Wort trifft Bild
Wenn die Kolumnistin ihre Illustratorin besucht…
…wird getanzt. Gelacht. Geredet. Gekocht. Getrunken. Gespielt. Spaziert. Ins Restaurant gegangen. Theaterpremieren gefeiert. Yogiert. Geschlafen.
„Guck mal, hab ich letztens auf dem Flohmarkt gekauft“, sagt Sophie und strahlt. Sie hält mir zwei Kleider entgegen mit exakt identischem Schnitt aus Samt in Rot und Blau. „Für die Theaterpremiere morgen!“ Da klingelt ihr Handy, sie stöhnt ein bisschen „schon wieder Oma Inge“ und geht ran. Oma Inge macht sich Sorgen, ihr Sohn Joachim, Sophies Papa, ist verschwunden. Normalerweise telefonieren die beiden jeden Freitag zur selben Uhrzeit, passiert das nicht, ist Inge in heller Aufregung und macht alle um sich herum verrückt. Sophies Telefon wird an diesem Abend und auch am nächsten Morgen mehrfach klingeln.
Ich betrachte die Samtkleider genauer und mein Herz klopft ein bisschen schneller, so richtig schick ins Theater gehen ist schon lange her und dann auch noch irgendwie im Partnerlook ist ein bisschen wie früher. Eine Mischung aus kleiner Mädchen-Prinzessinnen-Fantasie und erwachsenem Ausgehen. „Ich möchte das blaue“, sage ich zu Sophie und sie nickt. Ich sehe uns schon über einen roten Teppich schweben und im goldenen Licht des Theaters ein Glas Clement schlürfen.
Tiefgefroren
Als wir in der WG-Küche sitzen, übrigens eine „Erwachsenen-WG“, hier wohnen keine Studierenden, fühle ich mich sehr anders. Frei und wild wie eine rausgelassene Mami, und freue mich über dieses Stück Alltagsflucht. Nicht, dass ich nicht glücklich wäre mit meinem Leben, wie es ist, aber manchmal tut es einfach so unfassbar gut ein bisschen woanders einzutauchen. Kaum ist der Gin-Tonic eingegossen und die Gurke sprudelt, ruft Oma Inge wieder an und macht sich Sorgen. Joachim ist noch immer verschollen. Sophie telefoniert wieder herum und ärgert sich, dass sie in dieses Drama mit hineingezogen wird. „Nur, weil mein Papa es nicht hinbekommt, seiner Mutter mal zusagen, dass sie nicht immer zur gleichen Zeit sprechen müssen. Am Ende sitzt er in irgendeiner Kneipe und schlürft gemütlich sein Feierabend-Bier.“, sie nimmt jetzt auch einen großen Schluck und wir fragen uns alle wie es kommt, dass Omas sich immer solche Sorgen machen. Seit meine Mama eine Oma ist, macht sie sich auch mehr Sorgen um mich, vor allem wenn ich alleine wegfahre. Ist das wohl so ein Oma-Ding, überlegen wir und sind ein bisschen gespannt, ob wir im Alter auch so sorgenvoll werden.
Der erste Tonic ist durchgelaufen und als ich nach dem Klogang einen Blick auf mein Handy werfe, glänzen die Samtkleider im Schein der Straßenlaterne. Ich habe den Eindruck, sie rascheln verheißungsvoll und wollen mir schon einmal mitteilen, wie gut es werden wird, eines von ihnen morgen zu tragen. Zurück in der Küche gibt es Kürbis aus dem Ofen, heiß und dampfend. Wir verbrennen uns kollektiv die Zunge und ich muss unwillkürlich an einen ehemaligen Mitbewohner aus meiner WG-Zeit denken. Seinen Namen habe ich vergessen, aber seine sehr besondere Art zu essen nicht. Er fror nämlich alles ein. „Alles?“, fragten Sophies Mitbewohner:innen im Chor. „Alles“, versicherte ich ihnen. Er stand morgens sogar eher auf, um sein Müsli tiefzufrieren, dann ging er noch mal schlafen. Wenn es Zeit zu essen war, kratzte er die oberste Schicht ab und stellte die Schüssel wieder in den Kühlschrank. Im Winter heizte er nicht und lies immer das Fenster offen, damit sein Essen länger kalt blieb. Er saß dann in voller Bekleidung mit Schal und Mütze am Küchentisch. Bei einem Besuch meiner Eltern, hörte meine Mama ihn auch Müsli kratzen und nachdem wir am Abend zuvor das Schweigen der Lämmer geschaut hatten, befahl sie mir: „Ich will das du ausziehst, ich hab Angst, der Kerl schlachtet dich und friert dich ein.“ Also zog ich aus.
Vom Tanzen und Schlafen
In einer anderen WG hatte ich solch fantastische Mitbewohner:innen, dass wir bis heute befreundet sind. Nach dem dritten Gin-Tonic, als wir uns gerade in den Flur zum Tischtennis-Spielen begeben hatten, hörte ich die samtigen Kleider wieder flüstern. Aber wahrscheinlich lag das am Alkohol. Dieser angenehme erste Schwipps zusammen mit den neuen Menschen und der Gemütlichkeit einer Wohngemeinschaft, ließen meine Fantasien auf Hochtouren fahren. Wie schön das alles ist, nach all den Corona-Monaten.
Wir gehen in einen Club namens „Oma-Doris“. Schon in der Schlange höre ich den Bass wummern. Die Türsteher sind sehr vertrauenserweckend. Sie kontrollieren meinen Impfnachweis und den Personalausweis. Wer nicht beides vorweisen kann, darf nicht rein. Jacken abgeben und Treppe hoch: vor mir eine alte Kneipe wie zu Omas Zeiten eben. Harte Beats und Bässe erfüllen den Raum, alles scheint zu beben, die Leute tanzen, schmeißen sich hin und her, grölen, lachen, klatschen, hüpfen. Und obwohl mir die Musik nicht hundertprozentig zusagt, packt mich der Rausch. Der unbändige Rausch des Tanzens, Corona scheint vergessen, keiner trägt eine Maske, alle sind sich sehr nahe, schwitzen und die Luft ist stickig. Die Musik ist so laut, dass ich die letzten skeptischen Stimmen in meinem Kopf vergesse. Sophie und ich tanzen, als hätten wir nie eine Pause gemacht, ich bebe und lache und trinke und zwischendrin könnte ich weinen vor Glück. Ein Typ kommt zu uns, gibt uns Bier aus, einfach nur weil wir so viel Spaß beim Tanzen haben. Er hätte lange nicht mehr so herrlich gelacht, sagte er. „Ich auch nicht“, schreie ich ihm zu, aber ich bin schon zu heiser, als das er mich hören könnte. Um sechs Uhr morgens falle ich erschöpft ins Bett, das seichte Glänzen der Samtkleider ist das letzte, bevor mir die Augen zufallen. Wir schlafen bis 15.30 Uhr. Verrückte, alte, neue Welt.
Angenehmes Miteinander
Ich schlafe diesen wirren, tiefen und doch unruhigen Schlaf einer durchgemachten Nacht. Dieser Schlaf, aus dem man plötzlich erwacht und dann gleich wieder einschläft. Dieser Schlaf, wenn man träumt, auf dem Klo zu sitzen und dann sehr ruckartig aufschreckt und zum Klo rennt. Dieser Schlaf, bei dem man wegen einer trockenen Kehle aufwacht und nach dem Trinken zurück ins Koma fällt. Dieser Schlaf ist nicht erholsam, aber irgendwie fühlt man sich doch gut. Ich erwache und habe einen Bärenhunger. Sophie brät Ei und ich mahle frischen Kaffee. Gegen 17 Uhr steht die Mitbewohnerin vor uns und fragt, ob es noch Kaffee gibt und ich dachte, solche Situationen passieren mir nie wieder. Wir machen noch einen kleinen Spaziergang und trinken am Kioskausschank der Bergamannbrauerei ein Konterbier, bevor wir uns endlich ins Samt schmeißen. Der blaue Stoff umspielt mich und fühlt sich seltsam plastisch auf meiner nackten Haut an, dafür sehr festlich. Wir flitzen zum Theater, weil wir spät dran sind, stürzen den Sekt hinunter und sitzen mit Maske und Abstand gerade rechtzeitig auf unseren Plätzen. Hier galten für den Einlass dieselben Regeln wie im Club, aber trotzdem ist alles anders. Hier ist Corona präsent. Wir passen mit unseren Kleidchen wunderbar zu den Sitzen und auch zur Bekleidung der Schauspieler. Das Stück handelt von einer Vater-Tochter-Bezieung und ist leider nicht so gut, wir schlafen ein bisschen ein und sind froh, als wir im Schlafanzug auf dem Sofa sitzen. Wir versuchen noch einen Film zu schauen, aber gegen die Müdigkeit einer durchtanzten Nacht haben wir keine Chance. Unsere Dynamik stimmt und wir sind sehr dankbar um unsere Beziehung, wir hatten fast vergessen, wie wohl wir uns miteinander fühlen.
Am nächsten Morgen liegen die schönen Samtkleider als gemeinsames Knäuel auf dem Boden und müssen in die Wäsche, so wie wir auch. Vorher eine Runde Yoga zum Wachwerden. Geduscht und frisch geht es wieder an den Frühstückstisch. Als ich Sophie diese ersten Zeilen vorlese, staunt sie nicht schlecht: „Das haben wir alles schon erlebt?“ Ich stimme ihr zu und bin selber beeindruckt, wie wir es schaffen konnten, an zwei Tagen so viel zu machen. Freitag im Zug überlegte ich mir eine Liste zu erstellen, mit all den Menschen und Themen, die ich dieser Tage bearbeiten wollte. Ich traf in Köln einen alten Freund, der mir von seiner Beziehung erzählte und sehr unglücklich ist. Ich riet ihm zur Paartherapie, aber er glaubt nicht mehr dran. Und ich frage mich, wie Menschen erst zueinanderfinden und sich dann so verlieren können.
Lange denken Sophie und ich darüber nach und kommen nur zu einem Schluss: Bei uns stimmt es dieses Wochenende. Sophie sagt, ihre Mama nennt es das „Feinstoffliche“ zwischen zwei Menschen. Das dazwischen. Unsere Dynamik passt und wird geprägt durch ein ausgeglichenes „Rede-Zuhör-Verhältnis“. Wir beide sind auf einem ähnlichen Dampfer. Ecken nicht an. Guter Flow. Einfaches Miteinanders. Unkompliziert.
Unsere Geschichte begann vor vielen Jahren in einem Park mitten in Berlin-Köpenick. Hier trafen sich einst ein paar junge Leute, um gemeinsam zu feiern. An einem dieser Abende, wir wissen es nicht mehr genau, fanden wir zueinander. Waren mal mehr, mal weniger miteinander verbunden, gingen durch kleine und große Krisen, hatten viel und selten Kontakt. Heute ist Sophie nicht nur meine Freundin, sondern illustriert auch meinen RauschVonWorten. Kurz bevor wir an diesem Sonntag gegen 23.00 Uhr einschlafen, schaffen wir es noch einmal hoch, gehen noch mal tanzen, geben uns dem Rausch der Nacht hin und wissen genau, wie besonders es gerade ist. An meinem Reisetag wecke ich meine Illustratorin nicht, schließlich muss sie noch das Bild zum Wort zeichnen. Ich lächele den Samtkleidern im Wäschesack zu, als die Tür leise ins Schloss fällt. Und obwohl ich unendlich müde bin, fahre ich sehr leicht und vor allem lebendig nach Berlin zurück.
Helen
PS: Joachim ist wieder aufgetaucht und hatte Oma Inge leider auf dem Handy angerufen, das ausgeschaltet in einer Schublade lag.
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Absoluter Höhepunkt dieses Rausches:
Sophies Illustration von uns!