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Vergesst das Abi!

(WDR 5 Schrägstrich vom 19.04.23) 

„Zu fragen bin ich da, nicht zu antworten!“, hat Henrik Ibsen mal gesagt. Und wenn’s nach mir ginge, wäre dieser Satz das Einzige, was Abiturientinnen und Abiturienten quer über ihr Blatt schreiben sollten, sobald Ihnen ihre Aufgaben ausgeteilt werden.

Denn sagen wir’s doch mal, wie es ist: Abiturprüfungen sind heute so überflüssig wie ein Luftbefeuchter im Regenwald. Wer braucht denn in Zeiten von ChatGPT, Google und Wikipedia noch schnöde Menschen, die Antworten geben? Jeder noch so heruntergeranzte Heimcomputer kann Ihnen heute in Sekundenschnelle die dritte Ableitung von y = 4x/3 ausrechnen. Und jede halbwegs belesene künstliche Intelligenz Emilia Galotti analysieren. Sogar eine Glosse zum Thema Abitur können Sie sich heute von einem  Chatbot schreiben lassen! Also … äh … nicht, dass ich das ausprobiert hätte!

Wir Menschen und vor allem Jugendliche müssen endlich verstehen, was unsere Aufgabe in dieser neuen Welt ist: Fragen stellen! Denn sinnvolle Fragen erdenken, die einen selbst und die Menschheit wirklich weiterbringen - das können Computer noch nicht. Das weiß jeder, der sich schon mal beim Telefonbanking mit einem vollautomatischen Kundenberater unterhalten und nach dem dritten „Sie möchten einen Bausparvertrag eröffnen?“ entnervt aufgelegt hat.

Und es gibt so viele Fragen, die Schülerinnen und Schüler heute vollkommen zu Recht stellen könnten: Wie soll ich eine einigermaßen vernünftige Schulbildung bekomme, wenn gefühlt jede zweite Stunde wegen Lehrermangels ausfällt? Ist es angesichts der ungebremsten Klimaerwärmung und des mangelnden politischen Veränderungswillens besser, ein Abiturzeugnis in der Tasche zu haben oder einen Taschenventilator? Und die drängendste Frage für viele: Warum und vor allem wann soll ich denn überhaupt noch studieren, wenn demnächst die ersten Cannabisclubs eröffnen?

Also, liebe Abiturientinnen und Abiturienten: Schmeißt eure Aufgabenblätter aus dem Fenster, legt euer Handy auf den Tisch und sagt zu euren Prüfern: „Wenn Sie Antworten wollen, fragen Sie mein Smartphone. Wenn Sie dagegen wissen wollen, ob ich reif fürs Leben bin, hören Sie sich meine Fragen an. Denn wie schon Rousseau gesagt hat: ‚Man muss viel gelernt haben, um über das, was man nicht weiß, fragen zu können.’“

Vorher aber vielleicht noch schnell googeln, wer Rousseau ist. Und Henrik Ibsen. Nur falls jemand nachfragt.

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