Das Rätsel der deutschen Pyramide
Teheran 1943/Michel Houellebecq und eine Doku über Juan Carlos/Türkische und saarländische Rezepte
Sie schlafen im Sand der Atlantikküste, wie die Pyramiden einer vergessenen Zeit. Jede Saison bringt neue Graffiti, neue improvisierte Kunst und nächtliche Besucher, von denen am Morgen nur eine Feuerstelle bleibt. Das Wissen um die Bunker des Atlantikwalls versinkt allmählich, wie die Dinger selbst. Obwohl Frankreich eine weltweit führende Geschichtswissenschaft unterhält, ist die Popularisierung dieses akademischen Wissens mehr oder minder unterblieben. Die Alliierten landeten doch in der Normandie – unzählige Spielfilme schildern es – warum bauten die Deutschen dann Bunker vor Bordeaux? Paradoxerweise waren diese Bunker ein Puzzlestück der späteren deutsch-französischen Freundschaft. Wehrmachtssoldaten, die in dieser Ecke Frankreichs eine vergleichsweise angenehme Zeit verbrachten, kehrten nach dem Krieg zurück und erwarben Ferienhäuser. Daran muss ich immer denken, wenn ich deutsche Menschen meines Alters treffe, die stolz berichten, schon der Großvater war so Frankreich begeistert, dass er sich dort ein Haus gekauft hat. War der einer der jungen Männer, die ihre Wäsche auf dem Dach des Bunkers trocknen ließen?
Diese Geschichte in der Geschichte ist in heute in ein freundliches Licht getaucht, das hat aber einen schrecklichen Grund: Die jüdische Gemeinde von Bordeaux wurde vollständig ermordet. Es ist schlicht niemand mehr übrig, um von diesem Verbrechen Zeugnis abzulegen, mit Ausnahme des Psychiaters Boris Cyrulnik, der damals ein kleines Kind war.
Es ist auch deswegen so weit von uns, weil die Nachkriegszeit vergleichsweise friedlich erscheint. Europa wurde aufgeteilt, ein Gleichgewicht des Schreckens herrschte und das hielt bis 1989. Doch diese Ordnung war vorbereitet worden, lange vor der alliierten Landung. Vor 80 Jahren trafen sich in Teheran Churchill, Roosevelt und Stalin, um die Zeit nach Hitler zu besprechen. Wenig an diesem Treffen ist, von heute aus betrachtet, besonders nice. An die Rettung der europäischen Juden dachte kein Mensch. Churchill überreichte Stalin einen eigens angefertigtes Schwert, um ihm zum Sieg in Stalingrad zu gratulieren. Beim Abendessen schlug Stalin vor, nach dem Krieg 50 000 deutsche Offiziere erschießen zu lassen. Roosevelt meinte, 49 000 würden es doch auch tun. Er hielt es für einen Witz. Churchill bekam einen Wutanfall, verließ den Saal und meinte, man solle ihn auch erschießen, gleich jetzt und an der Wand des Tagungsorts, eher er so einem Plan zustimme. Stalin sagte, er habe nur einen Scherz gemacht – aber von heute aus sind daran Zweifel angebracht.
Bemerkenswert finde ich an dieser Konferenz ihren Zeitpunkt – also den Umstand, dass hier schon lange, blutige Monate vor der deutschen Kapitulation die Zeit danach vorbereitet wurde. Es wurde beispielsweise über die Struktur der Vereinten Nationen geredet, über die Ordnung Europas uns vieles andere mehr. Nicht alles hat geklappt, aber die Einsicht, dass die Vorbereitung einer (machtpolitisch, nicht menschenrechtlich) guten Ordnung angegangen werden muss, während Hitler noch quicklebendig ist, erscheint mir heute kühn, aber auch einleuchtend.
Heute ist das Gespenst des Landkriegs wieder mal in Europa unterwegs. Das Ende kann man zwar schon ahnen, aber es ist nicht in Sicht.
Wo sind die Pläne für danach? Welche Lehren werden aus den vergangenen Jahren der Einflussnahme Russlands auf die europäischen Öffentlichkeiten gezogen? Alle Länder unterhalten umfassend ausgestattete Dienste, die solche Beeinflussungen überwachen und unterbinden sollen – muss man sie ganz neu aufstellen? Wie reguliert man social media, um solche Propaganda unmöglich zu machen? Wie kommt man zu Vereinten Nationen oder einer Europäischen Union, die effektiv handeln können, bevor ein Krieg ausbricht? Und wie überwindet man ein Gesellschaftssystem, das durch die extreme Ungleichheit der Besitzverhältnisse die Ausbildung autoritärer und grausamer Regime begünstigt? Russland hat seine Verbrechen durch umfassende Korruption vorbereitet und im Westen hat man gern genommen.
Schwer erträglich finde ich all die Artikel, all die Talkshows, in denen sehnsüchtig die Frage erörter wird, wie der Krieg zu Ende geht. Als seien wir Zeitgenossen Zuschauer, als habe die Geschichte ein Drehbuch und die Rolle von Medien sei es, Prognosen zu machen. (Neulich brachte selbst die New York Times eine Prognose, da war Trump noch gar nicht aus dem Gericht in New York wieder draußen. "Wie beeinflusst dies das Wahlergebnis im November 24?" brachte die Zeitung - ich hätte in den Tisch beißen können: Die Frage ist doch, welche Zukunft Du möchtest und nicht, welche kommt)
Es mag eine erschreckende Vorstellung sein, aber nichts steht fest und es kommt wirklich auf Dich an.
Es ist nicht zu früh, das Planen und Simulieren wieder aufzunehmen, die politische Phantasie arbeiten zu lassen. "Fahren auf Sicht" ist nur eine Notlösung und ehrlich gesagt nervt es auch, von gut vorhersehbaren Ereignissen wie einer viralen Pandemie und dem Überfall Russlands auf die Ukraine dermaßen überrascht zu werden. Jede Staatskanzlei, jedes Bundesministerium, jede Institution und jeder Konzern unterhalten Planung- und Strategiestäbe. Wurden ihre Ratschläge ignoriert? Waren die Quartalsbilanzen und die kommenden Wahlen immer so viel wichtiger? Ich würde gerne erfahren, wie wir zu solchen Null-Checkern werden konnten und ach ja vorbeugen sollte man auch.
In der letzten Woche durfte ich das neue, kurze Buch von Michel Houellebecq (Opens in a new window)lesen und für die Süddeutsche Zeitung besprechen. Es ist die Geschichte eines Mannes, der erreicht hat, wovon so viele Literaten träumen: Weltruhm, Einladungen in den Élysée-Palast, ein großes Vermögen und eine glückliche Ehe. Und der dann hingeht und sich vor den Augen der ganzen Welt der Lächerlichkeit preisgibt, in dem er zusagt, sich in Amsterdam von einem ihm völlig unbekannten Menschen beim Sex filmen zu lassen und auch noch kurz vor Weihnachten. Warum eigentlich? Er weiß es selber nicht. Er bereut es sofort, unternimmt letztlich gar nichts vor der Kamera und versucht, wieder aus der Sache rauszukommen. Man sieht ihn nackt, zugedröhnt, beim Knutschen mit einer gelangweilten jungen Frau. Aber er hat eben einen Vertrag unterschrieben und nun bleibt ihm nur, ein Buch über die Angelegenheit zu schreiben, um seine immense Scham zu teilen.
Nebenbei ist die ganze Aktion um so erstaunlicher, als man in Paris seit Jahrhunderten eine Kultur der Perversion pflegt. In den diskreten Hotels der Hauptstadt könnte man ein Schaf mit aufs Zimmer führen und die einzige Frage wäre die, nach dem bevorzugten Futter des Tieres. Aber nun Amsterdam? Houellebecq ist sich selbst ein Rätsel. Von ihm stammt der erstaunte Satz: Vraiment, la vie des gens est un mystère - Das Leben der Leute ist doch wirklich ein Rätsel. Und zwar ihnen selbst.
Zufällig sah ich eine spannende, gut gemachte Doku-Serie, die eine ähnliche Geschichte in völlig verschiedener Kulisse erzählt.
https://www.youtube.com/watch?v=O4L8HOr365c (Opens in a new window)Der frühere spanische König Juan Carlos rettet in den achtziger Jahren die Demokratie seines Landes, regierte während des EU-Beitritts und sah den Wandel dieses tollen Landes vom bitterarmen Hinterwald zur prosperierenden, innovativen Nation von heute. Er galt bald als der beste König, den das Land je hatte und war zugleich, als Promi der ersten Stunde in der sich entwickelten Mediengesellschaft, überall in erster Linie dabei, wo Glanz und Glück sich zur Schau stellten. Und dann wickelte er das alles wieder ab. Kein Erzfeind der Krone hätte das Image des Königshauses so nachhaltig zerstören können wie Juan Carlos. Tausende Affären, Korruption durch die fiesesten Typen der Gegenwart, Jagd auf Elefanten – der Rey ließ nichts aus. In dieser auf Sky oder Wow zu sehenden Dokumentation ist Corinna zu Sayn-Wittgenstein die Zeugin der Anklage. Sie ist die langjährige Freundin des einstigen Königs und konnte in deutscher Gründlichkeit sehr viele Dokumente retten. Um sie einzuschüchtern, mobilisierte Juan Carlos dann allerlei Gestalten aus einem weiten Schattenreich aus Privatermittlern und Geheimdiensten – man fasst das alles nicht. Was ist es mit Reichtum, Ruhm und Prominenz, dass manche derart durchdrehen?
Heute gehen unsere türkischen Nachbarn in die Wahllokale, um im zweiten Wahlgang darüber abzustimmen, wer Präsident wird, Die große Bedeutung der Türkei wird daran deutlich, wie viel Aufmerksamkeit die Wahl auf sich zieht. Ich finde übrigens die Polemik über das Wahlverhalten der in Deutschland lebenden türkischen Wählerinnen und Wähler, die nach manchen Umfragen, Erdoğan favorisieren, arg bigott. Jahrzehntelang war die Bundesrepublik froh, wenn türkisch betriebene DITIB-Moscheevereine das muslimische Leben in Deutschland regelten. Und wenn eine Familie türkischer Herkunft in Not geriet, weil etwa der hier arbeitende Vater starb und der Familie Armut und Ausweisung drohten, war die Moschee die erste und oft einzige Adresse, um wirksam Hilfe zu bekommen. Außerdem bin ich mir nicht sicher, wie viele deutsche Landsleute für einen deutschen Erdoğan empfänglich wären, der mal sagt, wo es langgeht, die "Lügenpresse" drangsaliert und generell den starken Mann markiert. Ich wüsste, wen ich wähle, aber es wäre auch wahrlich nicht das erste Mal, dass befreundete Länder anders wählen.
Als fernen Gruß habe ich aus dem schier unerschöpflichen, immer wieder überraschenden Rezeptkonvolut des französischen Philosophen Fabien Vallos ein osttürkisches Rezept herausgesucht. Vallos verspricht absoluten Genuss
https://www.instagram.com/p/CstHX-Krafi/ (Opens in a new window)Da es durch Pfingsten wie zwei Sonntage sind, hier noch ein herzerwärmend fröhliches, saarländisch-sommerliches Huhn-Rezept, das wirklich jede und jeder hinbekommt und wo schon das Video gute Laune macht.
https://www.ardmediathek.de/video/mit-herz-am-herd/knuspriges-brathaehnchen-mit-gartensalat/sr/Y3JpZDovL3NyLW9ubGluZS5kZS9NSEFIXzExMjQyNQ (Opens in a new window)Kopf hoch,
ihr
Nils Minkmar
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