Der Wert der Frauen
Als ich kürzlich aus dem Osterurlaub nach Leipzig zurückgekehrt bin, war in der Stadt mit einem Mal Sommer, früher Sommer, aber Sommer, Frühling einfach vorgespult. Denn es war so warm, dass mir wieder halbnackte Männer auf dem Rad begegneten und ich daran erinnert wurde, dass es Erregung öffentlichen Ärgernisses bis Beleidigung für mancher Mensch Ästhetik-Empfinden wäre, würden Frauen das tun, denn Frauenkörper sind nicht fei. Nicht frei von Bewertung, gewaltvollen Übergriffen, Sexualisierung und Verurteilung. Neben der Inbrunst der Männer ihren nackten Körper in jedem denkbaren Raum zur Schau zu stellen, tat die Vegetation in ihrer Zurschaustellung nicht minder und ist innerhalb von einer Woche voller Wärme und Regen explodiert. Alles stand in sattem grün und überall berauschender Fliederduft in den Straßen. Eine schönere Heimkehr, abgesehen von der Raumeinnahme durch halbnackte Männer, kann man sich nicht wünschen. Exponiert sich die Natur im Frühling nach einem langen Winter, ist es, als würde einem nach einem austrocknenden Marsch ein Zitronenwasser mit kleinem Spritz und Liegestuhl mit Blick auf das segelbebotete Wasser gereicht. Also ging ich in den Keller und holte meine Sommerschuhe hervor, die so viel Vielfalt in Gestalt und Farbe aufweisen, dass die Menschen, die sie zu Gesicht bekommen, dies in keinem Frühling unkommentiert lassen. FLINTA* kommentieren positiv, Männer … nunja. Das sagt viel über die fehlende Gewohnheit einer Farben-, Form- und Schuh-Vielfalt unserer Gesellschaft aus, aber auch über Äußerlichkeiten kommentierende Männer. So unterbrach sich zum Beispiel ein Mann selbst, der radfahrend und oberkörperfrei mit seinem Kumpel an mir vorbeifuhr mit „schöne Schuhe!“ und amüsiertem Gelächter. Sein Kumpel blickte nochmal zurück, um sich selbst von meinen Schuhen zu überzeugen und lachte ebenfalls. Warum sind meine Schuhe seiner Rede wert?

Es ist doch in jedem Frühling das gleiche: kaum sind die Knöchel entblößt, die winterbemantelte Verschleierung des kurzen Rockes abgetragen und die Lippen rot bemalt, fühlt sich die cis-hetero Männerwelt dazu berufen, das Aussehen von Frauen zu kommentieren, sie zu berühren, beiläufig im Vorbeigehen, sie anzuschnalzen oder anzustarren, als wären sie lebendige Exponate, die man als Gegenleistung fürs Bestaunen beflirten, nah, belästigen muss. Es ist fast egal in welchem öffentlichen Raum man das Konzept Frausein wagt, ob klassisch an der Baustelle vorbei, alltäglich auf der Arbeit, im Supermarkt, der Straßenbahn, oder in der Körperkampfzone des Fittis. Catcalling, Dominanz und sexuelle Belästigung verlieren einfach niemals an Relevanz und Aufschlussreichtum über den aktuellen Stand der kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklung. Und jedes Jahr im Frühling kann man dieses soziale Konstrukt der patriarchalen Machterhaltung von neuem ungebremst erblühen sehen. So ist es für Frauen weiterhin, vielleicht durch den weltweiten antifeministischen backlash nochmal stärker geworden, ganz normal, dass ein Arbeitskollege regelmäßig und ungefragt das Outfit der Kollegin kommentiert und bewertet — „oh, das sieht aber mal gut aus heute“ oder „na, da hast du ja heute was gewagt, hm?“ — ein erwachsener Schüler mich als seine Gesangslehrerin optisch mit meinem jüngeren Ich vergleicht und entsprechend bewertet, eine junge Frau nicht mehr Straßenbahn fahren will, weil sie dort oft schon mit süffisantem Grinsen minutenlang angestarrt und von oben bis unten gescannt wurde, ein alter Mann Fotos von mir und meiner Tochter beim Eisbaden macht, ein Chef seiner Angestellten mit den Fingern durch die Haare gleitet, als sie kritische Bedenken anspricht, meine Schuhe im öffentlichen Raum von Fremden bewertet werden, freigelegte Bauchnabel oder Oberschenkel als Einladung zum Ansprechen verstanden werden und ein Frauenkörper beim Krafttraining ungefragte Tipps für rundere Pomuskeln bekommt. Herrlich. Alles Dinge, auf die Frauen den ganzen Tag, ach was, das ganze Leben lang schon warten.
Das Kommentieren und Bewerten von Körpern, Kleidung und der Art sich zu bewegen war schon immer ein patriarchales Instrument der Machtausübung. Damit kann man das Selbstbewusstsein und die Offensive von Frauen wunderbar kontrollieren. Im Ergebnis sehen wir Männer in gleichförmiger und selbstverständlicher Dominanz und Frauen in der Unterwerfung,
denn Äußerlichkeiten zu bewerten dient der Kleinhaltung und somit der Erhaltung einer Ordnung, der patriarchalen Ordnung.
Wer von außen stets bewertet wird, wird von der Bewertung anderer abhängig und sucht darin Anerkennung durch Anpassung. Und diese Anpassung funktioniert in beide Richtungen: entweder man verhält sich unauffällig und androgyn, vermännlicht sich als FLINTA* also weitgehend, oder man definiert seinen Wert vollends über Schönheit und die Vorstellung von Weiblichkeit, die ebenfalls ein normiertes Konstrukt der Gesellschaft in der man lebt ist und die wenig Platz für Abweichungen lässt. Für Männer bedeutet das in der Umkehr, dass sie lernen in ihrem Verhalten und äußeren Auftreten möglichst unweiblich zu sein, damit sie nicht mit einer Frau verwechselt werden und innerhalb der Machtgefüge nicht an Stellung verlieren und auf das Bewertungstableau fallen, auf dem FLINTA* stehen. Wie wir als europäische westliche Menschen aussehen würden, uns kleiden, bewegen, anmalen und schmücken würden, lebten wir nicht in der Gesellschaftsform Patriarchat, in der alles Weibliche abgewertet wird, ist völlig unklar. Und genau das macht vielen so Angst vor dieser Wokeness. Und genau das macht es so spannend mit Mode, Schmuck, MakeUp, Körperarbeit und Identität zu spielen. Das haben Kinder, Queere und Frauen längst erkannt und andere Kulturen sowieso. Nur Männer nicht — weiße, cis-hetero Männer.
Dass FLINTA* das Spielen mit Identitäten und fluidem Äußeren — Haarfarbe und Kleidungsstile wechseln, mit vielen Farben und Formen in der Kleidung verspielt variieren — durch vorgelebte Rollen in Familie, Film, Geschichtenfiguren, genderstereotypem Spielzeug usw. von klein auf verinnerlicht haben, kann man einerseits als Geschenk betrachten, das einem ein gewisses Maß an Freiheit im Identitätfinden verleiht und andererseits als schwere Bürde, die in der Kindheit schon internalisiert im gesamten weiteren Lebensentwurf nicht nur individuelle Probleme bereiten wird, wie Schönheitsdruck und Schlankheitswahn, sondern eben auch Abhängigkeit von der Bewunderung und Anerkennung eines Mannes oder mehrerer Männer, im Job, im öffentlichen Raum und natürlich im Privaten. Nicht zuletzt hat der eigene Wert dann auch ein ganz klares Verfallsdatum und das noch weit vor dem Lebensende, was, wenn man über Lebensweisheit nachdenkt, völlig hohl ist. Denn in unserer Kultur gilt eine Frau dann als schön, wenn sie jung, schlank und weiß ist. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass FLINTA* sich kaum gegen die Form der Unterdrückung wehren. Sie sind so sehr von dem Narrativ der Wertsteigerung durch Schönheit geprägt, dass sie sich in jungen Jahren wegen der Erwartung der Belästigung davor fürchten an einer Baustelle vorbei zu laufen und ab den mittleren Jahren davor fürchten, dass da niemand mehr hinterher ruft, weil sie (glauben) ihren einzigen und in dieser Welt geltenden Wert durch ihr Alter verloren (zu) haben.
Das festsitzendste und normalisierteste Instrument des Patriarchats ist es, den Wert von Frauen über Schönheit zu bemessen. Darüber lässt sich die hysterische, emotional intelligente, wechselhafte, starke und clevere Weiblichkeit, die Knochen in ihrem Uterus wachsen lassen kann, am besten und effektivsten kontrollieren und im Zaum halten. Frauen, die die ganze Zeit damit beschäftigt sind, darüber nachzudenken, ob sie gut genug aussehen, damit sie geliebt und anerkannt, statt abgelehnt werden — abgelehnt auch in ihren Kompetenzen übrigens, da Schönheit gleichgesetzt wird mit Kompetenz und Erfolg — haben keine Kapazitäten und Ressourcen, um sich zu wehren, zu vernetzen, Karriere zu machen, sich aufzubauen, selbstbewusst zu werden und für sich entsprechend einzustehen. Sie haben schlicht keine Zeit für diese wesentlichen Selbstfürsorge-Tätigkeiten, da ihnen die sichere Basis dafür, ein Selbstverständnis ihres Seins, ohne einen Mann, der sie rettet oder bewundert oder anerkennt, ohne eine Schönheitsleistung, in der Kindheit abtrainiert wurde. Jawohl, abtrainiert. Denn in einem liebenden Elternhaus haben zunächst beide Geschlechter die gleichen Chancen von ihren Eltern Liebe und Anerkennung zu empfangen und ein gutes Selbstwertgefühl zu entwickeln. Doch irgendwann spielen Erwachsene anders mit Mädchen, als mit Jungen, sie stellen unterschiedliche Erwartungen an sie. Und da beginnt das Dilemma, welches in vielen Baby-X-Studien (Opens in a new window) schon seit den 1970ern belegt wird.
Die Reduzierung von Frauen auf ihr Äußeres, was nicht nur auf personaler Ebene geschieht, sondern auch auf kultureller und struktureller Ebene, macht Frauen zu Objekten, sie entmenschlicht sie. Und jede Form der Entmenschlichung, ist ein Türöffner für Gewalt. Mit einem Objekt muss man nicht umgehen, wie man es für einen Menschen im allgemeinen für angemessen hält. Diese Objektifizierung bewirkt folglich auch ein Besitzdenken gegenüber Frauen. Denn Objekte kann man sich anschaffen, wie ein Auto, mit dem man dann machen kann, was man will. Und Objekte kann man im Vorbeifahren auch bewerten. Man kann sie catcallen. Männer wissen, dass sie über das Kommentieren und Bewerten von Frauenkörpern Macht ausüben. Sie wissen, dass sie damit den öffentlichen Raum einnehmen und darüber bestimmen, ob sich jemand in ihrer Nähe wohlfühlt oder sicher. Wenn Baustellenarbeiter vorbeilaufende Frauen belästigen, dann nicht weil ihnen langweilig ist, sondern weil sie sich daran ergötzen, dass sie Unbehagen oder Verlegenheit im Gegenüber auslösen. Weil sie sich dann selbstwirksam fühlen, wenn sie auf diese Art Macht ausüben und andere unterdrücken, von denen sie sich vielleicht herabgesetzt fühlen. Das gleiche gilt auch für übergriffige Kollegen, die gerade dann eine Äußerlichkeit einer Frau kommentieren, wenn diese im Meeting selbstbewusst das Wort ergreift und eine Position für sich in Anspruch nimmt, die ihr aus Sicht des Kollegen nicht zusteht.
Man(n) sollte sich immer hierbei bewusst machen, dass das Kommentieren von Frauenkörpern, sexistische Witze und Beleidigungen schon auf der dritten Stufe der Gewaltpyramide (Opens in a new window) (=sozialpsychologisches Erklärungsmodell für extreme Gewalt wie Mord) stehen. Zwei Stufen weiter folgt der Femizid. Nur falls jetzt wieder nicht alle Männer Reflexe durchzwicken. Fast jede Frau kennt eine Frau mit Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt oder hat selbst welche, aber kaum ein Mann kennt einen Täter.
Auf dem zweiten Platz der effektivsten Instrumente des Patriarchats ist die Care-Arbeit. Pflege, Kindererziehung und Haushalt wurden in keiner Gesellschaftsform so verweiblicht, wie in der kapitalistischen Welt. Und Kapitalismus und Patriarchat müssen immer zusammen gedacht werden, sie sind so sehr miteinander verquickt, wie ein Mann und sein Penis. Nicht böse sein, sind ja nicht alle Männer (Opens in a new window). Auch mit dem Ablehnen der Care-Verantwortung üben Männer Gewalt gegenüber Frauen aus. Das Glauben an evolutionsbiologische Gründe für Care-Fähigkeiten, mag ja unbewusst internalisiert sein und somit zu emotional nicht erreichbarem Verhalten und fehlendem mental load führen, nimmt aber nicht die Verantwortung dafür ab, sich mit Care und den sozialisierten Fehlleitungen der Geschlechter auseinanderzusetzen. Care-Arbeit ist immer noch in den meisten Haushalten unbezahlte Frauensache, die weder Anerkennung, noch finanzielle Wertschöpfung erfährt. Sie wird vorausgesetzt, weil man sie doch aus Liebe tut und Liebe ist doch unbezahlbar. Durch ungleich verteilte Care-Arbeit arbeiten Frauen in Teilzeit, weil es sonst nicht anders geht. Dadurch sind ihre Wiedereinstiegschancen und Karrieremöglichkeiten, sowie ihre Renten zu gering und sie sind wieder: abhängig. Diesmal von der Güte, der Gunst und dem Gönnen ihrer Männer. Care-Arbeit ist nicht fair verteilt, wenn er im Haushalt hilft oder zwei Monate Elternzeit nimmt, um mit der Familie eine Family-Van-Auszeit in Skandinavien zu unternehmen, sondern wird dann gerecht verteilt sein, wenn Frauen ihren Männern keine To-Do- oder Einkaufslisten mehr schreiben müssen, sondern er alles bereits selbstständig besorgt hat, weil er selbstständig bemerkt hat, dass es im Haushalt fehlt und vor dem Abendessen kochen noch bei der Oma vorbeifährt, um durchzusaugen, nachdem er mit den Kids beim Impfen war. Und solange Männer in Sachen Care nicht zu gleichen Teilen in unseren Familien und unserer Gesellschaft, in Pflege der Eltern, kranker Kinder, chronisch kranker Menschen und Menschen mit Behinderung, eingebunden sind wie Frauen, werden sie Frauen, die diese „niederen“ Tätigkeiten machen als weniger wertvoll einstufen, denn deren so raumgreifende Care-Arbeit ist zwar nützlich, sehr sogar, aber sie hat keinen kapitalen Wert. Wer im Kapitalismus (=Penis) kein Kapital schlägt, wird vom Patriarchat (=Mann) gecatcalled und in Äußerlichkeiten kommentiert und bewertet. Jeden Frühling aufs Neue und zu jeder anderen Jahreszeit. So einfach ist die Rechnung.
Ich wünsche mir daher komplexere und anspruchsvollere Rechnungen, die meinen Intellekt nicht beleidigen. Und das sollten sich doch wohl alle für sich selbst wünschen.
Es grüßt, Christin
Live-Termin:
10.05.2025 | 12 Uhr
#hundertausendmütter Demo in Berlin; Monbijoupark → Platz der Republik
Rede zu struktureller Gewalt
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