"Wir stellen keine Fragen, wir geben Antworten."
Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass ich einen fast fertig geschriebenen Newsletter diese Woche nicht verschickt habe. Ein Grund ist, dass es mir eben nur fast gelungen ist. Ich hatte wenig Zeit zum Arbeiten, weil die Kinder krank waren und nicht in die Kita konnten. Traurig bin ich darüber nicht. Mein Sohn kann seit dieser Woche pfeifen. Ich saß auf dem Sofa, habe etwas gelesen, als ich plötzlich festgestellt habe: Moment, er pfeift!
Ich bin inzwischen ganz gut darin geworden, zu akzeptieren, dass ich nicht arbeiten kann. Während ich, an einem anderen Tag diese Woche, mit meiner Tochter im Schaukelstuhl saß und versucht habe, meine verlorene Textsicherheit bei Weihnachtsliedern zurück zu gewinnen, liefen in meinem Postfach neue E-Mails auf, meine Timelines in den sozialen Medien füllten sich mit ungelesenen Posts und die Aufgaben, die ich zu erledigen hatte, wurden so auch nicht weniger.
Es liegt wahrscheinlich daran, dass ich seit diesem Jahr selbstständig bin, dass es mir leichter fällt, Aufgaben liegen zu lassen und mich voll auf die alltäglichen Tätigkeiten in Familie und Haushalt einzulassen. Als ich noch angestellt war, glaubte ich, ständig erreichbar sein zu müssen. Ich merkte irgendwann, dass mich die digitale Präsenz bei Microsoft Teams deutlich mehr stresste als die physische Präsenz im Büro. Ich arbeitete im Homeoffice zwar sehr flexibel, doch die Pausen, die ich machte, fühlten sich irgendwann nicht mehr wie Pausen an, der Feierabend nicht mehr wie Feierabend und der Morgen nicht mehr wie ein Morgen, sondern wie der Arbeitsbeginn.
Aber dass ich besser darin geworden bin, berufliche Arbeit auch mal liegenzulassen, liegt nicht nur an meiner in der Freiberuflichkeit gewonnenen Unabhängigkeit. Es ist auch ein Lernprozess. Zum Glück hinterlässt es auch in meiner Lebens- und Denkweise Spuren, dass ich mich intensiv mit Zeit auseinandersetze. In einem früheren Newsletter habe ich bereits über meine Einsicht geschrieben, dass Arbeit einer von vielen Lebensbereichen ist und nicht so etwas wie der primäre Lebensbereich, von dem sich alles andere ableitet. Im Mittelpunkt meines Lebens steht nicht die Arbeit. Im Mittelpunkt meines Lebens stehe ich. Es gibt nicht zwei Lebensbereiche, Arbeit und Freizeit, die sich konkurrierend gegenüberstehen. Es gibt nicht zwei getrennte Hälften, sondern viele gleichberechtigte Bestandteile meines Lebens,schrieb ich. (Opens in a new window)
Dass ich mich heute nachmittags, wenn meine Frau die Kinderbetreuung übernehmen kann, dagegen entscheide, mich an den Schreibtisch zu setzen und stattdessen entscheide, nach draußen zu gehen, um Holz für den Ofen zu hacken und mich dabei mindestens genauso gut fühle, ohne schlechtes Gewissen, darüber bin ich wirklich froh. Es ist aber auch kein Wunder. Der Soziologe Hartmut Rosa behauptet, Menschen erfülle die Ausübung von Tätigkeiten dann mit Freude und Glück, wenn sie ihren tätigkeitsbestimmenden Endzweck in sich selbst tragen: "Das Backen eines Brotes oder das Hacken von Holz kann in diesem Sinne als ungemein befriedigend erlebt werden", schreibt er in seinem Buch Resonanz.
Ich glaube, dass viele Menschen Selbstwirksamkeits- und Resonanzerfahrungen vor allem in ihrer beruflichen Tätigkeit suchen. Ich kenne das auch, dass ich nach Phasen der Betreuungs- und Haushaltsarbeit endlich am Schreibtisch sitze und bei meiner Arbeit vorankomme. Als ich aber diese Woche in einem Beitrag bei Linkedin las, wie eine Mutter diese Rückkehr von der Care-Arbeit in die berufliche Arbeit beschrieb, war ich erschrocken. Sie sprach darin von einem "High" nach Kinderkrankentagen, von Wiedergutmachung, nachdem die eigenen Bedürfnisse tagelang unterdrückt worden seien. Sie sprach von der eigenen Zeit, die einem dann wieder zur Verfügung stehe. Vielleicht ist das einfach unglücklich ausgedrückt oder mein Verständnis von Arbeit und von Zeiten der Fürsorge ist einfach anders. Eine größere Form von Selbstwirksamkeit, als meine Kinder dabei zu begleiten, wieder gesund zu werden, kann ich mir kaum vorstellen. Ich unterdrücke damit kein eigenes Bedürfnis, denn in diesem Moment ist es mein Bedürfnis, Fürsorge zu leisten und es ist meine Zeit und nicht Zeit, die mein Kind von mir nimmt.
Ich habe den Newsletter also nicht fertig geschrieben. Dafür war ich dabei, als mein Sohn mit dem Pfeifen anfing. Und ich habe jetzt eine warme Wohnung. Aber es gibt noch einen anderen Grund dafür, dass es diese Woche noch nicht den planmäßigen Newsletter gab...
Es hängt damit zusammen, dass ich scheinbar ein Problem damit hatte, einen Newsletter mit dem vorgesehenen Titel Ich habe mehr Fragen als Antworten zu verschicken. Lesen denn nicht Menschen meinen Newsletter, weil sie sich für das Thema Zeit interessieren und von jemandem, der sich viel damit beschäftigt, Antworten auf Zeit-Fragen verlangen?
Es gibt sogar aktuell eine ganze Menge zu diesem Thema zu sagen: Die zweiwöchige Freistellung für Väter nach der Geburt eines Kindes soll eingeführt werden, aber erst im Jahr 2024. Wie finde ich das? Gut, weil es so wichtig ist, oder schlecht, weil es so spät passiert? Bayerns Arbeitsministerin will den 12-Stunden-Arbeitstag gesetzlich ermöglichen, um der modernen Arbeitsrealität gerecht zu werden. Ein Skandal! Oder etwa nicht? Und was ist mit der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung? Was gibt es denn dazu zu sagen? Die Ergebnisse des britischen Pilotprojekts zur 4-Tage-Woche liegen vor. Sie zeigen große Erfolge mit diesem Modell. Es ist die Lösung, das Arbeitsmodell der Zukunft, oder?
ODER?!
Ein Ausschnitt aus dem Bild Stairway to heaven – part I von Lena Nikcevic (Opens in a new window)
Ich habe zu Beginn meiner journalistischen Laufbahn nicht nur einmal den Satz gehört: "Journalisten stellen keine Fragen, sie geben Antworten." Wenn sich um 17.30 Uhr die anwesenden Redakteur*innen zur Abendkonferenz einfanden und irgendwo auf den Bildschirmen mit den Zeitungsseiten des nächsten Tages eine Überschrift mit einem Fragezeichen endete, dann war das die Bemerkung, die der Chefredakteur häufig fallen ließ. Einen Text mit einer Frage zu betiteln war zwar nicht direkt verboten, kam aber praktisch nie vor.
Ich fand den Satz irgendwie gut. Die Rolle des Antwortenden gefiel mir, nach vielen Monaten, die ich unbemerkt von der Außenwelt mit meiner Abschlussarbeit verbracht hatte. Jetzt schrieb ich auf einmal Leitartikel auf der Seite 2 und wusste, dass viele Menschen sie am nächsten Morgen am Frühstückstisch lesen würden. Meine Antworten. Ist es denn nicht die Aufgabe eines Journalisten, Orientierung zu geben? Antworten auf die wichtigen Fragen der Zeit? Antworten zu können, das bedeutet auch, in einer Machtposition, überlegen zu sein, Einfluss zu nehmen. (Jedenfalls reden sich viele Journalist*innen das ein.)
Mit der Zeit zweifelte ich an diesem journalistischen Selbstbild. Sagen, was ist, wer kann das schon? Je mehr ich mich mit den komplexen politischen Sachverhalten beschäftigte, desto differenzierter wurde das Bild, desto deutlicher wurde auch, dass mir noch Informationen fehlten, um ein abschließendes Urteil abgeben zu können. Ich brauchte selbst Antworten, um anderen Orientierung bieten zu können. Ich musste Fragen stellen.
In der Rolle des Fragenden, des Suchenden habe ich mich schon immer wohler gefühlt. Die eigentliche Aufgabe als Journalist sehe ich darin, Fragen zu stellen. Anderen Gehör zu verschaffen, denen es schwer fällt, Gehör zu finden. Denen, die sich mit einer Sache besser aukennen als ich und meine Leser*innen. Erst einmal: Fragen, was ist.
Oft sind es Fragen, nicht Antworten, die mir Klarheit über etwas verschaffen. Eine Frage, die auf den Kern eines Problems zielt, beschäftigt mich länger als eine schlüssige, sauber argumentierte Antwort, für dessen Gegenposition ich schon in kürzester Zeit ebenso saubere Argumente gefunden habe. Fragen regen zum Nachdenken an, sie provozieren andere Sichtweisen und helfen bei der Fokussierung, der Einkreisung eines Problems.
Ich erzähle natürlich keine Neuigkeiten. Schon der griechische Philosoph Sokrates wusste, dass gezieltes Fragen den größten Erkenntnisgewinn bringt. Mit seiner Fragetechnik, die als sokratischer Dialog bezeichnet und heute in Psychotherapien und Coachings eingesetzt wird, gelang es ihm, sein Gegenüber nicht durch Antworten, sondern durch gezieltes Fragen selbst auf die Lösung eines Problems zu bringen. Er bohrte immer weiter nach, um das Anliegen seines Gegenübers zu verstehen (Kannst du mir ein Beispiel geben?), fragte nach den Annahmen, die sein Gegeüber zugrunde legt (Ist das immer der Fall?), nach dessen Gründen und Beweisen (Woher weißt du das?), nach Alternativen und Gegenargumenten, nach Folgen und Konsequenzen, und nahm schließlich eine Metaebene ein: Was glaubst du, warum ich dich das gefragt habe? Was könnte ich noch fragen? So half er seinem Gegenüber dabei, die Antworten zu finden, die er selbst schon in sich trug.
Sokrates galt als weisester Mensch seiner Zeit. Doch er selbst empfand sich nicht als weise. Ich weiß, dass ich nichts weiß, dieser berühmte Satz stammt von ihm. Seine Weisheit bestand darin zu wissen, welche Grenzen sein Wissen hat. Wer nicht weise und nicht kompetent in einer Sache ist, kennt diese Grenzen nicht.
Ich habe den Eindruck, dass die Bedeutung des Fragenstellens wieder an Bedeutung gewinnt. Vielleicht ist es eine Gegenbewegung zu der Allgegenwärtigkeit von Meinungen, Haltungen und Positionen in den Medien. Vielleicht wächst da das Bedürfnis, dass wir uns nicht mehr nur mit unversöhnlichen, längst fest gefahrenen Ansichten gegenüberstehen, die wir uns vor die Füße werfen. Sondern dass wir uns fragend gegenüberstehen: Woher weißt du das? Kannst du mir ein Beispiel geben?
Ich gebe mal ein Beispiel, ein vermutlich sehr bekanntes: Matze Hielscher hat die Kunst des naiv-zugewandten Fragens in seinem Podcast Hotel Matze perfektioniert und sogar ein Spiel mit dem Titel "Darf ich dich das fragen?" herausgebracht. Er sagt: "Ich würde behaupten, dass Fragen mich sehr gut durch mein Leben navigieren. Ich verstehe dadurch nicht nur mein Gegenüber, sondern auch mich selbst besser. Ich bin überzeugt: Wenn wir uns besser verstehen wollen, dann müssen wir uns mehr fragen!"
Der ebenfalls sehr erfolgreiche Podcaster, Autor und Musiker Michael Sebastian Kurth (manchen besser bekannt als Curse), hat ein Buch mit dem Titel "199 Fragen an dich selbst" herausgebracht. Die meisten Fragen darin haben das Potenzial, mich stundenlang zu beschäftigen. Zum Beispiel:
Welchen Preis zahlst du dafür, akzeptiert zu werden?
Oder:
Stell dir vor, du könntest morgen ein völlig neues Leben beginnen, an einem fremden Ort, wo niemand dich kennt. Was würdest du hinter dir lassen?
Jetzt müsste mich vielleicht jemand fragen, warum ich gerade so viel über Fragen nachdenke. Kannst du das näher erläutern? Vielleicht liegt es daran, dass ich seit einiger Zeit nicht mehr nur Journalist bin, der am liebsten Fragen stellt. Ich schreibe seit mehreren Jahren Texte über das Thema Zeit, ich habe ein Buch veröffentlicht, schreibe diesen Newsletter und spreche manchmal in Diskussionen, Vorträgen und Interviews über das Thema. Fast jedes Mal habe ich mir die entsprechende Veranstaltungs-Beschreibung durchgelesen und gedacht: Klingt interessant! Auf die Fragen, die dort gestellt werden, hätte ich auch gern Antworten. In einem Interview wurde ich gefragt: "Wenn ich mich nun auf den Weg mache, zeitsouverän zu handeln. Womit sollte ich beginnen?" Gute Frage! Ein Podcast (Opens in a new window) wurde angekündigt mit der Frage, was es braucht, damit wir uns in eine Zeitwohlstandsgesellschaft transformieren können. Auch eine gute Frage. Ich hätte gern einfach zugehört. Aber ich sollte selbst sprechen.
Ich bin wirklich froh über diese Gelegenheiten und spreche gerne darüber, statt nur zu schreiben. Ich freue mich jedes Mal über den Austausch mit anderen. Über die Erfahrungen, die ich nicht gemacht habe und über Sichtweisen, die ich bisher übersehen habe. Ich teile, was ich weiß – und das, was ich nicht weiß.
Dazu gehört auch, dass ich sagen muss: Ich glaube, dass die 4-Tage-Woche ein neues Leitbild für die Arbeitswelt der Zukunft sein kann. Aber vielleicht täusche ich mich auch. Ich weiß es nicht. Ich glaube, es gibt kein perfektes Arbeitszeitmodell. Der 12-Stunden-Arbeitstag ist ein Skandal, ja, aber auf den zweiten Blick kann er auch Gutes bewirken. Ich tue mich schwer mit absoluten, geschlossenen Aussagen, mit plakativen Forderungen, mit klarer Kante, auch wenn sie leicht zu verstehen ist und sich das gut verkauft. Ich kann aber nicht anders, als weiter zu suchen und Fragen zu stellen.