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Was würden wir tragen?

Ich stehe vor meinem Kleiderschrank. Nein, um ehrlich zu sein, stehe ich vor einem Berg Klamotten, die scheinbar wahllos in irgendwelche Wäschekörbe gestopft sind und suche nach etwas Anziehbarem. Es ist schwer. Die Unordnung ist nicht mein Hauptproblem. Vielleicht kennt ihr es. Viel da, wenig passt.

Nicht größentechnisch. Da bin ich ganz gut aufgestellt. Aber was soll ich anziehen? Wie kombinieren? Worin sehe ich gut aus? Wie will ich wirken? Und ja, die nächste Frage ist tatsächlich: wo in aller Welt finde ich diese eine Bluse und den Body, die schon seit Monaten verschollen sind?

Ich bin ratlos

Also auf zu Pinterest. Pinterest regelt. Das macht es eigentlich immer. Mode, Einrichtung, und so weiter. Pinterest hat Antworten. Nicht für meinen verschwundenen Body, aber für nahezu alles andere. Ich wische und speichere. Meine Hände machen das schon automatisch. Die Welt ist voller schöner Outfits. Mittlerweile habe ich zwei Pinnwände voll mit Modeideen für mich. Ab und zu versuche ich, irgendwas davon nachzushoppen. Und scheitere dann irgendwie doch - nicht nur am übervollen Wäschekorb und meiner Unordnung, sondern auch daran, dass ich halt einfach nicht aussehe, wie ein neunzehnjähriges Supermodel.

Foto von Alyssa Strohmann (Opens in a new window) auf Unsplash (Opens in a new window)

Ich google nach Farbtypen und Trends. Ich habe Bock auf Mode. Das erste Mal in meinem Leben habe ich etwas Geld und Interesse. Und ja, ich habe auch neue Busis. Vermutlich spielt auch das für mein aufkommendes Interesse an schöner Kleidung eine Rolle. Sollte ich vielleicht mal eine Farbberatung machen? Oder reicht ein Online-Test? Vermutlich aber egal, denn:

Alle Welt trägt beige

und weiß und ein bisschen schwarz. Hellblaue Blusen gehen auch. Zumindest auf Social Media ist das so. Ich speichere und kaufe. Beigefarbene Hosen und Blazer. Schwarze Oberteile. Als ich dabei bin, eine hellblaue Leinenbluse in den Warenkorb zu legen, wache ich auf. Was in aller Welt mache ich hier eigentlich?!?

Bei meiner Begeisterung für schöne Kleidung und all meinen Onlinerecherchen habe ich mir eine Frage nie gestellt: was gefällt mir überhaupt? Um ehrlich zu sein: ich weiß es nicht. Nach Jahren, in denen das Geld knapp saß und ich angezogen habe, was im Schrank war und gekauft habe, was irgendwie halbwegs günstig war, bin ich in dieser Hinsicht ziemlich ratlos.

In all den Inste Reals sehe ich immer weiß und beige in Kombination mit goldenem Schmuck und teuren Handtaschen. Gut ausgeleuchtet und an instagrammable people sieht das richtig gut aus.

Aber bin ich andere Leute?

Gar offensichtlich bin ich keine neunzehnjährige Fashion-Influencerin, sondern ein normaler Mensch Mitte Vierzig: will ich überhaupt so herumlaufen? Ist es wirklich das, was mich erfüllt? Hab ich in meinem Leben wirklich von Nudetönen geträumt? Ich höre auf zu kaufen und beginne in mich hinein zu spüren. Ich beginne Ratlosigkeit und Unsicherheit auszuhalten und mir Fragen zu stellen.

Brauche ich wirklich ein Farbkonzept? Wie kann ich mir eine Capsule Wardrobe aufbauen, ohne überhaupt einen roten Faden zu kennen? Und: kann ein gutangezogener Mensch 2024 auch ohne Capsule auskommen? Ist am Ende nicht eh alles egal, weil ich gefühlt sowieso 24/7 in einem Dorf hänge, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen? Und:

Für wen möchte ich mich überhaupt schick anziehen?

Tja… Gerne würde ich hier schreiben, dass es mir absolut nur um mich selbst geht. Darum, mich wohl zu fühlen und für mein Innenleben auch im Außen eine Entsprechung zu finden. Gerne würde ich mich als absoluten Ausgangspunkt für meinen Stil sehen.

Aber ist das wirklich so?

Vermutlich bin ich kein Einzelfall. Es geht immer auch ums Außen. Wenn wir ehrlich zu uns sind, dann vielleicht mehr, als uns lieb ist. Würden wir uns sonst in (viel zu enge) Jeans quetschen oder Shapewear anziehen? Würden wir unsere Füße (zumindest für besondere Anlässe) in hohe Schuhe stecken, in denen es um ein Vielfaches unbequemer ist zu laufen, als in Turnschuhen? Träumen wir wirklich alle gleichermaßen von Weiß- oder Nudetönen? Und ändern wir wirklich mehrfach im Jahr komplett unseren Geschmack, so dass neue Schnitte und neue Farben in den Geschäften notwendig werden? Kommen wir wirklich alle zeitgleich auf die Idee, hautenge Jeans tragen zu wollen und ändern das ein paar Jahre später in Wide-Leg?

Rhetorische Fragen, schon klar…

Wir wollen gefallen. Gerade dann, wenn wir weiblich gelesen sind, werden wir an unserem Äußeren gemessen. Wir sollen nicht nur jugendlich und gut aussehen, im besten Fall sollen wir auch irgendwie modisch gekleidet sein.

Keine Ahnung, wie das in zwei Jahren ausschaut

Aktuell ist eine Variation von Nichtfarben angesagt. “Wow, du hast dich heute ja richtig schick gemacht!”, sagt eine Freundin zu mir. Sie arbeitet im Modegeschäft, muss es also wirklich wissen. Ich trage heute beige in beige von den Schuhen bis zum Leinenhemd und habe sogar an die dazu passende Longchamp Tasche gedacht. Alles richtig gemacht also.

Früher als Kind war Bunt war mein Lieblingsfarbe. Mein liebstes Kleidungsstück war eine Oililly Hose, die unfassbar bequem war, ungefähr drei Kleidergrößen mitwuchs und so große Taschen hatte, dass sogar mein Meerschweinchen darin sitzen konnte. Und klar: sie war bunt gemustert ohne Ende. Leute, ich sage euch: es war Liebe über viele Jahre hinweg!

Plötzlich muss ich an diese Hose denken. Daran, wie sorglos ich mich als Kind gekleidet habe. Möglichst bunt, möglichst bequem, mehr wollte ich gar nicht. Heute fühle ich mich dagegen in Nichtfarben ziemlich schick.

Liegt es daran, dass ich erwachsen bin?

Entspricht “Nude” einfach mehr meinem heutigen Selbst? Theoretisch wäre das ja möglich. Wenn ich nicht davon ausgehen müsste, vermutlich in ein paar Jahren (oder Monaten?) andere Farben und Schnitte auf Pinterest zu sammeln.

Wenige Tage später stelle ich erstaunt vor dem Spiegel fest, dass ich in meinem pinken T-Shirt absolut strahle. Offensichtlich ist das genau meine Farbe! Und ein Blick in meinen Kleiderschrank / Wäscheberg verrät mir, dass ich Rot und ein strahlendes Blau unfassbar liebe. Völlig vorbei an irgendwelchen Pinterest Trends besitze ich zahlreiche Kleidungsstücke in diesen Farben: angefangen von Schuhen über T-Shirts bis hin zu Pullovern. Keine Ahnung, ob es mir steht - aber ich mag es! Alles viel mehr Wohlfühlteile, als es Kleidung in nude , beige oder weiß jemals für mich sein könnten.

Anziehen, was uns gefällt

Es wäre so schön! Und klar: viele von uns (mich eingeschlossen) machen das sehr regelmäßig. Wir sind keine ferngesteuerten Roboter. Und doch, s.o. - irgendeinen Grund muss es geben, dass wir unsere Bäuche einziehen in engen Jeans und alle paar Jahre ein neues Farbschema Einzug hält in unsere Pinterest Boards. Je nach Person ein bisschen mehr oder weniger. Bei manchen orientiert an der breiten Masse (Pinterest), bei anderen eher an einer spezifischen Peergroup.

Ich frage mich, wo die Trennlinie liegt zwischen dem eigenen Geschmack und der Beeinflussung von Außen. Ich würde gern wissen, was wir tragen würden, wenn es kein Social Media und keine Zeitschriften gäbe. Was, wenn es einfach komplett egal wäre und niemand unserem Äußeren auch nur einen Augenblick Beachtung schenken würde? Welche Farben und Schnitte würden wir wählen?

Und spielt das für mich aktuell überhaupt eine Rolle?

Ich fühle mich wohl in beige-beige. Weil Zugehörigkeit (auch über Mode) ein Thema ist, das ich in viele Jahre lang nicht leben konnte. Ich fühle mich wohl in knallrot, strahlend blau und pink. Weil ich im Herzen halt immer noch acht Jahre alt bin und bunt ein gutes Lebensgefühl ist. Manchmal zwänge ich mich in enge Jeans. Aber um ehrlich zu sein, diese Tage waren schon immer selten. Weil wohlfühlen für mich einfach wichtiger ist als ein perfektes Outfit. Und wohlfühlen kann ich mich nicht, wenn es irgendwo zwackt oder ich permanent meinen Bauch einziehen muss.

Vielleicht darf ich das genau so annehmen: dass ein Rumgewurstel zwischen Pinterest Trends und bunten Lieblingsklamotten genau mein Ding ist. Dass ich nach Jahren, in denen Mode etwas war, an dem ich nicht teilhaben konnte, jetzt das Bedürfnis haben darf, dabei zu sein. Ich darf annehmen, dass wir alle (auch ich!) von außen beeinflusst werden und es fürs eigene Selbstgefühl eben nicht komplett egal ist, wie wir von außen wahrgenommen werden. Ich darf aushalten, dass ich gerne einen Plan hätte und noch immer keinen habe, genauso wie die Tatsache, dass ich Kleidung aus Wäschekörben ziehe.

All das bin ich

All das ist gut. Nirgendwo auf Pinterest gibt es dafür eine Anleitung. Vermutlich gibt es auch von niemandem einen Fashion Award dafür. Ich bewege mich irgendwo im Spannungsfeld zwischen “gut gekleidet” und “ist mir Wurst” - und es könnte keinen passenderen Stil für mich geben.

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