ARM’S LENGTH - Trostlose Welt

Seit ihrer Gründung 2018, spätestens aber seit ihrem Debütalbum „Never Before Seen, Never Again Found“ sorgen ARM’S LENGTH aus Ontario, Kanada immer wieder für Entzückung bei all jenen, die sich für Emo begeistern. Mit einem Sound zwischen Nostalgie und Moderne haben sie die Erwartungen an ihr zweites Album „There’s A Whole World Out There“ angefacht. Sänger Allen Steinberg verrät uns, wieso er es wichtig findet, sehr persönliche Songs zu schreiben, wie es sich anfühlt, sie das erste Mal den Bandkollegen zu präsentieren, und was für ihn guten Emo ausmacht.

Foto: Tessa Smith
Die offensichtlichste Neuerung bei ARM’S LENGTH ist der Labelwechsel. Seit Februar 2025 stehen sie bei Pure Noise unter Vertrag. „Das war schon in unserer Jugend eines unserer Lieblingslabels“, verrät Allen. „Und das Beste: Sie überlassen uns die volle kreative Kontrolle. Das hatte immer eine besondere Priorität für uns.“
Im kreativen Prozess dagegen hat sich allerdings eine entscheidende Rahmenbedingung geändert: Für das Debütalbum konnte Allen auf zahlreiche seiner alten musikalischen und textlichen Ideen zurückgreifen, die seit Jahren in einer Schublade schlummerten – diesmal aber entstand alles neu. „Ehrlicherweise hat dieser Ansatz jetzt viel mehr Spaß gemacht. Ich habe bewusster geschrieben und konnte viel mehr im Moment sein. Eine Zeile des ersten Tracks ‚The world‘ war wie ein Schlüsselmoment und hat das gesamte Album definiert: ‚There’s a whole world out there and you would’ve never known‘.“
Persönlichkeit
Allens Stil fällt durch seine ehrlichen, unverblümten Texte auf. Mitten in der Arbeit neuen Platte beschlichen ihn dann aber Zweifel, es könne zu persönlich werden. „You ominously end“ ist ein Paradebeispiel dafür, dass der kanadische Sänger schreibt, was ihm durch den Kopf geht, und keine Gedanken an komplizierte Metaphern verschwendet. Er erklärt: „Ich denke, solche sehr lebensnahen Lyrics können bei den Zuhörenden extrem lebhafte Assoziationen hervorrufen. Viele Menschen können sich mit diesen bildhaften Situationen leicht identifizieren und das ist wichtig.“
https://youtu.be/3CRfswZzeqs?si=22h9WtJvum3BHuI8 (Opens in a new window)Aber wie fühlt es sich an, ein sehr persönliches Thema das allererste Mal den Bandkollegen vorzustellen? „Ich bin kurz davor unheimlich nervös“, gesteht Allen. „Das liegt vor allem daran, dass ich selbst mein größter Kritiker bin. Die Jungs freuen sich aber meistens total über das, was ich zuliefere. Ich liebe es zu beobachten, wie sie sich von dem, was ich geschrieben habe, inspirieren lassen, meinen Input auf ihre Weise wahrnehmen und dann ihren eigenen Glitzer darüberstreuen.“
In den Presseunterlagen zu „There’s A Whole World Out There“ stolpert man über einen Satz, der nachdenklich macht. Das Album behandle „die Dualität aus dem Hochgefühl, am Leben zu sein, und der Qual, zu wissen, dass alles für immer verloren ist“. Allen ordnet es ein: „Ich glaube, ich habe heute einen erwachseneren Blick auf das Leben. Ich bin einfach älter geworden. Ich habe viele Traumata akzeptiert, das wird auch auf dem Album deutlich. Und obwohl ich heute besser dazu in der Lage bin, das große Ganze zu sehen, werden mich meine Erlebnisse und Erfahrungen immer verfolgen. Aber ich denke, das ist auch okay so.“
Mehr Emo, bitte
Thematisch könnten ARM’S LENGTH also wohl kaum mehr Emo sein. Und auch musikalisch tauchen sie tief in das Genre ein. Allen meint, insbesondere der Track „Morning person“ sei „so Emo!“ Was macht denn einen guten Emo-Song aus? „Wenn er episch und cineastisch ist, mit vielen Höhen und Tiefen. Ich liebe die Payoffs in diesem Track!“, beschreibt es der Sänger. „Ich mag es, wenn ein Emo-Song eine Geschichte erzählt – und zwar sowohl mit seinen Worten als auch mit der Musik.“ In diesem und weiteren Stücken des neuen Albums ist zudem ein Banjo zu hören. „Ich finde es toll, wie Bands wie NOW, NOW das Banjo in ihre Musik integriert haben. Auch Phoebe Bridgers und Noah Kahan sind gute Beispiele. Und ich denke, auch zu unserem Sound passt es richtig gut.“
Wir sind wahrscheinlich die lächerlichsten, albernsten und dämlichsten Typen dieser Erde.
Natürlich lohnt es sich, ein Album von ARM’S LENGTH von vorn bis hinten durchzuhören. Aber welchen Song von „There’s A Whole World Out There“ würde Allen auswählen, wenn er der Welt nur einen einzigen vorspielen könnte? „Vermutlich wäre auch das ‚Morning person‘“, überlegt Allen. „Das ist bislang mein Lieblingstrack von uns und ich denke, er könnte durchaus einigen Leute ziemlich wichtig werden. Das würde mich jedenfalls glücklich machen.“ Es ist ein Song, wie Allen ihn sich immer von seiner Band gewünscht hat: lang, dramatisch, episch, melodisch, wütend, traurig, sehnsüchtig ... So richtig Emo eben.
So gar nicht Emo sind übrigens Allen und seine Jungs im privaten Miteinander. „Wir sind wahrscheinlich die lächerlichsten, albernsten und dämlichsten Typen dieser Erde. So gut wie nie ernsthaft. Manchmal vergehen ganze Tage, an denen wir nicht unsere normalen Stimmen nutzen, wenn wir miteinander sprechen“, lacht er.
Rausgeschaut
Aber mal kurz den Blick abgewendet von den Interna der Band, dem Songwriting und der Resonanz auf ihre Musik. „There’s A Whole World Out There“ – doch wie sieht unsere Welt durch Allens Augen betrachtet aus? „Extrem trostlos“, sagt er trocken und ergänzt: „zumindest in den meisten Bereichen.“ Und was kann da helfen? Sich auf die Dinge zu konzentrieren, die man selbst in der Hand hat. „Ich fokussiere mich auf meine Liebsten – und rate jedem dringend, das auch zu tun. Sagt den Leuten, denen euer Herz gehört, dass ihr sie liebt. Wählt außerdem Politiker, die nicht die Schwächsten unserer Gesellschaft übergehen. Die USA sind aktuell so furchtbar angsteinflößend. Das erzeugt extremes Unbehagen.“
Ein weiteres probates Mittel, um den Zustand unserer Welt zumindest vorübergehend ein bisschen erträglicher zu machen: Live-Musik. Bis ARM’S LENGTH auch bei uns vorbeischauen, müssen wir uns allerdings noch ein bisschen gedulden. Deutschland und Europa stehen aber für 2026 fest auf der Agenda der Band. Bis dahin hören wir eben ihre neue Platte – und blicken weiter auf diese merkwürdige Welt dort draußen.
Jeannine Michèle Kock