Die Saison der Anfänge
Erinnern Sie sich noch an den 26. September?/ Die ungewöhnlichen Einsichten der Modeschöpferin Isabel Marant/ Lebenskunst von Luis Buñuel
Die erste Kastanie ist eine Überraschung. Es ist noch Sommer, man spaziert ohne Jacke durch die Welt und bemerkt sie nur zufällig. Dann werden es mehr, man lässt sie springen wie einen Flummi und behält sie bis zu den kühleren Tagen, wo sie in den Manteltaschen warten. Sie glänzen wie der Begriff des Neuen, das ist ihre Botschaft und einziger Sinn, denn machen kann man damit nichts. Die erste Kastanie flüstert: Die neue Zeit hat schon begonnen und wer hat es wieder nicht gemerkt?
Vergangene Woche, das scheint heute wie eine andere politische Epoche. Bald muss man es erklären, wenn man davon spricht: Die Älteren mögen sich an den 26.September erinnern. Dabei ist nichts Unerwartetes passiert. Es war eine graduelle Veränderung, die sich dann beschleunigt hat. Wie wenn man seinen Mut zusammen nimmt, um sich eine Pause von einem ungeliebten Job zu nehmen, Urlaub für den Montag beantragt und währenddessen feststellt: Eigentlich möchte ich gar nicht mehr kommen. Die Erleichterung gibt einem Recht.
Ich habe erst zwei Mal erlebt, dass die Union das Kanzleramt verliert: Als Kind bei Willy Brandt und 1998 mit Gerhard Schröder. Er war aber nicht allein: Eine ganze Generation half ihm dabei. und nun könnte es wieder so weit sein. Das ist eine große Sache, man muss Tagebuch führen. Und vielleicht das Instagrambild der vier Verhandler aus Grünen und FDP einkleben. Ich konnte es erst gar nicht glauben. Und obwohl das nicht so meine Parteien sind, wohnt dem Bild eindeutig der Zauber des Anfangs inne. Herbst.
Am Freitag erhielt ich einen Brief, auf den ich lange gewartet habe. Die Künstlersozialkasse teilte mir mit, dass ich dabei bin und mich nun dort versichern lassen kann. Es ist eine einmalige Institution, die Selbstständigen aus Journalismus, Kunst und Kultur solidarische Sicherheit bietet. Ich weiß nicht, ob es das in vielen Ländern gibt. Der Kontakt hat etwas Archaisches, alles geht per Papierbrief und atmet noch den Geist der Verwaltungsakte meiner Jugend: Nadeldruckeroptik mit vielen Zeichen, Formeln und Bezügen, an die man sich erst gewöhnen muss. Und es dauert. Im April hatte ich mich angemeldet, nun kam erst der Bescheid. Als ich neulich mal anrief, traf ich allerdings weder auf ein Sprachprogramm noch auf ein Callcenter. Die Kollegin sprach mit norddeutschem Akzent - die KSK sitzt in Wilhelmshaven - und freute sich hörbar, mir mitteilen zu können, dass mein Brief gerade losgeschickt wurde:
"Na, das war denn ja Gedankenübertragung!" Ein Lob auf den Sozialstaat.
Die Mitglieder meiner Familie, die sich für Mode interessieren und sich auskennen erwähnen oft den Namen von Isabel Marant. Nun stieß ich in der Monde auf ein bemerkenswertes Gespräch mit der Künstlerin und Unternehmerin. Im Gegensatz zum üblichen Workoholismus schwärmte sie von ihrer Fähigkeit, nichts zu tun: "Wenn ich das Büro verlasse, vergesse ich alles." Ungewöhnlich auch ihre Einschätzung, wie sich Umweltbewußtsein und Modebusiness vertragen: "Wenn man sich ökologisch verhalten möchte, muss man ganz einfach weniger konsumieren!" Das Gespräch gibt es nur für AbonenntInnen, hier aber ein Link zu ihrer neuesten Schau:
https://youtu.be/S7C-vXqV2i0 (Opens in a new window)Der Klassiker
Ich habe die Memoiren von Luis Buñuel (Mein letzter Seufzer. Erinnerungen. Aus dem Französischen von Frieda Grafe und Enno Patalas. Alexander Verlag Berlin, 414 Seiten, Original 1982 Paris) schon x-mal in Artikeln zitiert, hatte das Buch aber gar nicht mehr. Damit mich die Dokumentare nicht immer vergebens fragen müssen, habe ich es mir nun wieder bestellt und freue mich auf die Entdeckung des Bekannten. Einige Gedanken des Meisters:
"Ich liebe die Regelmäßigkeit und gehe gern an Orte, die ich schon kenne. In Toledo und Segovia mache ich immer dieselben Wege. Ich bleibe an denselben Stellen stehen, ich sehe dieselben Dinge an, ich esse immer das gleiche. Wenn man mich zu einer Reise in ein fernes Land einlädt, etwa nach Neu-Delhi, erwidere ich: "Und was mache ich in Neu-Delhi um drei Uhr nachmittags?"
"Ich liebe das Geräusch des Regens. In meiner Erinnerung ist es eins der schönsten Geräusche der Welt."
"Ich liebe die Einsamkeit, vorausgesetzt, hin und wieder besucht mich ein Freund, um mit mir darüber zu sprechen."
Kopf hoch,
ihr
Nils Minkmar
PS: Ich freue mich über die große Bereitschaft, hier Mitglied zu werden.
Wer es noch nicht ist, kann es hier nachholen: