Und plötzlich merke ich, dass ich an meinem sicheren Hafen gelandet bin.
In einem BBC-Interview (Opens in a new window) wurde der isländische Komponist und Multiinstrumentalist Ólafur Arnalds anlässlich des Starts seiner neuen Radiosendung Ultimate Calm (Opens in a new window) gefragt, was ihm die größtmögliche Ruhe verschaffe. Schon seine Antwort, die sofort Bilder in meinem Kopf wachruft, hat eine beruhigende Wirkung:
Die meisten von uns haben diese Orte, an die wir gerne gehen, wo wir Ruhe finden können. Eine Art sicheren Hafen. Für mich wäre das früh am Morgen, bevor die Sonne aufgeht, wenn du den Morgentau unter deinen Zehen spüren kannst. Und du das Gras und die Bäume riechst und die Fülle der Natur wahrnimmst. Es ist dieser Moment kurz bevor die Sonne zurückkommt und deinen Körper mit Wärme und Freude für den kommenden Tag erfüllt.
Diese Art der Stille sei nichts, das ihm leicht falle und einfach zu ihm komme. Aber es sei etwas, dessen Bedeutung er kürzlich entdeckt habe. Deshalb beginnt er jetzt im BBC-Radio eine zwölf Episoden lange Reise in die Stille, die er mit verschiedenen Formen der klassischen und Ambientmusik erkunden will.
Es gibt viele Formen der Stille. Für mich hat sie viel mit Zuflucht, Sicherheit und Geborgenheit zu tun, aber auch mit dem Gefühl von Ursprünglichkeit und Reduzierung auf das Wesentliche. Es gebe eine Stille um uns herum und eine Stille, die wir in uns hätten, schreibt der norwegische Bergsteiger und Autor Erling Kagge in seinem 2017 auf Deutsch erschienenen Buch Stille. Ein Wegweiser. Es erscheine ihm wenig sinnvoll, Geräusche in Zahlen zu messen. Die Stille sei eher eine Idee, ein Gefühl, eine Vorstellung. "Die Stille um dich herum kann viel enthalten, aber für mich ist die interessanteste Stille diejenige, die in mir ist."
Meine letzte Reise in die Stille ist erst wenige Tage alt: Ich sitze im Zug Richtung Norden, um ein paar Tage an der See zu verbringen. Als ich über den Hindenburgdamm nach Westerland fahre, merke ich auf einmal, wie ich den von Aufgaben und Erwartungen gefüllten Alltag hinter mir lasse und mich öffne für einen anderen Zustand. Ich schaue aus dem Fenster. Der Wind streicht durch Gräser und Schilf, Schafe rennen über den Deich, kleine Vogelschwärme formieren sich am Himmel. Hin und wieder scheint die Sonne durch die Wolken, das Licht spiegelt sich im Wasser.
Und plötzlich merke ich, dass ich an meinem sicheren Hafen gelandet bin. Es liegt eine Einfachheit, eine Klarheit in diesem Dasein am Meer. Es ist auch der Ausdruck von Beständigkeit, der von diesem Moment ausgeht. Alles in meinem Leben ist in Bewegung. Die Nachrichten zeigen mir eine Welt, die sich in einem tiefgreifenden Wandel befindet. Ein Wandel, der das Ende einer alten, vertrauten Welt zu markieren scheint.
"Auf der Suche nach dem Glück", ein Bild der Künstlerin Lena Nikcevic (Foto: Verena Haegler), ist das Titelmotiv meines heutigen Newsletters, den du auch online aufrufen (Opens in a new window) und mit anderen Menschen, die den Newsletter noch nicht abonniert haben, teilen kannst. Lena Nikcevic thematisiert in ihren Werken die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens. Ihre Bilder führen oft zu mythischen Orten wie Wäldern, Seen und Bergen und schaffen einen Zugang zu den Träumen und Visionen des Betrachtenden. Weitere Werke und Informationen über die Künstlerin findest du auf ihrer Webseite (Opens in a new window) und in ihrem Instagramprofil. (Opens in a new window)
Als ich das letzte Mal über den Hindenburgdamm gefahren bin, war ich 16 Jahre alt. Das ist fast 20 Jahre her. Ein Viertel eines Menschenlebens. Doch ich erinnerte mich noch recht gut und erkannte viele Orte auf der Insel wieder. Was sich in meinem Leben in 20 Jahren verändert hatte, und hier auf Sylt, schien für mich in keinem passenden Verhältnis zu stehen. Die Zeit schien hier anders zu verstreichen, langsamer. Es wundert mich nicht, dass die Einwohner*innen der Insel vor dem Bau des Damms große Vorbehalte hatten. Es war die Entscheidung, eine direkte Verbindung zur Welt draußen aufzunehmen und den eigenen Rhythmus der Insel damit ein stückweit aufzugeben.
Ich möchte kein Leben auf einer Insel verbringen, aber ich möchte eine Insel haben, auf die ich zurückkehren kann. Es ist erst der Rückzug, der die notwendige Distanz schafft, um einen eigenständigen und unbefangenen Blick auf das Leben zu werfen, das ich führe. Es ist eine große Freiheit, das eigene Leben verlassen zu können, sich dem Unbekannten hinzugeben und gar nicht so selten unverhofft Vertrautes in der vermeintlichen Fremde zu entdecken.
Seit Beginn der Pandemie bin ich weniger verreist als zuvor. Erst auf der Fahrt nach Sylt habe ich gemerkt, wie sehr ich das flache Land Niedersachsens und die Weite der Nordsee vermisst habe. Es fühlte sich an wie eine Rückkehr. Diese Rückkehr zu dem zweiten, dritten und vierten Zuhause, zu den Orten der Zugehörigkeit, die jede*r von uns in sich trägt, ist für mich eine der wertvollsten Erfahrungen überhaupt.
Wenn diese Orte gerade nicht erreichbar sind, dann hilft mir ein innerer Ort, der als Zuflucht dient. Ich bin, genau wie Ólafur Arnalds, sehr sicher, dass alle Menschen eine Vorstellung davon haben, wie dieser innere Zufluchtsort aussieht oder wie wir uns in einen Zustand des zeitweiligen Entfliehens aus unserer hektischen Lebenswelt begeben können. Bei mir sind das bestimmte Personen, bestimmte Dinge und bestimmte Tätigkeiten, die eine Insel für mich darstellen. Einer der sichersten Häfen war für mich schon immer die Musik. Vor allem klassische Musik ermöglicht es mir, mir aus dem oft schnellen und stressigen Alltag einen Weg in einen anderen, ruhigeren Daseinsmodus zu bahnen. Dieser Modus ist für mich von existenzieller Bedeutung. Gerade in der Coronazeit, in der es mir schwerer als jemals zuvor gefallen ist, eine emotionale Verbindung zur Welt aufzubauen, habe ich sehr viel Musik gehört. Laut meinem Nutzerprofil bei Lastfm (Opens in a new window) hatte ich seit zehn Jahren nicht mehr so viel Musik gehört wie im Jahr 2021.
Es gibt auch Gründe dafür. Ich erzähle das nämlich nur deshalb, weil ich diese Erfahrung mit vielen anderen Menschen teile. Eine Freundin von mir, die Wissenschaftsjournalistin Lara Malberger, schrieb im Juli 2021 bei Perspective Daily (Opens in a new window) über eine groß angelegte internationale Studie (Opens in a new window), die zeigte, dass Musik uns helfen kann, Krisen besser zu überstehen. Die Forschenden hätten herausgefunden, "dass Menschen, die aufgrund der Pandemie mit negativen Emotionen zu kämpfen hatten, Musik in erster Linie bei der Regulierung von Depressionen, Angst und Stress half." Aber auch Menschen, die trotz Pandemie eher positiv gestimmt waren, nutzten Musik als Ersatz für soziale Interaktionen, schreibt Lara. "Ihnen vermittelte die Musik laut den Forschenden sowohl beim Zuhören als auch beim Musizieren ein Gefühl der Zugehörigkeit und Gemeinschaft."
Jetzt befinden wir uns wieder in einer Zeit, die uns vieles abverlangt und die uns nicht immer ermöglicht, zuversichtlich zu sein. Wieder müssen wir herausfordernde negative Emotionen wie Angst, Existenzsorgen und Stress regulieren. Und wieder ist Musik für mich etwas, was mich auffängt und die Möglichkeit eines Rückzugs bietet, aus dem ich neue Kraft schöpfe.