Zwischen uns ein Graben
Sarahs langjährige Freundin beginnt, sich feindlich gegenüber Transmenschen zu äußern und wird darin immer radikaler. Lässt sich die Freundschaft noch retten?
Dear Daniel,
meine Freundin Anja (nicht ihr wirklicher Name) kenne ich bereits seit 23 Jahren. Obwohl ich schnell aus meiner Heimatstadt weggezogen bin, hielten wir auch nach unserer Schulzeit Kontakt, unter anderen wegen unserer ähnlichen politischen, feministischen und kulturellen Interessen. Auch während der Pandemie haben wir uns gegenseitig besucht und haben uns auch über ihre Verzweiflung angesichts der Impfskepsis ihrer Familie unterhalten. Ich erwähne das explizit, weil Anja immer einen rationalen und wissenschaftlichen Blick auf die Dinge gehabt hat.
Letztes Jahr sind wir online erstmals in eine Auseinandersetzung geraten, als Anja sich feindlich gegenüber Transmenschen äußerte. Ich studiere seit mehreren Jahren Genderstudies und bin mittlerweile in einer festen Beziehung mit einer Transfrau und sehr glücklich verliebt.
Anjas Online-Beiträge wurden immer feindlicher und radikaler. Sie schürt diffuse Ängste, obwohl sie Transmenschen noch nicht einmal persönlich kennt. Ihr Verhalten greift mich aus naheliegenden Gründen unmittelbar an. Online blockiere ich transfeindliche Accounts schnell. Auch weil ich dort keine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen möchte, die immer in Gewalt in meinen Offline-Alltag umschlagen kann. Viele dieser Accounts haben eine Schnittmenge mit rechtsradikalen Gruppen. Aber Anja ist kein anonymer Online-Troll, sondern eine Frau, mit der ich weit zurückreichende Erinnerungen teile und mit der ich schon seit vielen Jahren in einem intensiven Austausch stehe. Andererseits weiß ich, welchen realen Gefährdungen meine Partnerin als Transfrau ausgesetzt ist und das bereitet mir große Sorgen.
Neulich habe ich habe ich Anja geschrieben, wie sehr es mir das Herz bricht, sie immer wieder so transfeindlich zu erleben. Ihre Reaktion war provozierend und abweisend, ein Austausch fand nicht statt. Auf meine letzte Nachricht, mit der ich unverfänglich signalisieren wollte, dass ich noch an unserer Freundschaft interessiert bin, bekam ich keine Antwort.
Ich versuche, mich in ihre Situation hineinzudenken. Für sie bin wohl ich diejenige, die radikalen Ideologien aufsitzt, ähnlich wie ihre impfskeptische Familie. Ich weiß nicht, ob und wie ich da noch ein Gespräch suchen kann. Ob es vielleicht Zeit ist, loszulassen. Ich hoffe immer noch, dass sie selbst merkt, in welche ideologische Nähe sie sich da bringt und irgendwann ein klärendes Gespräch mit mir sucht. Die Stille und dieses Ungeklärte zwischen uns machen mich so traurig und hilflos.
Liebe Grüße, Sarah
Liebe Sarah,
danke für deinen Brief, der mich sehr berührt hat. Viele Menschen machen derzeit ähnliche Erlebnisse wie du. In den vergangenen Jahren haben sich tiefgreifende „ideologische“ Gräben aufgetan, von denen man lange gar nicht dachte, dass sie existierten. Es ist erschütternd, das mit anzuschauen. In deinem Brief benennst du gleich zwei solcher Grabenkämpfe von absurder Sprengkraft: Das Impfen und die Bewegung, die für die lange überfälligen Rechte von Transmenschen kämpft.
Beide Kulturkämpfe wurden zunächst in den sozialen Medien angezettelt, unter anderem durch rechtspopulistische Desinformationskampagnen. Beide haben sich als eine Art Blitzableiter erwiesen, mit dessen Hilfe man auch in der Mitte der Gesellschaft Hass schüren und bequem von anderen politischen Belangen ablenken kann. Und beide sind in ihrer Intensität natürlich sehr schnell aus der Online- in die Offlinewelt geschwappt. Mit dramatischen Folgen. Unter anderem aufgrund der online geschürten Transfeindlichkeit von Menschen wie Anja werden Transmenschen wie Malte C. in Münster auf offener Straße ermordet. Jeder transfeindlich mobilisierende Twitter-Post gibt Menschen wie ihn täglich zum Abschuss frei. Es ist erschütternd, wie gesagt, und noch viel mehr als das.
Freundschaften werden erst dann zu Freundschaften, wenn man erkennt, dass man den anderen Menschen und seine ureigene Andersartigkeit nie wirklich versteht oder auch nur verstehen kann. Wenn man seinen eigenen egozentrischen Horizont überwindet und dabei dem anderen Menschen die Freiheit gibt, er oder sie selbst zu sein.
Ich finde es interessant, dass dein Brief keine wirkliche Frage enthält, obwohl er im erklärenden Ton einer Frage geschrieben ist. Ich habe den Eindruck, dass der Brief eigentlich an Anja und nicht an mich gerichtet ist. Und dass du tief in dir gar keine Frage mehr hast - eigentlich weißt du
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