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Kurze Momente des Staunens

Wie man wieder zu sich findet, wenn man sich verloren fühlt. Über kleine Eingebungen und große Perpektivenverschiebungen 

Dear all,

während ich heute morgen geraucht und meinen viel zu großen Espresso getrunken habe, schaute ich mir versunken den Blutpflaumenbaum auf meiner Terrasse an, dessen Zweige seit einigen Tagen mit hunderten zarten rosafarbenen Blüten übersät sind, die mich ein wenig an japanische Farbholzschnitt erinnern. Eine kleine Haubenmeise hüpfte aufgeregt von Ast zu Ast und piepste inbrünstig vor sich hin und ich wünschte mir, dass ich all das - den leicht lila Einschlag des Blütenrosa, das helle Gelb und das pastellfarbene Blau des Vögelchens, den kaum wahrnehmbaren Duft der Pflaumenblüten -  irgendwie einfangen könnte. Und in diesem kurzen Moment des Staunens, diesem kurzen Gefühl einer gewissen Ehrfurcht, fiel mir ein, dass die Uhren über Nacht auf die Sommerzeit vorgestellt wurden, und mir schoss der Gedanke durch den Kopf, dass das Schlimmste jetzt vielleicht vorbei sei.

Ich muss zugeben, dass ich mich seit einigen Wochen etwas verloren fühle. Ein bisschen so, als hätte sich ein unsichtbarer Anker gelöst, der mich irgendwo festgehalten hatte 

Ich muss zugeben, dass ich mich seit einigen Wochen etwas verloren fühle. Ein bisschen so, als hätte sich ein unsichtbarer Anker gelöst, der mich irgendwo festgehalten hatte. Dieses Gefühl holt mich mich regelmäßig ein, vor allem in den ersten Monaten des Jahres. Ich habe schon seit einiger Zeit keine depressiven Phasen mehr, die mich und mein Leben komplett auf Eis legen, doch dieses wiederkehrende Gefühl zwischen Januar und März ist mir von diesen Phasen zurückgeblieben. Ein Teil von mir geht zusammen mit den Pflanzen in den Parks und Gärten in den Winterschlaf, ich verabschiede mich ein wenig von allem, fühle mich müde und hänge mit all meiner Arbeit hinterher. Die Umstellung auf die Sommerzeit ist immer der Tag, an dem ich weiß, dass sich das in den die nächsten Monate wahrscheinlich ändern wird. Die Welt erwacht langsam wieder zum Leben und vielleicht, denke ich, schaffe ich das auch.

Die vergangenen Wochen waren auch unabhängig von meiner Verstimmung herausfordernd. Wenn ich nach meinem Espresso die Nachrichten lese, vergeht eigentlich kein Tag, an dem ich mir nicht sofort noch einen Espresso machen möchte. Das Aufenthaltsstipendium in der Villa Concordia ist zu Ende gegangen und es fiel mir gar nicht so leicht, von den anderen Stipendiat*innen und den Mitarbeitenden des Künstlerhauses in Bamberg zu verabschieden, die ich irgendwie in mein Herz geschlossen hatte. Ich war einige Tage für einen Schreibaufenthalt in Venedig, habe in Königstein einen meiner Schreibworkshops gegeben, die schön und intensiv zugleich sind, habe die für geraume Zeit letzten Veranstaltungen absolviert, die englische Veröffentlichung von „Allein“ vorbereitet und an dem neuen Buch weitergearbeitet, das sich von Tag zu Tag dringlicher anfühlt. Ich habe mich eigentlich jeden Tag gefragt, wie andere Menschen es schaffen, solche Phasen zu überstehen. Doch seit einer knappen Woche sitze ich nun an meinem Schreibtisch in Berlin, schreibe, komme zur Ruhe, schaue immer mal wieder dem Blutpflaumenbaum dabei zu, wie er zur Freude der Meisen mehr und mehr erblüht und gerate ab und an ein ins Staunen.

Es ist so einfach, über solche kurzen Momente des Staunens hinwegzusehen. Dabei sind sie so wichtig für uns, unser Gefühl, in der Welt zu sein, für unsere innere Ökologie 

Es ist so einfach, über solche kurzen Momente des Staunens hinwegzusehen. Dabei sind sie so wichtig für uns, unser Gefühl, in der Welt zu sein, für unsere innere Ökologie. Wir alle kennen die Ehrfurcht, wenn man am Meer steht oder sich irgendwo hoch oben in den Bergen befindet. Man versteht anders, dass man ein kleiner Teil einer großen Welt, eines großen Ganzen ist, versteht es überhaupt. Doch wenn man genau darauf achtet, erlebt man solche Momente auch im Kleinen – ob man aus dem Zugfenster die Störche beobachtet, die aus dem Süden zurückgekehrt sind, man beim Spazierengehen bemerkt, dass es nach den kleinen lila Veilchen riecht, die plötzlich an allen Ecken des Parks wachsen, ob man sich ein Pesto aus dem ersten intensiven Bärlauch des Jahres macht. Oder sich eben eine Meise anschaut, die erfüllt von ihrer Mission, in einem blühenden Pflaumenbaum herumhüpft.

Ich wünsche euch allen ein durch und durch wunderbares Frühlingserwachen. Wünsche euch, dass ihr, falls ihr euch ähnlich verloren fühlt wie ich, etwas zu euch findet, jetzt, da die Tage wieder länger werden. Und dass es euch gelingt, euch für die kleinen Momente des Staunens zu öffnen und einen gewissen Sinn für sie zu kultivieren - egal, wie unbedeutend sie zunächst erscheinen mögen, sie können durchaus große Perspektivenverschiebungen nach sich ziehen.

Habt’s gut und passt auf euch auf!

Alles Liebe,

Daniel

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