Der schwarze Notenschlüssel
Nachrufe/Gut genug als Lebensprinzip/ Philippe Etchebest
Vor vielen Jahren besuchte ich das wunderbare Bücherfestival in Hay on Wye in Wales. Es war Mai, regnete ohne Ende und alle Veranstaltungen rochen nach nassem Zelt, aber es war sehr gut besucht. Einmal entdeckte ich in der Menge Hugh, den Bruder von Bruce Chatwin. Untergekommen war ich im Gästezimmer eines in Rente gegangenen Londoner Punks und Hausbesetzers. Irgendwann hatte man ihnen die besetzte Wohnung überschreiben und von dem Anteil konnte er sich ein schönes Cottage in Hay leisten. Seine Kinder aus diversen Beziehungen und seine Eltern konnten ihn dort besuchen – das kleine Cottage, sagte er, habe ihm das Leben gerettet. Seine politischen Ansichten blieben wechselhaft wie das Wetter. Er erinnerte sich mit Stolz prophezeit zu haben, mit der Wahl von Tony Blair werde der Faschismus in UK einziehen! Ich sagte, dass er sich da ja wohl geirrt habe, und er pflichtete mir sofort bei.
Zwischen den Lesungen und Podiumsdiskussionen (Christopher Hitchens in Bestform, korrigierte einen reaktionären Kontrahenten: Der vermeintliche Zerstörer der modernen Architektur schreibe sich Corbusier, der genannte Courvoisier sei ein Cognac), teilte ich mir einen Tisch im Pressezentrum mit zwei KollegInnen vom Guardian. Sie bestaunten mich, denn ich arbeitete damals für eine Wochenzeitung und konnte darauf hoffen, einen Artikel über die ganze Woche zu platzieren, – aber es war auch gut denkbar, dass ich nichts schreiben durfte. Die beiden anderen mussten jeden Tag einen Artikel für die Zeitung verfassen, über eine Lesung oder ein Buch sowie mehrere kleinere Beiträge für die Website absetzen, das war das Minimum. Sie machten noch viel mehr. Eine war Angelique Chrisafis, die später Korrespondentin in Paris wurde und der andere war John Ezard, ein Veteran des Blattes. Ich weiß gar nicht mehr, wie wir auf das Thema der Nachrufe kamen, die in unserer Redaktion nur zum Teil vorbereitet werden, oft genug spontan geschrieben werden müssen. John schüttelte vor Grusel den Kopf. Seit seinen ersten Tagen beim Guardian war ihm, dem frischen Kollegen, die Aufgabe zugefallen, den Nachruf auf die damals noch junge Queen zu schreiben. John erzählte mir, dass er jede Woche an dem Artikel schreibt, im Leben der Queen ereigne sich so viel, da müsse er immer wieder neu nachdenken und ihn umarbeiten. Es sei sein Lebenstext.
Donnerstag schaute ich nach: John Ezard starb 2010. Sein wichtigster Artikel ist nie erschienen. Dafür ist der Nachruf recht gelungen:
https://www.theguardian.com/media/2010/dec/15/john-ezard-obituary (Opens in a new window)Heute ist der Jahrestag jenes Terrorakts, der wie ein schwarzer Notenschlüssel die Tonart für das Jahrhundert setzte: Dauerkrise. Es war nie mehr nichts: Afghanistan, Irak, Lehman-Brothers-Pleite, Finanzkrise, arabischer Frühling, Syrienkrieg, flüchtende Menschen, Brexit, Trump, schließlich die Pandemie und der Überfall Russlands auf die Ukraine. Das sind nur die Ereignisse, die strukturellen Wandlungsprozesse schreiten fort: die Digitalisierung, die Globalisierung und die Klimakrise. Immer sind historische Zeiten, immer das Ende der Welt, wie wir sie kannten und alles muss sich ändern, dabei sind doch schon alle so müde.
Darum fand ich jene Rezension im Atlantic so wohltuend, die das Konzept eines good enough life vorstellt. Man hält länger und besser durch, so in etwa das Argument, wenn man nicht damit hadert, die Welt heute nicht gerettet zu haben, sondern schon den Willen dazu würdigt und jeden noch so kleinen Schritt. Sich am nächsten Schritt freuen, statt zu fluchen, dass es noch so weit ist. Interessant.
https://www.theatlantic.com/books/archive/2022/08/good-enough-life-winnicott-avram-alpert-book/671110/ (Opens in a new window)Der in Bordeaux heimische Fernsehkoch Phillippe Etchebest ist zu einem berühmten Mann und wichtigen Lobbyisten für die französische Gastronomie geworden. Man kann darüber ganz vergessen, dass er auch Rezepte pflegt, mit denen man gut in den Herbst kommt.
https://www.marmiton.org/chefs/philippe-etchebest-sa-recette-inratable-et-ses-petits-secrets-pour-preparer-un-bon-poulet-basquaise-s4048486.html (Opens in a new window)PS: Eine mir unbekannte Buchhändlerin hat folgendes Urteil über Montaignes Katze (Opens in a new window)auf dem Branchenportal Net Galley hinterlassen, es ist die erste Rezension:
"Ein wirklich gut geschriebener Roman, der den Leser tief in die Welt von Michel de Montaigne eintauchen lässt.
Über verschiedene Erzählperspektiven ergibt sich zum Ende ein großes Ganzes, welches die Lebenssituation im 16. Jahrhundert sehr bildlich darstellt.
Die Geschichte schreitet schnell fort und ist auch für Leser interessant, die sich vorher noch nicht mit Montaigne befasst haben."
PPS: Es kommen immer wieder nette Anregungen, diesen Newsletter mit Anzeigen profitabel zu machen oder ihn unter die Fittiche einer Medienmarke schlüpfen zu lassen, – aber das passt nicht so recht zur Anarchie, zur Freiheit des Sonntags. Umso mehr weiß ich es zu schätzen, wenn Menschen durch eine Mitgliedschaft die Arbeit daran finanziell unterstützen und das geht hier
Kopf hoch,
ihr
Nils Minkmar