Stille
Beim ersten Mal bist du drei Jahre alt. Du kannst dich nicht daran erinnern, deine Eltern werden es dir später erzählen. Mittags hast du dir beim Spielen den Fuß am Bett gestoßen. Du weinst und kannst nicht auftreten. Deine Eltern kühlen den Fuß, am Nachmittag weinst du immer noch. Also bitten deine Eltern die Nachbarin, auf deine Schwestern aufzupassen, und fahren mit dir in die Kinderklinik. Als ihr drankommt, ist es draußen längst dunkel. Der Arzt schaut sich deinen Fuß vom Schreibtisch aus an, liest den Namen auf der Patient*innenkarteikarte. Ob sie noch mehr Kinder haben, will er von deinen Eltern wissen. Noch zwei, beide älter, antworten sie. Sie sollen dich wieder einpacken und dich nicht so verziehen, sagt der Arzt deinen Eltern. Die jüngsten Kinder sind bei Südländern immer verzogen und machen aus allem ein Drama, gibt er ihnen noch mit. Sie fahren mit dir nach Hause, bringen dich ins Bett. Am nächsten Morgen ist der ganze Fuß blau. Es wird fast zwei Wochen dauern, bis du wieder richtig auftreten kannst.
Du bist fünf und mit deiner Kindergartengruppe im Toberaum. Dein Vater holt dich ab, Musik läuft, es ist laut. Du willst noch einen Purzelbaum machen. Ein Junge sagt etwas zu deinem Vater, der neben der dicken blauen Turnmatte auf dich wartet. Dein Vater versteht den Jungen nicht. Dumme Ausländer, sagt der Junge und läuft zu den anderen Jungen. Als du mit deinem Vater aus dem Toberaum gehst, hörst du sie alle rufen:
Dum-me-ee Ausländer, dum-me-ee Ausländer.
Du bist acht und in der 2. Klasse, Deutsch, es gibt zum ersten Mal eine Note. Deine Eltern sagen immer, dass Noten wichtig sind. Schule fällt dir leicht, aber du gibst dir auch Mühe, denn deine Eltern geben sich auch so viel Mühe, damit du und deine Schwestern es mal besser haben. Deine Klassenlehrerin legt dein Arbeitsblatt auf den Tisch, oben steht eine Eins, du freust dich. Sie sagt, du sollst ja nicht glauben, dass
du besser bist als die deutschen Schüler. Du glaubst das gar nicht, eigentlich findest du die anderen besser als dich, weil sie keine Ausländer sind. Du schämst dich, weil du kurz gedacht hast, dass du gut bist. So wird es ab jetzt immer sein. Du wirst gute Noten bekommen, wirst dich freuen, um dich sofort zu schämen, dass du dich freust. Niemand soll denken, dass du dich für etwas Besseres hältst.
Du bist zehn. Deine Mutter ist beim Klassen-Elternabend deiner älteren Schwester. Als sie nach Hause kommt, bist du noch wach. Sie ist wütend und aufgewühlt. Ein Vater hat gefragt, ob es wirklich sein muss, dass die deutschen Mädchen mit Ausländermädchen in eine Klasse gehen – das ist nicht gut für die Leistung der deutschen Mädchen, weiß man ja, hat er sagt. Er sieht es bei seiner Tochter, sie könnte viel besser sein, wenn die Ausländermädchen das Niveau der Klasse nicht so runterziehen würden. Seine Tochter ist eine Freundin deiner Schwester. Deine Schwester ist manchmal bei ihr zuhause und hat ihr auch schon mit Schulsachen geholfen, weil sie besser ist in Deutsch, Mathe und in den anderen Fächern. Deine Schwester will wissen, was die anderen Eltern beim Elternabend gesagt haben. Nichts, sagt deine Mutter. Nur die Eltern der Ausländermädchen haben sich beschwert.
13. Zuhause läuft der Fernseher noch öfter als sonst, weil in der Heimat deiner Eltern, die irgendwie auch deine ist, Krieg herrscht. In den Nachrichten sagen sie, dass Rechtsextremisten in Mölln Häuser angezündet haben, in denen türkische Familien wohnten. Das Wort Rechtsextremisten kennst du, weil sie auch schon Asylbewerber in Rostock anzünden wollten und Ausländer in Ostdeutschland töten. Deine Eltern sagen nicht Rechtsextremisten, sie sagen Nazis. Diesmal haben die Nazis eine Frau und zwei Mädchen umgebracht. Das eine Mädchen war nur ein Jahr älter als du, das andere war erst 10. Du fragst deine Eltern, ob die Nazis euch auch anzünden werden. Dein Vater sagt, bevor es so weit kommt, gehen wir zurück. Wir können nicht zurück, sagt deine Mutter, unten herrscht Krieg. Dein Vater sagt, dass er lieber zuhause im Krieg stirbt, als sich in der Fremde von Nazis anzünden zu lassen. Du willst nicht angezündet werden und im Krieg willst du auch nicht sterben. Abends kannst du nicht einschlafen. An den nächsten Abenden auch nicht. Wenn du nachts Stimmen auf der Straße hörst, wachst du auf und wartest, ob es beginnt, nach Rauch zu riechen. Deine Baby-Schwester wirst du dann in ein nasses Handtuch wickeln, so hat das eine Kind in Mölln überlebt, haben sie im Fernsehen gesagt. Es riecht nicht nach Rauch, in keiner der Nächte. Irgendwann kannst du nachts wieder richtig schlafen.
Du bist 15. Im Fernsehen berichten sie nicht mehr so oft vom Bürgerkrieg unten. Wenn deine Eltern Verwandte in der Heimat anrufen, kommen sie nicht immer durch. Das Internet, von dem Freundinnen erzählen, habt ihr nicht. Deine Eltern lesen jetzt oft die Zeitung aus der Heimat. Sonst bekommt man sie bei dem Toto Lotto-Laden ein paar Straßen weiter, aber heute war sie schon weg. Also fährst du mit der U-Bahn zum Hauptbahnhof, es sind nur vier Stationen und der Zeitungskiosk im Zwischengeschoss hat eigentlich immer ein Exemplar, auch diesmal. Du läufst zurück zum U-Bahn-Gleis und siehst die Skins neben dir, an denen du schon auf dem Weg zum Kiosk vorbeigekommen bist. Eigentlich nimmst du einen anderen Weg, wenn du weißt, dass irgendwo Skins stehen. Aber diesmal hast du nicht daran gedacht und der eine will jetzt wissen, was das für eine Zeitung ist. Dein Cousin hat mal gesagt, am wichtigsten ist es, ihnen nicht zu zeigen, dass du Angst hast. Er ist älter als du und hat immer ein Butterfly-Messer dabei, weil er schon ein paar Mal an Skins geraten ist. Du weißt, wie man so tut, als hätte man keine Angst, aber gerade ist es schwer. Sie stellen sich dir in den Weg, der eine nimmt dir die Zeitung weg, faltet sie auf, liest laut vor und falsch, die beiden anderen lachen. An euch gehen Menschen vorbei, sie sehen dich und schauen weg. Der eine fragt, ob du kein Deutsch verstehst. Ausländerfotze nennt er dich, Du sagst, dass du deutsch verstehst und dass du gehen musst, aber er hält dich am Arm fest. Du sollst Bitte sagen, dann lässt er dich gehen. Bitte, sagst du und versuchst, dir einen Weg zu bahnen, aber sie lassen dich nicht durch. Ein paar junge Türken laufen an euch vorbei, vielleicht sind sie auch Araber, vielleicht auch was ganz anderes, sie schauen nicht weg, rufen den Skins zu, dass sie dich in Ruhe lassen sollen. Die drei wenden sich von dir ab, aber die anderen sind mehr und die Ausländerfotze ist den Ärger nicht Wert, sagen sie. Du hebst deine Zeitung auf. Einer aus der Gruppe sagt, dass du echt besser aufpassen musst, Mädchen. Die Zeitung trägst du ab da nie wieder offen im Arm.
Du bist 19 und hast das Abitur geschafft. Dein Schnitt ist richtig gut. Nach der Zeugnisverleihung stehen alle vor der Aula, unterhalten sich in Gruppen. Deine Englisch-Leistungskurslehrerin kommt vorbei, gratuliert dir und deinen Eltern. Sie haben es in Deutschland bestimmt nicht immer leicht gehabt, und jetzt macht schon ihre zweite Tochter so ein gutes Abitur, das ist auch Ihr Verdienst, sagt sie zu deinen Eltern. Als die Lehrerin weg ist, sagt die Mutter einer Mitschülerin, die danebensteht, du hätten einfach Glück gehabt. Ihre Tochter steht daneben und grinst.
22. Du hast einen neuen Freund, ihr besucht zum ersten Mal seine Familie. Beim Mittagessen fängt die Mutter an, über Ausländer zu sprechen. Es gibt zu viele in Deutschland, weiß sie, und die wollen sich alle nicht integrieren, sondern leben auf Kosten des Staates und werden kriminell. Das stimmt doch nicht, erwiderst du. Fünf Erwachsene am Tisch, niemand sonst sagt etwas. Später erklärt dir dein Freund, dass seine Mutter zu viel FAZ liest und keine Ahnung hat. Es geht nicht lange gut mit euch beiden.
Mit 27 bewirbst du dich beim Hörfunkdienst einer Nachrichtenagentur. Du schickst deine Unterlagen ein, wirst eingeladen, sollst im Tonstudio eine Nachricht einsprechen, damit sie hören, wie deine Stimmt klingt. Der Redakteur ist nett, sein Chef kommt dazu. Du sprichst die Nachricht ein, aber du rollst das R zu stark, sagt der Redakteur danach. Mit so einem Türken-R können Sie Radio vergessen, sagt sein Chef, bevor dich der Redakteur verabschiedet. Zuhause beginnst du zu üben – du willst das R loswerden. Es dauert drei Monate dann kannst du es endlich richtig hinten rollen. Beim Radio versuchst du es nie wieder.
Du bist 30 und auf dem Standesamt, um die Ehe eintragen zu lassen. Wie du es geschafft hast, dir einen Deutschen zu angeln, fragt dich der Beamte am Schalter. Seine Kollegin am Schreibtisch lacht.
32. Du liegst in den Wehen. Erst tut sich ewig nichts, dann geht alles so schnell, dass es nicht mehr für die PDA oder ein Schmerzmittel reicht. Während der Geburt wird dir so schwarz vor Augen, dass du sagst, ich kann nicht mehr. Einmal, zweimal, dreimal. Die Hebamme sagt, noch ein einziges Mal und ich gehe, und dann können Sie sehen, wie Sie Ihr Kind auf die Welt bringen. Als das Baby da ist, muss sie zur nächsten Geburt, die Hebammenschülerin versorgt dich. Mütter wie dich hat sie hier öfter, sagt die Hebamme, als sie dir die Hand schüttelt: Statt so viel zu jammern, sollt ihr euch auf die Geburt konzentrieren, deutsche Mütter sind da disziplinierter.
Als du später zum zweiten Mal Mutter wirst, fällt dir nach drei Jahren auf, wie unterschiedlich sie aussehen und wohl immer aussehen werden. Das eine Kind mit dunklen Haaren, dunklen Augen und dunklerem Teint, wie du. Das andere blond, hellere Augen, hellere Haut, wie der Vater der beiden. Du weißt, um welches deiner Kinder du immer ein bisschen mehr Angst haben wirst, weil es nicht so deutsch aussieht, wie sich viele Menschen in diesem Land deutsch auszusehen vorstellen.
Du bist 41. Auf dem Weg zur Krippe telefonierst du mit deiner Mutter. An der Ampel steht eine Frau neben dir und brüllt dich an, dass in Deutschland deutsch gesprochen wird. Die anderen Menschen an der Ampel sagen nichts. Zur Krippe müsstest du nach der Ampel geradeaus weiter. Statt darauf zu warten, dass es grün wird, gehst du nach links. Deine Mutter will wissen, was das gerade war. Nichts, sagst du. Eine Frau hat irgendwen angeschrien.
42. In Berlin wird ein Mädchen von sechs Erwachsenen angegriffen. Erst heißt es, sie hat keine Maske getragen, die Erwachsenen haben sie darauf hingewiesen, es ist zum Streit gekommen. Das Mädchen – Dilan – stellt ein Video ins Netz, in dem sie erzählt, wie es wirklich war. Sechs Rassist*innen sind auf sie losgegangen, haben sie geschlagen. Menschen, die vorbeigekommen sind, haben zugesehen und nicht geholfen. Dilans Video verbreitet sich schnell, weil Menschen es teilen. Zwei, drei Tage spricht man in Deutschland darüber, dann ist es wieder still.
Kurz darauf steht die Wahl zum Bundespräsidenten an. Alle sagen eine zweite Amtszeit von Frank-Walter Steinmeier voraus. Am Abend, bevor die Bundesversammlung zusammentritt, erzählen ein paar Prominente im Fernsehen, wie großartig sie Steinmeier finden. Sie gehören zu denen, die den Bundespräsidenten wählen dürfen. Du musst an Murat Kurnaz denken, der von 2002 bis 2006 in Guantanamo gefangen gehalten, gedemütigt und gefoltert wird, weil er angeblich ein Terrorist ist. Seit 2002 wissen deutsche Behörden, dass er unschuldig ist, aber im Innenministerium beschließt das zuständige Referat, das Murat Kurnaz nicht nach Deutschland einreisen darf, weil seine unbefristete Aufenthaltserlaubnis angeblich abgelaufen ist – als Türke braucht er sie für seine Rückkehr, auch wenn er in Deutschland geboren und aufgewachsen ist. Das Referat im Innenministerium leitet Hans-Georg Maaßen. Auch Frank-Walter Steinmeier, damals Kanzleramtschef, will Murat Kurnaz nicht in Deutschland haben. Mit 19 kommt er nach Guantanamo, fast fünf Jahre wird er dort bleiben. Bis heute hat sich kein deutscher Politiker bei ihm für das erlittene Leid und die verlorene Lebenszeit entschuldigt.
Am 19. Februar wird sich der rechtsterroristische Anschlag von Hanau zum zweiten Mal jähren. Seit Tagen sieht du die Gesichter von Gökhan Gültekin, Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu und Kaloyan Velkov in sozialen Netzwerken. Seit zwei Jahren sieht du sie dort jeden Monat auf den Seiten von Menschen, die wissen, dass auch sie selbst in diesem Land niemals sicher sind vor Rassismus und all den Formen, in denen er sich äußert. Am 19. Februar wirst du an die Toten von Hanau denken und auch wieder daran, dass in der Sprache deiner Eltern, die auch deine ist, das Wort für Deutschland von „nijem“ abstammt, was stumm bedeutet. Deutschland – das ist das Land, in dem die Menschen nichts sagen, in dem man immer schweigt.