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Das doppelte Moralchen

Ob Paketband, Handywecker oder der prüfende Blick, ob man den Herd auch wirklich ausgemacht hat – einiges im Leben hält doppelt besser. Bei einer Sache allerdings verhilft die Verdopplung nicht zu mehr Verlässlichkeit: bei der Moral. Die Doppelmoral ist ein Problem. Sie ist der hässliche Zwilling der Moral. Wer doppelmoralisch handelt, ist ein Heuchler, ein Lügner, ein Wolf im Schafspelz.

Heute möchte ich das Wesen moralischer Flexibilität erörtern; also erstens besprechen, was es mit dem Vorwurf der Doppelmoral auf sich hat; und zweitens welche Stellung dieser Vorwurf im politischen Diskurs einnimmt.

Wir müssen uns, bevor wir sie verdoppeln können, fragen, was die „einfache Moral“ überhaupt ist. „Moral“ und „moralisch“ - beides Begriffe, die wir intuitiv, ohne groß zu überlegen und zudem meist richtig verwenden. Nichtsdestoweniger kämen die meisten von uns in definitorische Schwierigkeiten, hielte uns wer eine geladene Pistole an den Kopf mit der Aufforderung, innerhalb einer Minute eine brauchbare Definition von „Moral“ abzuliefern.

Ich verweise in meinen Ethik-Seminaren gerne auf folgende Definition: „Unter Moral versteht man ein Normensystem, dessen Gegenstand menschliches Verhalten ist und das einen Anspruch auf unbedingte Gültigkeit hat“ (Hübner, 2018, S. 13). Mag zunächst abstrakt wirken, ist aber prägnant. Vor allem unterstreicht diese Definition: Moral hat mit unseren Handlungen zu tun und wie wir sie bewerten, wobei überindividuelle Idealvorstellungen des Guten eine wichtige Rolle spielen. Wie sagte Erich Kästner so schön: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“

Anders formuliert: Moral ist das Regelwerk darüber, was man tut und was man lässt. Wir lernen dieses Regelwerk von klein auf. Wir bringen unseren Kindern bei, dass sie die Wahrheit sagen sollen. Dass Stehlen falsch ist, auch wenn sie nur eine Kleinigkeit stibitzen. Und dass man weder der Katze am Schwanz zieht noch dem Nachbarskind auf dem Spielplatz eins mit der Sandschaufel überbrät. Beides tut weh, das eine dem Tier, das andere der kleinen Tequila (Opens in a new window) (wirklich ein zugelassener Name in Deutschland: Tequila). Anderen eine geladene Pistole an den Kopf zu halten und eine formschöne Definition des Moralbegriffs einzufordern wäre – ihr habt‘s erraten – ebenfalls moralisch suboptimal.

Die Doppelmoral besteht darin, das Eine zu sagen und das Andere zu tun. Wir haben insofern gute Gründe, sie zu kritisieren. Es ist nachvollziehbar, doppelte Standards anzuprangern. Was ist der Tierschutz eines Tierschützers wert, der zu Hause seinen Hund tritt? Als Veganer sollte sich lieber nicht mit Mettbrötchen erwischen lassen. Und zu Recht zweifeln wir an der moralischen Vorbildfunktion einer Kirche, die die strafrechtliche Verfolgung krimineller Priester aktiv behindert (Opens in a new window).

Im Doppelmoral-Vorwurf zeigt sich oft berechtigte Kritik. Ebenso oft wird der Vorwurf, das Eine zu sagen und das Andere zu tun, allerdings verwendet, um andere zu diffamieren. So ist „#Langstreckenluisa (Opens in a new window)“ zur rechten Hashtag-Kampagne gegen Umweltschützerin Luisa Neubauer geworden. Ihr Vergehen: Sie war in den Urlaub geflogen. Die Klatschpresse geilt (Opens in a new window) sich geradezu auf an der Tatsache, dass auch Klimaschützer gern mal fernfliegen. Schlagzeilen machten zum Beispiel zwei Mitglieder der Letzten Generation, die sich einen Bali-Urlaub gönnten. Hans-Joachim Schellnhuber (73) wiederum, einer der weltweit renommiertesten Klimaexperten, wurde – Skandal, Skandal! – erst diesen Juli genötigt, auf Interviewlänge (Opens in a new window) zu erklären, warum denn er, ja ausgerechnet er, einen Inlandsflug nahm (Spoiler und Überraschung: er hatte es eilig, die Zugverbindung war schlecht). Und ich selbst nehme mich nicht aus. Auch ich finde Inlandsflüge problematisch, wenn nicht gar moralisch falsch. Als ich mir vor ein paar Wochen ein paar Tage Urlaub in Luxemburg gönnte, flog ich jedoch hin, obwohl mir komplett klar ist, dass ein Kurzstreckenflug nicht automatisch legitim wird, nur weil die Flugdestination zehn Kilometer hinter der bundesrepublikanischen Ländergrenze liegt. Ich hätte, ebenso wie Herr Schellnhuber, gerne eine schnelle, gute, bezahlbare Zugverbindung genommen – nur gibt’s die halt nicht. Also stieg ich in den Flieger. In meinem Buch schreibe ich dazu: "Die Hölle, das sind die Inlandsflüge der anderen."

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