. Einmal blieben wir vor einem Gehege mit einer munteren Affenschar stehen. Aus der Gruppe löste sich ein Alphamännchen mit Mähne und Muskeln und baute sich direkt hinter der Scheibe auf. Er brüllte, trommelte und veranstaltete einen ziemlichen Wirbel. Man konnte seine Eckzähne sehen, den roten Rachen und er sprang auf und ab wie ein Dämon. Doch niemand zuckte zusammen, denn obwohl er in seinem Revier der größte und stärkste seiner Art war, maß er mit Mähne kaum mehr als 25 cm. Unter seinen Mitaffen der unbestrittene King, in der Diversität eines modernen Zoos aber nur Kleintier, in Kinderaugen so groß wie eine Barbie.

An das Goldgelbe Löwenäffchen (Opens in a new window) muss ich recht oft denken, wenn ich mir die nationalen Bühnen in Berlin und Paris betrachte. Es gab eine Dimensionsverschiebung in der weltweiten Politik, von der viele noch nichts mitbekommen haben. In Paris etwa entdecken erst jetzt, Monate nach der Wahl vom Juni, Blitzmerker aller Fraktionen die Möglichkeit, parlamentarische Koalitionen über Lagergrenzen hinweg zu bilden. Wer in diesen Tagen französische Talkrunden verfolgt, kann eine verblüffende Eindimensionalität beobachten: Es ist kein Problem, noch mit dem obskursten historischen Vergleich, mit dem entlegensten innenpolitischen Beispiel aus den sechziger, siebziger oder achtziger Jahren zu kommen. (Irgendwann war ich davon im Kopf ganz wurres und glaubte gehört zu haben, Emmanuel Macron werde nun Jacques Chaban-Delmas zum Premierminister berufen.) Man kann die nationale Politik in der Tiefe schürfen wie im Steinkohlenbergbau – aber nicht ein einziges Mal ist zu hören, dass es in Deutschland mal eine GroKo gab und was die wohl gewesen sein könnte.

In Berlin läuft es kaum besser: Alle Sender, alle Zeitungen kümmern sich wochenlang um das Schicksal und das Personal einer 3%-Partei, deren exekutive Relevanz vorbei ist. Oder um Markus Söder.

Währenddessen beschleunigen sich die Ereignisse in Syrien, die Meere werden ungemütlich warm, die Menschen in Georgien und in der Ukraine kämpfen um ihre Freiheit und Rumänien verteidigt die Demokratie gegen die Machenschaften von Tik Tok. Manchem mag es entgangen sein, aber unsere Freiheit, die Art, wie wir leben, arbeiten und lieben wird gerade angegriffen, von Russland und seinen Verbündeten – und nicht erst seit gestern.

Das Jahr begann mit den größten Demonstrationen der jüngeren Geschichte, gegen die AfD und ihre Pläne. Diese Partei und das BSW sinken kontinuierlich in den Umfragen. Die Zivilgesellschaft ist schon weiter als die Bundesregierung.

An den Rändern Europas und in vielen anderen Ecken der Welt passieren die unglaublichsten Dinge, die zu viel Hoffnung berechtigen – aber in Paris und Berlin hopsen die Gorillas im Literflaschenformat und spielen King Kong.

Es ist erfreulich, dass Macron ein Dreiergespräch mit Trump und Selenskyj arrangieren kann – aber wo war der Bundeskanzler?

Wenn in diesen Tagen so viel von Notre-Dame die Rede ist, muss ich an eine Frau denken, die dort geheiratet hat. Traumhochzeit: Am 18.August 1572 ehelichte Marguerite de Valois, Tochter des Königs, den Prinzen Henri de Navarre, Champion des protestantischen Frankreichs. (Später wird er als Henri Quatre König von Frankreich, aber das ist noch lange hin.) Marguerites Mutter Katharina von Medici hatte die Ehe arrangiert, Frankreich sollte so aus den Religionskriegen zwischen Katholiken und Hugenotten hinaus finden. Am großen Tag trug Marguerite ein Cape aus Hermelinpelz und ein Kleid mit gleich vier Schleppen. Das Brautpaar betrat Notre Dame auf einem eigens gezimmerten Laufsteg, der mit vergoldetem Stoff bespannt war. Viel Glück war ihrer Ehe nicht beschieden, wenige Tage darauf ereigneten sich die Massaker der Bartholomäusnacht – der schlimmste Massenmord seiner Zeit.

Ihr späteres Leben ist unglaublich spannend. 1574 wird ihr Mann Henri de Navarre nach einem Fluchtversuch aus dem Louvre von den Männern des katholischen Königs geschnappt und unter Hausarrest gestellt. Er soll sich verteidigen, aber er verzweifelt an der Aufgabe: Jede Zeile wurde ihm bisher vorgeschrieben, aber nun ist er ganz ohne Beraterstab. Marguerite macht ihn auf eine simple Lösung aufmerksam: Sie könne ihm doch das Plädoyer schreiben. Diese Verteidigung wurde als Déclaration du Roi de Navarre zu einem Klassiker der politischen Reden des XVI. Jahrhunderts, ganz nebenbei rettet sie Henri den Kopf.

Marguerite war auch eine Autorin. Ihr Buch, Les Mémoires, ist einer der klügsten und humorvollsten Texte ihrer Zeit, voller brillanter Einsichten über das Wesen der Menschen bei Hofe. Einmal beschreibt sie, wie ihr Bruder der König sie festnehmen und im Nachthemd quer durch den Louvre führen lässt. All die Adligen, die sie sonst bei jeder ihrer Erscheinungen bestürmen und loben oder etwas von ihr möchten, tun dann so, als sei sie unsichtbar. Die unmittelbare zeitliche Nähe zwischen verheißungsvoller Traumhochzeit und der Hölle jener Nacht hat sie in ihren Mémoires mit viel bitterer Ironie reflektiert.

Leider ist ihr Buch nur in Teilen erhalten und mir ist keine deutsche Ausgabe bekannt. Sie förderte Michel de Montaigne und verbrachte, als ihre Ehe schiefging, viel Jahre im inländischen Exil irgendwo auf einer Burg in der Auvergne. Aber sie kann nicht anders, bald blühten auch dort im nowhere die Künste. Ihr verdanken wir die Schilderungen dessen, was in der Bartholomäusnacht im Louvre geschah – unzählige Bestseller wurden aufgrund dieser Quelle verfasst. Victor Hugo und Alexandre Dumas haben sich dort bedient, ohne Marguerite zu würdigen. In meinem Roman “Montaignes Katze” habe ich mich bemüht, sie angemessen vorkommen zu lassen.

Sie hatte, berichtet Montaigne, eine Lieblingsanekdote. Sie handelt von einem ihr bekannten Adligen, der eine Liebesbeziehung zur jungen Frau eines angesehenen Anwalts unterhält. Der Weg ins Haus seiner Geliebten führt einmal über die Ile de la Cité, also stoppt der verliebte Höfling vor jedem Date in der Kathedrale von Notre-Dame. Wofür, glauben Sie, fragte Marguerite dann in die Runde, hat er dann wohl genau gebetet?

Diese Zeichnung (Opens in a new window) wurde kurz vor der Hochzeit angefertigt.

Marguerite überlebte ihren Ex um viele Jahre, lebte als angesehene Politikerin und Mentorin für den jungen Louis XIII in Paris. Ihr Liebesleben blieb turbulent – einmal wurde ihrem Begleiter von einem eifersüchtigen Konkurrenten auf offener Straße in die Stirn geschossen. Die genauen Hintergründe blieben im Dunklen.

Ich habe mich immer gefragt, was wohl aus Frankreich geworden wäre, wenn solch eine Frau “fille d’un roi, soeur d’un roi, épouse d’un roi” auf den Thron gekommen wäre, wenn das Gesetz entsprechend geändert worden wäre.

In einem Seminar für Journalistinnen und Journalisten, die ein Sachbuch schreiben wollen, lernte ich im vergangenen Jahr Jana Kreisl kennen. Das war an der legendären Reportageschule Reutlingen und meine Aufgabe war es, den angehenden AutorInnen die neuen Gegebenheiten des Buchmarkts nahezubringen. Jana Kreisl hatte ein einzigartiges Projekt: Sie ist mit einem selbstgebauten, säkularen Beichtstuhl durch Deutschland gereist. Menschen, die sie nicht sehen konnte, erzählten ihr von belastenden oder verwirrenden Erlebnissen und sie zeichnete dazu. Das Buch liegt nun vor und fasziniert, sobald man es nur aufschlägt. Es enthält keine Urteile, keine Tipps, keine Kritik, sondern bildet die Komplexität des Lebens ab. Es geht um Empfindungen, die sich nicht so leicht feiern, vergessen oder einsortieren lasse. Inkorrekte und unzeitgemäße Gefühle wie Reue, Neid oder Ratlosigkeit.

In Stil und Ton erinnert Kreisl an die unvergessene Claire Brétécher. Es eignet sich sehr gut als Geschenk, aber ich rate dazu, zwei Exemplare zu kaufen, denn eines möchte man dann für sich behalten.

Im Laufe der Wochen wurden hier so viele tolle Geflügelrezepte für den Hausgebrauch empfohlen, dass genug Gelegenheit zum üben war. Nun wagen wir uns mal an eine ganz andere Schwierigkeitsklasse und reisen ins Land des Bresse-Huhns. Das sind die besten Hühner der ganzen Welt und stehen und der direkten Schutz der französischen Regierung. Als wieder einmal so eine blöde Vogelgrippe durch Frankreich wehte, griff der damalige Premierminister de Villepin zum Telefon und verfügte, dass die Bresse-Hühner von der seuchenbedingt erlassenen, nationalen Stallhaltungspflicht ausgenommen sind. Fantastisch!

https://www.youtube.com/watch?v=edE32Dt-Iy0 (Opens in a new window)

Kopf hoch,

ihr

Nils Minkmar

PS: Ich bin, was Weihnachtsgeschenke angeht, ein notorischer Spätzünder. Vielleicht Berufskrankheit, denn als Journalist kommt man erst dann in Aktion, wenn die Deadline mit bloßem Auge zu sehen ist. Wenn es Ihnen ebenso geht, gibt es hier die Möglichkeit, eine Geschenk-Mitgliedschaft abzuschließen.

Bonus: Die ersten zehn Beschenkten erhalten zusätzlich, wenn gewünscht, ein signiertes Taschenbuchexemplar von Montaignes Katze,

https://steadyhq.com/nminkmar/gift_plans (Opens in a new window)

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