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Januar // Wisława Szymborska

Wenn ich an sie denke, habe ich ein zartes, zerbrechliches Körperbild vor Augen, den Körper eines kleinen Vogels, aber clever, schelmisch mit Sinn für Humor. Und wenn ich sie mir vorstelle, habe ich Landschaften in Blau- und Tauben-Grautönen vor Augen. Vielleicht durch die Atmosphäre der Stadt, in der Wisława Szymborska lebte - eine außergewöhnliche Dichterin, eine humorvolle Person und dazu noch Nobelpreisträgerin. Wer das magische Krakau, die Stadt im Süden Polens, im Herbst oder Frühling erlebt hat, wird wissen, wovon ich spreche. Ich habe den Krakauer Spleen siebenmal erlebt, als ich dort studierte, arbeitete und ein sehr buntes Leben voller interessanter Begegnungen führte. Sieben lange und schöne Jahre, in denen Menschen und Ereignisse flossen, ich freundete mich mit Menschen aus Kunst, Literatur und Theater an. Krakau lebte seinen Mythos der Bohème und ich habe ihn in diesen sieben Jahren gelebt. Mit Begeisterung und Enthusiasmus, hungrig und gierig nach allem.

In der Tradition dieser Stadt waren große Persönlichkeiten einfach in das Stadtbild eingewoben. Jemand hatte seinen Lieblingsplatz zum Schreiben unter einem Fenster, an einem bestimmten Tisch, in einem bestimmten Café. Jemand anderes aß Pierogi nur in dieser Milchbar. Eine andere Persönlichkeit konnte einfach nicht darauf verzichten, morgens Zeitung an diesem Kiosk an der Ecke von zwei bestimmten Straßen zu kaufen. Als junger Mensch habe ich das aufgesogen, bin einer gewissen Atmosphäre erlegen, habe mich selbst kennengelernt, erforscht, zu viele Fragen gestellt, konnte meine Neugier nicht bändigen - dafür bin ich heute sehr dankbar.

Ich freundete mich sehr eng mit Schriftstellern des berühmten Krakauer Literaturverlags an und so landete ich eines Abends völlig spontan in einem kleinen italienischen Restaurant zum Abendessen mit der Nobelpreisträgerin Wisława Szymborska. Ich habe diese Tatsache genauso normal behandelt, wie wir alle am Tisch. Zum Glück bin ich nicht mit einer aufdringlichen Bitte um ein Autogramm herausgesprungen, aber ich habe den elegant geäußerten Rhythmus der Worte von Frau Wisława aufgesogen, die aus ihrem Mund zu fließen schienen, als hätten sie es nicht eilig. Ich schaute auf ihre von Flecken und Linien gezeichneten schlanken Hände, mit Perlmuttlack bedeckte Mandelfingernägel und dachte daran, dass ich davon vielleicht irgendwann meinen Kindern erzählen würde. Ich wusste es jedoch nicht, konnte noch nicht einmal ahnen, dass ich, bevor ich es meiner Tochter erzähle, zuvor das Porträt von Pani Wisława - also Frau Wisława - zeichnen würde, indem ich an diesen Abend Fragment für Fragment erinnere. (übrigens, im polnischen ist es tatsächlich üblich über Persönlichkeiten mit dem Vornamen und Anrede zu sprechen)

Angeblich soll Pani Wisława, als sie von der Vergabe des Nobelpreises 1996 informiert wurde, kommentiert haben: "O Boże, dlaczego właśnie ja…//Oh Gott, warum gerade ich...". Wenn sie gewusst hätte, wie sie den Weg für Frauen zu diesem Preis geebnet hat, hätte sie sicherlich eine lustige Erwiderung gefunden, denn Frau Wisława war eine Dichterin der ernsthaften, traurigen Gedichte, aber sie hatte eine fröhliche und scherzhafte Persönlichkeit. Das kann ich nur bestätigen.

Die Drei Seltsamsten Worte

Sag ich das Wort Zukunft,

ist seine erste Silbe bereits Vergangenheit.

Sag ich das Wort Stille,

vernichte ich sie.

Sag ich das Wort Nichts,

schaffe ich etwas, das in keinem Nichtsein Raum hat.

Trzy słowa najdziwniejsze

Kie­dy wy­ma­wiam sło­wo Przy­szłość,

pierw­sza sy­la­ba od­cho­dzi już do prze­szło­ści.

Kie­dy wy­ma­wiam sło­wo Ci­sza,

nisz­czę ją.

Kie­dy wy­ma­wiam sło­wo Nic,

stwa­rzam coś, co nie mie­ści się w żad­nym nie­by­cie.

Wisława Szymborska, "Die drei seltsamsten Worte", in: Der Augeblick/Chwila - Gedichte.
Herausgegeben und übertragen von Karl Dedecius. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005, S. 21.

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