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Das Paradies, es blutet

Wir liegen im Bett. Es ist nicht mehr so früh am Morgen und auf meinen Wangen glänzt mal wieder Tränenwasser. „Ein weiterer Tag in unserem blutenden Paradies“ sagt er und seufzt. Wir umarmen uns noch ein wenig fester. Draußen scheint die Sonne über Tel Aviv, scheint, wie immer. Erbarmungslos hell und warm. Sie macht einfach immer weiter. Egal, wie sehr es in unseren Herzen donnert und stürmt und schüttet, draußen scheint die Sonne. Es ist April, die schönste Jahreszeit in Israel hat begonnen. Der Frühling. Oder wie ich es nenne, der deutsche Sommer. Morgens und Abends ist es erfrischend kühl, tagsüber scheint die Sonne so warm, dass man im T-Shirt laufen kann. Manchmal auch am Strand seine Tage dahinplätschern lässt. Die schönste Saison in der schlimmsten Ära. Seit einem halben Jahr schon herrscht Krieg. Sechs Monate. Unzählige Tage. Unendliche Stunden. Bodenlose Minuten. Vor sechs Monaten begann die schlimmste Zeit, die wir alle kollektiv je erlebt haben. Egal, was man individuell schon so durch hatte, egal, was schon in dem kleinen Rucksack, den man so im Laufe des Lebens mit Enttäuschungen, Verletzungen und Gelerntem vollgepackt hat, liegt, seit dem 7. Oktober 2023 haben wir alle einen Koffer dazubekommen. Alle mit dem gleichen Inhalt.

Ich schaue ihn an. Seine Barthaare stehen nach rechts, nach links. Seine Lippen tragen die Farbe von Schwarzen Kirschen, seine Augen warm und in ihnen liegen Abenteuer und sicherer Hafen zugleich. Ein weiterer Tag in unserem blutenden Paradies. Ich weiß nicht, wie ich den Koffer ohne ihn schleppen könnte. Und er bestimmt nicht, wie ohne mich. Wir halten einander fest, während draußen die Welt im Sonnenschein untergeht. Ist das Ende der Welt schon da? Natürlich nicht. Aus den Boxen singt eine deutsche Hip-Hop-Band. „Ist auch kompliziert, muss man einfach beide Seiten seh’n, Wenn Terroristen Frau'n in Leichenhaufen vergewaltigen. Davidsterne werden an die Haustüren gesprüht. Ist das jetzt diese sogenannte Israel-Kritik?“ Ich heule weiter, weil es so gut tut, gesehen zu werden. Weil die Erschöpfung der letzten Monate mich immer öfter übermannt. Wie macht man weiter in diesem Universum aus Schmerzen?

Man wacht auf, man heult ein bisschen oder lacht hysterisch, oder tanzt oder schreit zu einem Lied. Man küsst die, die man liebt. Man hält sie fest. Man hört die eigenen Kinder lachen, man versichert ihnen, dass alles okay ist. Man versichert es sich selbst. Man umarmt sich so fest es geht. Man flüstert Liebe. Man verbindet sein Herz. Ein weiterer Tag in unserem blutenden Paradies. Und noch ein weiterer Tag. Und noch einer. Wir gehen nirgendwo hin. Draußen scheint die Sonne immer weiter. Das Paradies, das gibt es wirklich. Aber kämpfen muss man dafür schon.

https://www.youtube.com/watch?v=-QbQWtYe194 (Opens in a new window)

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