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Reviews aus FUZE.88

Leider ist der Platz im Heft immer sehr eingeschränkt und es erscheinen so viele Alben. Daher haben wir hier gesammelt für euch die Reviews, die aus Platzgründen keinen Weg ins Heft mehr gefunden haben. Das Tolle: Ihr könnt direkt hier reinhören und euch einen Höreindruck verschaffen! Viel Spaß mit den Reviews zu MANCHESTER ORCHESTRA, ALLUVIAL, ATREYU, INNER SPACE und vielen mehr!

https://youtu.be/cAp-M0XVdzs (Opens in a new window)

’68

Give One Take One

„Oh honey, you just love me for my riffs.“ Ach ’68, eure Riffs sind natürlich der Shit, aber wie könnte man euch darauf reduzieren? Spätestens mit eurem neuen Album habt ihr nicht nur viel von dem perfektioniert, was ihr in der Vergangenheit auch schon ziemlich überzeugend gemacht habt, mittlerweile seid ihr als Band zu einem beachtlichen Monster herangewachsen, das den Style, wie auch den räudigen Hardcore gefressen hat. Klar, das kommt alles nicht von ungefähr, in einem früheren Leben habt ihr mal Metalcore gemacht, aber aus gutem Grund habt ihr irgendwann das Genre gewechselt. Denn trotz eurer Geschichte ist die Grundlage von ’68 ein Garage-Blues-Duo-Fundament, das maximal ROYAL BLOOD bisher so mitreißend hinbekommen haben wie ihr. Während die Konkurrenz aber mittlerweile in eine andere Richtung abgebogen ist, habt ihr euch lieber daran gemacht, eure Trademarks eben nicht einzubüßen, sondern sie noch weiter auszuformulieren. Dabei bleibt ihr vor allem lässig und sexy, aber genauso emotional und direkt. Zack, am Ende des eingangs zitierten „Bad bite“ noch eben ein BEASTIE BOYS-Zitat rausgehauen und schon mag man euch wieder ein bisschen mehr. Dabei mochte man euch doch sowieso schon so sehr. (Cooking Vinyl)

Christian Biehl

https://youtu.be/ku9_gF26jCY (Opens in a new window)

ALLUVIAL

Sarcoma

In Person von Wes Hauch agiert hier ein Musiker als Kreativkopf, der bereits mit THE FACELESS, BLACK CROWN INITIATE und GLASS CASKET glänzen konnte. ALLUVIAL ist die Gruppe, der der Gitarrist und Sänger derzeit seine ganze Konzentration und Energie widmet. Das 2017er Debüt „The Deep Longing For Annihilation“ war noch ein Geheimtipp. Dank des zwischenzeitlichen Signings auf Nuclear Blast und der damit breiteren Beachtung dürfte „Sarcoma“ nun weitaus mehr Aufmerksamkeit erfahren. Zu Recht. Nach der Veröffentlichung des Einstands ist das zusätzlich durch Touren mit ANIMALS AS LEADERS und VEIL OF MAYA sowie den Einstieg des SUFFOCATION-erfahrenen Frontmanns Kevin Müller vorbereitet worden. Das modern-extreme Spiel von ALLUVIAL erscheint vor allem auf eine Tech-Death-Hörerschaft abgestimmt, ist jedoch nicht ausschließlich auf diese Gruppe festgelegt. Frickelige Polyrhythmen und beständige Brüche beziehungsweise Verschiebungen auf der einen Seite, ein verbindender Rahmen und mitnehmende Atmosphäre auf der anderen – das Quartett aus Atlanta tritt mit einem ganzheitlichen Extrem-Metal-Ansatz an, der viel fordert, aber auch ebenso viel zurückgibt. Kompositorische Kreativität und individuelle Klasse in der präferierten Tech-Death-Umsetzung stechen deutlich hervor. ALLUVIAL präsentieren sich bisweilen aber auch melodisch-atmosphärisch, was interessante Kontraste entstehen lässt. Thematisch beschäftigt sich „Sarcoma“ mit der Frage, wieso Leid, Schmerz und Pein die Menschen stärker zusammenrücken lassen als positive Erlebnisse und Freude. (Nuclear Blast)

Arne Kupetz

https://youtu.be/UTtLjAm9nRg (Opens in a new window)

AMOUR VACHE

Amour Vache

Musik und Tanz – zwei Dinge, die seit Jahrhunderten eng miteinander verwoben sind. Insofern ist die Idee, statt nur auf die Musik doch gleich auf das große Ganze zu setzen, gar nicht so abwegig. AMOUR VACHE machen genau das – und bieten nun das Komplettprogramm: Songs, Tanz, Performance und Visuals. Eine ganzheitliche Live-Erfahrung sozusagen. Die allerdings erst dann in vollem Umfang zu genießen sein wird, wenn es das unberechenbare Infektionsgeschehen erlaubt. Sein selbstbetiteltes Debüt bringt das deutsche Künstlerkollektiv dennoch raus. Und klar, dass dabei die Arbeit von Tom Jeske (gt, voc) und Gereon Basso (dr, voc) im Vordergrund steht. Geboten wird eine interessante Mischung aus poppig-seichterem und rockig-forderndem Material, das durchaus stimmungsvoll und fluffig-unterhaltsam daherkommt. Leichtfüßig und souverän spielt sich das Duo durch die elf Kompositionen, im Vordergrund steht dabei natürlich rhythmusdominiertes, übersichtlich intoniertes Liedgut. Klar, Tänzerin Fang-Yu Shen und Visual Artist Riad Nassar müssen damit auf der Bühne ja auch etwas anfangen können. Ziemlich spannend, das alles! Nur aufgrund der Umstände leider noch nicht abschließend zu bewerten. (Vectralkoerper)

Anton Kostudis

https://youtu.be/MfEuvEk896E (Opens in a new window)

ATREYU

Baptize

Man muss sich die Zeit nehmen, sich mit „Baptize“, dem neuen Album von ATREYU, zu beschäftigen. Zu erwarten, dass die Band auf ihrem achten Album und nach dem kürzlich vollzogenen Ausstieg von Frontmann Alex Varkatzas klingen wie vor zwanzig Jahren wäre dann doch außerordentlich vermessen. ATREYU haben sich weiterentwickelt, sind als Musiker und Menschen gereift und wissen, was sie nicht wollen, nämlich Stagnation. Diese Entwicklung wird nicht jeder mögen. Die poppigen Passagen sind poppiger geworden und allgemein merkt man ATREYU einen Wandel an. Weg vom Metal und Core härterer Gattung, hin zu Elementen klassischer Rockmusik. Ab und an blitzt die alte Härte dann aber doch durch und steht der Band nach wie vor sehr gut. Dabei wirkt das, was ATREYU auf „Baptize“ bieten, zu jeder Zeit ehrlich. Man nimmt es der Band ab, dass sie beim Schreiben der neuen Songs Spaß hatte. Produktionstechnisch ist „Baptize“ über alle Maßen erhaben, ist doch Produzenten-Guru John Feldmann für den Sound verantwortlich. Ein Mann, der momentan gefühlt alles zu Gold werden lässt, was er anfasst. Da ATREYU sich ständig weiterentwickeln und auch nach 23 Jahren Bandgeschichte Bock haben, kann man ja die Hoffnung auf die Rückkehr zu alter Härte für Album Nummer neun aufrechterhalten.

(Spinefarm)

Carsten Jung

https://youtu.be/gaRp5lkpP-4 (Opens in a new window)

THE BOATSMEN

Versus The Boatsmen

Punk-Rock’n’Roll kann ja vieles heißen. Hierzulande wird es oft benutzt von Bands, deren Klänge eher Richtung Deutschrock tendieren, dies aber nicht zugeben wollen. In Schweden geht man mit dieser Definition etwas anders um. THE BOATSMEN perfektionieren dies. Die vier Herren zeigen auf „Versus The Boatsmen“, ihrem vierten Album, vom ersten Takt an, wo die Reise hingeht. Punkrock, Rock’n’Roll so räudig wie nie. Genauso soll es sein. Die herbe Stimme passt sich hier perfekt ein und lässt das Konzept der Band zwischen rauhem Shanty und rohem Punkrock voll aufgehen. Wer auf schnellen, harten und trotzdem tanzbaren Punk steht, der kommt hier voll auf seine Kosten. Gegner von THE BOATSMEN möchte ich wirklich nicht sein. (Spinnup)

Andreas Regler

https://youtu.be/x21KJa5b_vc (Opens in a new window)

CAMBION

Conflagrate The Celestial Refugium

Anschnallen, CAMBION haben es eilig. Gut vierzig Minuten lang feuern die Amerikaner dem Hörer Riffsalven um die Ohren, dass es nur so brummt. Muss man sich darauf einlassen wollen, sonst rauschen Songs wie „Vae victis“ oder „Impact steel“ schlicht vorbei. Der gespielte Death Metal erinnert dabei zuweilen an Gruppen wie ORIGIN, CRYPTOPSY, aber auch HATE ETERNAL, bei denen Schlagzeuger Chason Westmoreland auch schon beschäftigt war. Der klaren Produktion des Albums ist es zu verdanken, dass es möglich ist, jedem Instrument zu jeder Zeit zu folgen — und es passiert viel. So benötigt es einige Durchläufe, bis sich Strukturen abzeichnen, an gängige Songschemata halten sich CAMBION nur selten. Hier wäre auch der größte Kritikpunkte zu sehen. Wo es Gruppen wie NILE gelingt, überirdische Technik in nachvollziehbare, fast schon hittige Lieder zu verpacken, fehlt das dem Trio hier noch. Alle anderen Zutaten für ein tolles, technisches Death-Metal-Album sind jedoch zu finden. (Lavadome)

Manuel Stein

https://youtu.be/fcjZzD4u170 (Opens in a new window)

CIRITH UNGOL

Half Past Human

Gut ein Jahr nach der Veröffentlichung des ersten Albums seit 29 Jahren legen die kauzigen Metaller CIRITH UNGOL mit „Half Past Human“ nach. Die vier Songs enthaltende EP startet dabei mit „Route 666“ relativ zahm und rockig. Erst ab „Shelob’s lair“ packen die Urgesteine des amerikanischen Metal die großen Melodien aus. Damit fangen sie den Hörer schnell in ihrem Netz. Das bereits vorab ausgekoppelte „Brutish manchild“ kommt proto-metallisch daher und stellt das wohl krummste Lied der Platte dar – solche Musik kann man nur lieben oder hassen. Der abschließende Titeltrack ist die epischste Nummer. Hier spielen CIRITH UNGOL mit der Dynamik und steigern sich bis zum Finale immer weiter. Starker Song, der auf jedem Album der Band ihren Platz gefunden hätte! Insgesamt ist „Half Past Human“ so vorhersehbar wie gut. Auch 48 (!) Jahre nach ihrer Gründung scheren sich CIRITH UNGOL nicht um Trends und spielen einfach ihren Stiefel runter. (Metal Blade)

Manuel Stein

https://youtu.be/jdq-DjROdPo (Opens in a new window)

COVEY

Class Of Cardinal Sin

Mit „Class Of Cardinal Sin“ präsentiert uns der Singer/Songwriter und Multi-Instrumentalist Tom Freeman unter dem Synonym COVEY sein drittes Studioalbum. Dabei bewegt sich der gebürtige Brite und Wahl-New-Yorker zwischen frechem, aber hellem Indierock, krawalligem Folk-Punk, spielerischem Pop-Punk und heiterem Midwestern Emo und unterstreicht dabei Vorlieben für Acts wie BLINK-182, Elliott Smith oder NEUTRAL MILK HOTEL. Thematisch behandelt COVEY dabei wohl die Geschichten, die das Leben schreibt. Mal humorvoll, mal zynisch und mal verletzt. So nimmt Tom in „Sam jam“ innerlich Rache an dem Mann, der seiner Schwester, die mit Skoliose lebt, einst brühend heißen Kaffee über den Kopf schüttete, während er in „1991“ seine Jugend Revue passieren lässt. Er schlägt auch sozialkritische Töne an, wenn er anprangert, dass seine Mutter sich die benötigte Therapie nicht leisten kann, da der Staat die seelische Gesundheit mit einem Preisschild versehen hat. „Class Of Cardinal Sin“ ist ein deprimierendes, aber auch tröstliches Werk, das einen auf eine wundervoll intime Reise in Toms Innere mitnimmt – wo wir uns teilweise auch finden. (Rise)

Christian Heinemann

https://youtu.be/Mr2XsbU4gTI (Opens in a new window)

EWÏG FROST

Aïn’t No Saïnt

Wiener Speed Metal Punk – bei solch markigen Genre-Zuschreibungen ist normalerweise Vorsicht angebracht. Nicht so bei EWÏG FROST, die tatsächlich all diese Trademarks und noch ein paar mehr bestens erfüllen. In der Tradition bekannter angeschwärzter Punk’n’Roll-Bands wie beispielsweise CHROME DIVISION kredenzen die Österreicher hier einen schmissig-tanzbaren Mix verschiedener Einflüsse, der mal etwas flotter („Bad beat boogie“), mal etwas zurückgenommener und düsterer („1918“) klingt. Die Produktion kommt direkt aus der Garage, aber aus einer, die durchaus ihre Vorzüge hat. Reduziert auf das Wesentliche, kommen alle Instrumente zur Geltung, der Sound hat Luft zum Atmen und somit finden auch das Keyboard und sogar die Blechbläser ihren Platz. Die Songs sind überwiegend auf Englisch, nur zweimal lassen EWÏG FROST dem Wiener Schmäh freien Lauf, was charmant ist und sich gut in den rumpeligen Sound einfügt. Wer von MOTÖRHEAD über VENOM bis hin zu CARPATHIAN FOREST Anknüpfungspunkte findet, ist auch mit EWÏG FROST bestens bedient. (Discos Macarras)

Philipp Sigl

https://youtu.be/tak1jzILssM (Opens in a new window)

FIGHTING CHANCE

Things That Set Us Free

Immer 110 Prozent Vollgas! Genauso, wie sich die Band selbst beschreibt, legen FIGHTING CHANCE auf „Things That Set Us Free“ los. Brachiale Hardcore-Riffs, Crewshouts und angepisste Vocals lassen direkt von der ersten Sekunde an jedem STICK TO YOUR GUNS-Fan das Herz vor Freude schneller hüpfen. Seit der selftitled EP und dem letzten Werk „Lightsout“ sind mittlerweile fünf Jahre vergangen, die die Dortmunder aber natürlich genutzt haben, um sich musikalisch weiterzuentwickeln und auch mit Größen wie zum Beispiel DEEZ NUTS live zu spielen. „The watch“ und „Spit“ sind anschließend deutlich melodischer als der Opener, denn immer wieder sind angenehme cleane Gesangseinlagen am Start, die zu keinem Zeitpunkt aufgesetzt wirken und einen schönen Kontrast zu den heftigen Vocals bieten. Die dissonanten, dreckigen Riffs, die immer wieder gezielt eingestreut werden, erinnern sehr an OH, SLEEPER oder auch an die leider bereits aufgelösten DEAD AND DIVINE. Die drückende Produktion von Daan Nieboer (Cornerstone Audio) muss sich keinesfalls vor großen Namen verstecken. Hoffentlich ist diese Pandemie bald überstanden, denn FIGHTING CHANCE gehören nicht nur in dein Auto oder Wohnzimmer, sondern auf die Bühne. Die restlichen sieben Songs reihen sich nahtlos in das oben Beschriebene ein und das ergibt ein stimmiges Gesamtbild. „Things That Set Us Free“ ist das perfekte Überdruckventil, um Wut, Frustration und in dieser schwierigen Zeit aufgestauten Energien bald in einem Pit mit Freunden freien Lauf zu lassen! Wer hätte schon gedacht, dass wir Bierduschen, Stagedives und nackte schwitzende Männer in kleinen stickigen Clubs einmal so sehr vermissen. Nach der Show dann völlig durchnässt, aber glücklich am Merch mit der Band quatschen, ein Shirt kaufen und alle Sticker klauen ... noch ein bisschen durchhalten! (Horror Business)

Pascal Irmer

https://youtu.be/tMS_Mvp8wjw (Opens in a new window)

GENGHIS TRON

Dream Weapon

Überraschungen gibt es immer wieder im Leben. Diese Band hier ist eine. Wobei, tatsächlich sind die US-Amerikaner bereits seit 15 Jahren aktiv, haben erst in der Mathcore-Szene mit zwei Alben für Furore gesorgt – um sich dann in eine zehnjährige Auszeit zu verabschieden. Mit „Dream Weapon“ gibt’s nun ein durchaus furioses Comeback, das allerdings wohl nur bei einem überschaubaren Publikum nachhaltig punkten wird. Grund dafür ist aber nicht etwa die mangelnde Güte des Tonträgers, sondern der ziemlich verkopfte Style: Denn GENGHIS TRON mögen es gerne anspruchsvoll und sphärisch, aber eben nicht mehr so krachig wie früher. Die klassische Abrissbirne lässt das Quartett daher im Sack. Dafür gibt’s sphärische Synthies, akzentuiertes Drumming, flächigen Gesang und verspielte Gitarrenarbeit. Dinge, die Fans von versierten Kapellen wie beispielsweise PORCUPINE TREE, ZOMBIE oder PERTURBATOR schätzen und lieben. Und genau in dieser illustren Liga steigen GENGHIS TRON nun mit „Dream Weapon“ ein und senden ein echtes Ausrufezeichen an die zeitgenössische Prog-Konkurrenz. (Relapse)

Anton Kostudis

https://youtu.be/3cbuewYGvcY (Opens in a new window)

THE HIGH TIMES

Heat

Der erste Gedanke, der mir beim Eröffnungssong „The heat“ ins Gedächtnis schoss: „Oh, Gute-Laune-Musik!“ Der Rock’n’Roll von THE HIGH TIMES kommt auf ihrem Debütalbum äußerst leichtfüßig daher, hier und da schauen auch HOT WATER MUSIC einmal kurz vorbei und stellen ihr Schirmchen in den Songcocktail. Kein Song ist hier länger, als er sein muss. Neun Lieder, keine 27 Minuten Spielzeit, sympathisch. Der Schweizer Schriftsteller und Architekt Max Frisch stellte einst die These auf: „Stillstand ist der Tod.“ Genau das ist auch der Antrieb des Quartetts. Die vier Freund:innen verbrachten so viel Zeit miteinander, dass irgendwann für sie der Punkt kam, ihre Erlebnisse in Lieder zu verpacken. So entstand „Heat“, das von BLONDIE, AC/DC und (gemütlichen) LESS THAN JAKE beeinflusst scheint. Tatsächlich ergeben Albumtitel und Atmosphäre ein stimmiges Bild. Man stelle sich vor: Es ist Samstag, der zweite Tag eines Sommerfestivals, ein oder zwei Uhr mittags. Man guckt sich aus Langeweile (und weil man eh schon wieder seit 06:25 Uhr wach ist) die erste Band des Tages auf einer kleineren Nebenbühne an. Die Temperatur schwankt zwischen 24 und 28 Grad, Sonnenbrille auf der Nase, eine kühle Fruchtsaftschorle in der Hand, ein Bein im Takt wippend. Genau das sind THE HIGH TIMES. Das tut nicht weh, ist tanzbar und bringt gute Sommerlaune. (Gunner)

Marcus Buhl

https://youtu.be/kUrCcPOPMC0 (Opens in a new window)

INNER SPACE

Tremors

Habt ihr ein Lockdown-Projekt? INNER SPACE ist genau das – eine Band als Ventil für die überreichliche Energie und Wut ihrer fünf Mitglieder aus Leipzig. „Tremors“ heißt das erste Produkt, eine Vorzeige-EP für modernen, kompromisslosen Hardcore. Darauf zwar nur drei Songs, aber die hauen richtig rein: ein unbarmherziges Spektakel mit massiven Riffs, explosiven Drums, reichlich Dissonanz und bedrohlichen Growls und Shouts. Wenn die Pandemie ein Gutes hat, dann ist es die Entstehung von INNER SPACE, die uns hoffentlich noch weit über den Lockdown hinaus mit ambitioniertem Hardcore begeistern. (DIY)

Jeannine Michèle Kock

https://youtu.be/Jr61X4rTGAk (Opens in a new window)

INWIEFERN

Rendezvous mit der Realität

Sehr gut produzierter Rotz-Punk? Geht das? INWIEFERN beantworten diese Frage mit: Ja! 15 Songs in knapp 35 Minuten. Allein dies ist schon ein waschechtes Punkrock-Attribut. Dabei haben die fünf auch noch die Frechheit, 15 echt gute Songs abzuliefern. Ihr drittes Album strotzt nur so vor Kreativität. Textlich bewegen sich INWIEFERN in perfekter Harmonie zwischen Ironie und purem Ernst. „Euer Stammbaum ist ein Kreis“ ist jetzt schon die neue Anti-Wutbürger-Hymne und sollte eigentlich auf keiner Playlist fehlen. Dabei gab es auch tatkräftige Unterstützung von Luise Fuckface von THE TOTEN CRACKHUREN IM KOFFERRAUM. Doch auch der Rest braucht sich nicht zu verstecken. INWIEFERN haben neben Politik und Sozialkritik die charmanteste Erklärung des Rock’n’Roll beigesteuert, die müsste man meiner Meinung nach in Schulbüchern abdrucken. Für mich jetzt schon eines der Punkrock-Alben des Jahres. Ein schöne Überraschung. (Bakraufarfita)

Andreas Regler

https://youtu.be/uWESoYputC0 (Opens in a new window)

MAN ON MAN

Man On Man

Leute, lasst die R&B-Platten im Regal stehen, 2021 erzählen uns MAN ON MAN, wie Songs über Liebe und Sex gehen. Dass es sich dabei um die Liebe und den Sex zwischen zwei Männern handelt, wird ja zumindest für die aufgeschlossene Fuze-Leserschaft keine Hürde darstellen. Das Duo und Paar, bestehend aus Roddy Bottum, den man in erster Linie (aber nicht nur) als Keyboarder von FAITH NO MORE kennt, und Joey Holman, entblößt würdevoll die behaarte Brust und berichtet auf gewisse Weise unaufgeregt von Zweisamkeit, aber auch von Verlust und Trauer. Genau das macht das Album so besonders: MAN ON MAN sind weder BIKINI KILL noch FRANKIE GOES TO HOLLYWOOD. Wir haben es weder mit aufrüttelnden Kampfansagen noch mit Partystampfern zu tun, bei denen die VILLAGE PEOPLE vor dem geistigen Auge tanzen. Stattdessen zelebrieren Holman und Bottum erstaunlich geschmackvollen Indierock, der sich zwar im ständigen Fluss befindet, aber trotzdem abwechslungsreich und vielseitig daherkommt. Das sowieso schon unglaublich sympathische Duo setzt dem Ganzen die Krone auf, weil ihm auch ein Hauch von Ironie nicht fremd ist. Wer bei dem melancholisch angehauchten „It’s so fun (To be gay)“ auch mal schmunzeln muss, ist trotzdem willkommen. „Man On Man“ tritt den Beweis an, dass nicht jedes Statement lärmend und aufdringlich daherkommen muss, um hängenzubleiben. (Big Scary Monsters)

Christian Biehl

https://youtu.be/-R4gSeY0XtY (Opens in a new window)

MANCHESTER ORCHESTRA

The Million Masks Of God

Dass MANCHESTER ORCHESTRA kein Album zweimal schreiben, macht den Sound der Band irgendwie aus. Auf „The Million Masks Of God“ entfernen sich MANCHESTER ORCHESTRA nun von ihren frühen Rock-Einflüssen zugunsten eines poppigen Indie-Sounds, der vor allem durch Americana, Country und sogar Gospel-Elemente geprägt ist. Es ist wahrscheinlich das amerikanischste Album, das die Band um Sänger Andy Hull je geschrieben hat. „Keel timing“ versetzt uns direkt in eine Midwest-Szenerie, die uns einen Güterzug vor das innere Auge pinselt. Doch was diesem Album fehlt, ist der Pop-Approach, den einzig „Bed head“ liefert. Die Main-Single des Albums ist ein perfekt geschriebener Popsong mit hohem Suchtfaktor, der bei den anderen Tracks des Albums oft zu fehlen scheint. Stattdessen gibt es etliche Singer/Songwriter-Balladen und mit „The internet“ auch einen kleinen Rückblick auf das 2017 erschienene „A Black Mile To The Surface“. Vielleicht benötigt es einfach noch mehr Zeit, um die Tiefe dieses Albums wirklich zu erfassen. Doch fürs Erste ist „The Million Masks Of God“ ein Album, das enorm viel zum Erforschen bietet, den MANCHESTER ORCHESTRA-Fan aus Zeiten von „Simple Math“ und davor aber nur schwer begeistern kann. (Loma Vista)

Rodney Fuchs

https://youtu.be/szCQ_5SZpLQ (Opens in a new window)

MARSHALL AR.TS

... The Pallid Mask Is Talking ...

Nintendoom als Genrebezeichnung klingt erstmal wirklich vielversprechend. Allerdings kommt dann kein schwermütiger Doom-Sound mit Videospielelektronik, sondern ein wirres Chaos aus allem Möglichen, am wenigsten aber Nintendo und Doom. Tiefe, treibende Bassriffs gibt es zwar viele und der Song „Miskatonic“ hat irgendwie komplett die Melodie von „Aerials“ von SYSTEM OF A DOWN, aber dazwischen gibt es auch mal Gitarrengeschrabbel wie aus der letzten Punk-Kneipe, die selbst nicht ganz weiß, wie man den Sound der für den Abend eingeplanten Band eigentlich ins Mischpult bekommt, oder auch mal gescratchte Schallplatten, Skits oder Samples. Der Gesang dazu ist eigentlich ausschließlich Rap, was zumindest ich als sehr störend empfinde, die zwar durchaus mal instrumentierten Zeckenrap mag, aber mit Eminem und Street Style Rap so gar nichts anfangen kann. Die Soundqualität des Albums erinnert mich auch eher an meine frühe Kindheit, als coole Kids noch mit überweiten Klamotten und Ghettoblastern auf den Schultern herumliefen. Wer in den Achtzigern und Neunzigern zu Hause ist und New Metal, HipHop und Urban Ghetto Music mag, der findet „... The Pallid Mask Is Talking ...“ vielleicht richtig geil. Mir erschließt sich das Album leider gar nicht. (MINGRec)

Jenny Josefine Schulz

https://youtu.be/l5DlucQZ7es (Opens in a new window)

MIGAL

Fragments

Eigentlich sollte aus den Songs auf der „Fragments“-EP mal ein Album werden. Da MIGAL pandemiebedingt aber leider nicht ins Studio konnten, entschlossen sie sich, das Ganze DIY aufzunehmen und letztendlich als digitale EP rauszubringen. Aus der Not wurde eine Tugend, denn der Selfmade-Sound tut der Platte echt gut. Sechs sehr atmosphärische Post-Hardcore-Songs mit ordentlich Druck. Der Gesang geht zwar manchmal ein wenig in der Masse unter, aber das ist überhaupt nicht schlimm. Denn im Gesamtbild überzeugt „Fragments“. Natürlich tut es einem für die Band leid, dass das Debütalbum nicht so erscheinen konnte, wie es mal gedacht war. Aber diese EP rauszubringen, war die richtige Entscheidung. Für die Schublade sind die Songs definitiv zu schade. (DIY)

Joscha Häring

https://youtu.be/Z3lv0x4L0LQ (Opens in a new window)

MISSSTAND

Bon Apathie

Hoch die Faust, es ist Deutschpunk-Zeit. Deutschpunk aus Österreich wohl bemerkt. Mit „Bon Apathie“ bringen die Grazer MISSSTAND ihr viertes Album raus und mit leicht veränderter Besetzung geht es in die nächste Runde. Während man bei Genrekollegen häufig etwas kantigere Audioqualität geliefert bekommt, überzeugt „Bon Apathie“ mit einer glasklaren Produktion. Aber keine Sorge, der Punk fällt dabei nicht unter den Tisch. Mit Features von Sarah (AKNE KID JOE) und Ren Aldridge (PETROL GIRLS) bemüht sich die Band, auch etwas mehr Diversität in die Platte zu bringen, was durch den Song „Nur country for old white men“ auch textlich besiegelt wird. Dabei machen sie auf einen wichtigen Punkt aufmerksam: Als weißer Mann muss man sich auch mal bewusst machen, welche Privilegien man genießt. Das gilt sowohl für die gesamte Gesellschaft als auch für die Punk-Szene, die manchmal konservativer ist, als sie selbst zugeben möchte. Aber auf „Bon Apathie“ geht es auch im Medienkritik und die unterschiedliche Berichterstattung über Rechtsextremismus und linke Organisationen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass MISSSTAND mit dieser Platte ihrem Namen wieder gerecht werden. (Aggressive Punk Produktionen)

Joscha Häring

https://youtu.be/kzNXGY21VFA (Opens in a new window)

OSIAH

Loss

Aussehen tut das Ganze wie eine Death-Metal-Platte: Eine mystische Ruine, über der die Vögel kreisen und ein Leuchten auftut, alles in Violett getränkt, auch die Schriftart wirkt wie frisch aus einem Fantasy-Roman. Anhören tut sich das Ganze dann aber wie Deathcore – und zwar nicht der moderne Deathcore, der mit Hip Hop liebäugelt und auf Sparflamme vor sich hin köchelt, sondern der, der noch so richtig fett und geil klingt, mit allerlei gutturalen Eskapaden, Breakdowns ohne Ende und ein paar punktuierten düsteren Melodien, die das rhythmische Geballer hier und da begleiten dürfen. „Loss“ könnte auch wunderbar vor zehn Jahren releaset worden sein, um sich einzureihen in Werke wie beispielsweise „My Damnation“ von CHELSEA GRIN. Unterstützung gibt es auf „Loss“ auch von Kollegen aus dem Genre. Jason Evans von INGESTED und Ben Duerr von SHADOW OF INTENT sind bei zwei Tracks als Feature mit an Bord. Das unterstreicht dann auch für alle, die jetzt Lust auf „Loss“ bekommen haben sollten, worum es musikalisch bei OSIAH geht – das ist extrem, aber nicht hibbelig, sondern schön tief und schwer, damit es auch so richtig schön reinknallt, wenn der Drop kommt. (Unique Leader)

Jenny Josefine Schulz

https://youtu.be/vE0WIuter5I (Opens in a new window)

DANIEL TOMPKINS

Ruins

Der TESSERACT-Sänger scheint kaum zur Ruhe zu kommen. Bereits 2019 veröffentlichte er sein Soloalbum „Castles“, das nun destruiert zu sein scheint, zumindest wenn man dem Namen seines nächsten Werks Glauben schenkt. Auf „Ruins“ besingt TOMPKINS acht Rock-Tracks, die stellenweise mit Metal-Gitarren an Härte gewinnen und auch mit Gästen – Plini und Matt Heafy von TRIVIUM – von sich überzeugen können. Auch wenn sich auf dem Album konsequenterweise alles um den Gesang dreht, besitzen die Songs durchaus starke Qualitäten, die davon überzeugen, dass Daniel Tompkins auch ein guter Musiker ist. Doch eigentlich handelt es sich um eine musikalische Zusammenarbeit zwischen ihm und Gitarrist Paul Ortiz (CHIMP SPANNER), der maßgeblich an der Produktion und Abmischung beteiligt war. „Ruins“ stellt unter Beweis, dass diese Kooperation eine prosperierende Zeit gewesen ist, die ein grundsolides Ergebnis abliefert. Zwischen atmosphärischem Post-Rock und experimentellen Metal-Ansätzen findet jeder TESSERACT-Fan auch auf dieser Platte genug von dem, was man an der Musik der Briten lieben kann. Doch insgesamt ist das Soloprojekt des Sängers etwas softer und weniger komplex verpackt. (Kscope)

Rodney Fuchs

https://youtu.be/ButuDIfd_48 (Opens in a new window)

SHATTEN

Shatten

Du suchst eine Band, die es auch 2021 noch hinbekommt, nicht wie alle anderen zu klingen? Dann darf ich dir SHATTEN vorstellen! An dieser Stelle der Rezension muss erwähnt werden, dass ein Großteil der Besetzung früher als FINDUS bekannt war. Das tut aber nichts zur Sache. Denn SHATTEN sind keine Version von FINDUS, sondern eine komplett neue Band mit neuem Sound. Teilweise klingt es so, als ob jedes Instrument einen unterschiedlichen Song spielt, und dennoch passt alles auf- und zueinander. Das alles als Punk abzustempeln, würde dem Konvolut an Melodien nicht gerecht werden. Es ist gerade diese Mischung aus Punk, Indie-Vibes und den positiven Elementen der Popmusik, die die Platte besonders macht. Und all dem hört man unbestreitbar an, dass es aus Hamburg kommt. Als Kirsche oben drauf gibt es einen Gesang, der sich als eigenes Instrument versteht und den Klang mit formt. Das ist also mal wieder so eine Band, die sich nicht klar in ein Genre einordnen lassen möchte. Ob das gut oder schlecht ist, ist dann wieder abhängig vom persönlichem Geschmack. Das Debütalbum von SHATTEN ist bestimmt nicht für easy listening gedacht. Aber es ist in sich so unterschiedlich wie die zahlreichen Effektpedale der Gitarre und auch nach vielen Durchläufen noch nicht zu Ende gehört. (Rookie)

Joscha Häring

https://youtu.be/gen7vwe9rqg (Opens in a new window)

TUNIC

Exhaling

Wer das kanadische Winnipeg bisher in erster Linie mit der Musik von den WEAKERTHANS verbunden hat, dem seien TUNIC ans Herz gelegt – oder eben nicht. Bei „Exhaling“ handelt es sich quasi um die Antithese zu der wohlig warmen Decke, die John K. Samson über seinen Hörern ausbreitet. Und wo wir gerade bei dem Präfix Anti- sind, der Antichrist könnte hier auch seine Finger mit im Spiel gehabt haben. Denn TUNIC fahren zwar mit relativ kurzen, im Einzelnen wohldosierten Kompositionen auf, dies allerdings gleich 23 Mal, so dass das Album mit knapp fünfzig Minuten Länge für jeden zum Höllenritt wird, der nicht eingefestigter Anhänger von dissonantem Noiserock ist. Fans werden allerdings Gefallen an „Exhaling“ finden, weil mit der destruktiven, düsteren Stimmung in keinem Moment gebrochen wird. Aus demselben Grund bleibt aber auch nicht viel hängen. Es werden keine Kontraste bemüht, um die Abgründe noch tiefer erscheinen zu lassen. John K. Samson muss draußen bleiben, auch wenn er gerade zufällig in der Nachbarschaft ist, genau wie jegliche dem Pop zugewandten Kategorien auch. Zu diesem Sound kann es nur zwei Meinungen geben: Du kannst es lieben oder es hassen – TUNIC ist das herzlich egal. Im Zweifelsfall mehr ein Statement als ein Album. (Artoffact)

Christian Biehl

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