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Gibt es so etwas wie Karma?

Antonia sitzt krank zuhause, fühlt sich allein und fragt sich, warum sich niemand um sie kümmert. Warum ist das Leben so ungerecht zu ihr?

Dear Daniel,

ich habe Corona und bin seit zwei Wochen zuhause. Ich habe vier Freundinnen angesteckt - obwohl ich am besagten Abend noch einen Selbsttest gemacht habe und dem Halskratzen daher nicht weiter Beachtung geschenkt habe. Es war zudem mein Geburtstag. Darum habe ich auch alle herzhaft umarmt. Nun plagen mich Schuldgefühle und Vorwürfe. Viel schlimmer aber ist, dass ich mich schrecklich allein fühle. Mein Sohn ist mit seinem Vater in die Ferien gefahren (wir sind geschieden). Auch wenn die Freundinnen nun auch alle leiden, sie haben trotzdem jemanden, der für sie da ist, ich selbst nicht.

Ich bin eine Person, die Freundschaften immer über alles stellt, aber wenn es darauf ankommt, dann ist sich eben doch jede selbst die nächste und kein Mensch will wissen, wie es MIR geht. Vor lauter Entschuldigungen und Nachfragen, wie es meinen Freundinnen geht, habe ich völlig vergessen, mir selbst Bettruhe zu gestatten. Ich habe mich ins Homeoffice gestürzt, weil ich dachte, so wenigstens etwas Sinnvolles machen zu können. Nun geht es mir in der zweiten Woche des Krankseins gesundheitlich entsprechend schlechter als in der ersten.

Nun meine Frage: Gibt es Karma? Kommt irgendwann alles Gute mal zurück, das man so gibt? Wieso fühlt es sich gerade, wenn es einem nicht gut geht, so an, dass das Alleinsein nicht funktioniert? Ich bin sonst sehr gerne allein (d.h. ohne Beziehung), aber jetzt gerade merke ich, dass ein Partner vielleicht doch schön wäre. Jemand, der einfach für einen da ist, der sich um einen kümmert, dem es nicht egal ist, dass ich seit zwei Wochen und bestem Wetter hier in meinen vier Wänden hocke und krank und frustriert bin. Immer wieder merke ich, dass das Leben ungerecht ist. Das wird es immer sein, das ist klar. Manchmal hat man einfach die Illusion, dass es doch auch mal sein könnte, dass das Gute zu einem zurückkommt.

Liebe Grüße, Antonia

Liebe Antonia,

vielen Dank für deinen Brief. Ich habe jetzt eine Weile darüber nachgedacht und hoffe, du sitzt gerade irgendwo, während du diese Antwort liest. Denn ich möchte dir etwas sagen, was vielleicht nicht ganz so einfach zu verkraften ist: Ohne dich zu kennen, möchte ich die Behauptung wagen, dass du kein so guter Mensch bist, wie du denkst.

Bitte versteh mich nicht falsch: Die allermeisten von uns sind weder ganz besonders gute noch ganz besonders schlechte Menschen, sondern eine Mischung aus beidem. Ich selbst bin auch kein wirklich guter Mensch. Die meisten von uns versuchen, anständig zu sein, sich gut und richtig zu verhalten und ein Leben zu führen, in dem wir anderen Menschen nicht wehtun. Aber dass wir es versuchen, bedeutet nicht, dass es uns auch immer gelingt. Häufig verletzen wir Menschen, ohne es zu merken. Häufig sind wir mit blinden Flecken in unserer Persönlichkeit konfrontiert, die dafür sorgen, dass wir einige unserer Verhaltensmuster schlicht nicht durchschauen. Häufig leben wir mit psychischen Dilemmata, die es schwer machen, ein wirklich guter Mensch zu sein. Wenn wir ein gutes Leben führen wollen, gehört es zu unseren zentralen Aufgaben, beide Seiten in uns, die gute und die schlechte, anzuerkennen und zu akzeptieren.

Wenn wir ein gutes Leben führen wollen, gehört es zu unseren Aufgaben, beide Seiten in uns, die gute und die schlechte, anzuerkennen und zu akzeptieren. Mein Eindruck ist, dass bei dir auf diesem Gebiet noch etwas Nachholbedarf besteht. Um es zugespitzt auszudrücken: Dass du dich nach dem Wohlergehen der vier Freundinnen erkundigst, die du mit Corona angesteckt hast, bedeutet nicht, dass du Mutter Theresa bist.

Mein Eindruck ist, dass bei dir auf diesem Gebiet noch etwas Nachholbedarf besteht. Um es zugespitzt auszudrücken: Dass du dich nach dem Wohlergehen der vier Freundinnen erkundigst, die du mit Corona angesteckt hast, bedeutet nicht, dass du Mutter Theresa bist. Und dass du arbeitest, obwohl du krank bist, macht dich auch nicht zu Mahatma Gandhi.

Dein Brief ist etwas widersprüchlich. Auf der einen Seite sagst du, du hättest Schuldgefühle, weil du deine Freundinnen auf deinem Geburtstagsfest infiziert hast. Auf der anderen Seite behauptest du - etwas selbstmitleidig, wenn ich das sagen darf - dass dich alle allein lassen, sich niemand um dich kümmert und die Welt ungerechterweise all die guten Sachen vergessen hat, die du geleistet hast.

Vielleicht erst einmal zu den Schuldgefühlen: Ich habe nicht den Eindruck, dass du dich schuldig fühlen solltest. Ich bin mir nicht sicher, wie ausgeprägt deine Erkältungssymptome waren und wie verantwortungsvoll du durch den Corono-Präventionsalltag gehst - aber ich bin mir sicher, dass viele Menschen in deiner Situation genauso gehandelt und ihre Geburtstagsfeier nach einem negativen Selbsttest ebenfalls nicht abgesagt hätten. Du hast deinen Freundinnen nicht absichtlich etwas Böses angetan. Das heißt, dass es de facto erst einmal keinen Grund für Schuldgefühle gibt. Natürlich muss man trotzdem Verantwortung für das eigene Handeln übernehmen, auch für dessen nicht intendierte Konsequenzen. Wenn du jemanden aus Unachtsamkeit mit einem Auto angefahren hättest, würdest du die Verantwortung dafür auch übernehmen. Interessanterweise hindern uns unsere Schuldgefühle oft genau am Übernehmen dieser Verantwortung. Häufig erfüllen sie fast eine autoerotische, selbstaffizierende Funktion und sorgen dafür, dass wir glauben, wir seien besonders gute Menschen, eben weil wir so ausgeprägte Schuldgefühle haben. Und weil wir so gute Menschen sind, bringen wir eben auch keine Blumen vorbei oder lassen sie schicken, und wir hören auch nicht auf, um Verzeihung für etwas zu bitten, das zu verzeihen die Aufgabe der anderen Person gar nicht ist.

Es ist immer schwierig, das eigene Leben und wie es sich aus unserer Innenperspektive anfühlt, mit dem Leben anderer Menschen und unserer Außenperspektive darauf zu vergleichen. Was ich damit meine: Du kannst gar nicht wissen, ob sich deine Freundinnen nicht auch allein oder gar einsam fühlen, trotz ihrer Beziehungen. 

Dieses Muster könnte auch mit deinem Gefühl zu tun haben, dass die Welt dich ungerechterweise allein gelassen hat, obwohl du deiner Meinung nach ein ganz besonders guter Mensch bist. Aus deinen Beschreibungen des Lebens deiner nun ebenfalls coronokranken Freundinnen klingt ein verständlicher Neid. Allerdings ist es immer schwierig, das eigene Leben und wie es sich aus unserer Innenperspektive anfühlt, mit dem Leben anderer Menschen und unserer Außenperspektive darauf zu vergleichen. Was ich damit meine: Du kannst gar nicht wissen, ob sich deine Freundinnen nicht auch allein oder gar einsam fühlen, trotz ihrer Beziehungen. Den kannst auch nicht wissen, wie du dich gerade fühlen würdest, wenn du selbst eine Beziehung hättest. Wenn man krank ist, fühlt man sich meistens etwas einsam, weil man es in mancher Hinsicht auch ist: Man ist grundsätzlich ausgeschlossen aus der Welt der Gesunden, daran lässt sich nichts ändern, das Leben dort draußen findet ohne einen statt. Daher würde ich dich fragen wollen, innerlich doch zu überprüfen, inwiefern du diesbezüglich nicht Opfer deiner eigenen Projektionen wirst. Wenn du von diesen Projektionen ablässt, wird es dir sicherlich auch einfacher fallen, der Einsamkeit des Krankseins ins Auge zu blicken. Ich glaube, du musst dich dieser Einsamkeit stellen, du musst sie umarmen, denn sie gehört zum Leben dazu. Und wenn dir das gelingt, musst du dich auch nicht mit dem Home Office herumplagen, um dich selbst davon zu überzeugen, dass das alles doch nicht so schlimm ist.

Ich hoffe, ich bin dir mit diesem Brief nicht zu nahe getreten. Und in keinem Fall möchte ich dir das Gefühl geben, dass die Dinge, die du gerade durchmachst, nicht etwas sehr, sehr Menschliches und Verständliches wären. Denn da sind sie und in vieler Hinsicht sind deine Reaktionen auf das Geschehen mehr als adäquat. Aber ich glaube auch, dass es dir besser gehen könnte, wenn es dir gelänge, dich von der Illusion zu befreien, ein ganz besonders guter Mensch zu sein. Wie gesagt, die allermeisten von uns sind es nicht - und wir müssen es auch nicht sein.

Und um auf deine Frage nach dem Karma zurückzukommen: Ich glaube es gibt so etwas wie Karma. Nur verstehen wir es falsch. Es besteht nicht darin, dass die Welt uns Geschenke macht, weil wir uns gut verhalten haben, sondern in dem guten Gefühl, das sich einstellt, wenn wir ehrlich zu uns selbst sind und im Einklang mit der Welt leben. Und wenn wir anderen Menschen helfen, ohne eine Gegenleistung dafür zu erwarten. Und das kann man meistens viel, viel besser, wenn man nicht das innere Bild aufrecht erhalten muss, ein ganz besonders guter Mensch zu sein.

Ich wünsche dir gute Besserung und alles, alles Gute auf deinem Weg durch diese schwierigen Gewässer! Auch wenn du manchmal gerade den gegenteiligen Eindruck hast: Du bist nicht allein. Wirklich nicht.

Alles Liebe, Daniel

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