Das Grau der Trauer
Zu trauern heißt auch, mit dem Verlust der eigenen psychischen Intaktheit zu leben. Über einen Zustand, in dem die Worte fehlen
Schwarz ist die Farbe der Trauer, zumindest in ihren abendländischen Ritualen, das alles Licht in sich aufnehmend, alles auslöschende Schwarz. Und manchmal fühlt sich Trauer auch so an: Wie der Nachklang einer Explosion, die im Inneren nichts als verbrannte Erde hinterlässt. Doch viel häufiger läuft es ganz anders ab, viel häufiger wünscht man sich, mit so einem eindeutigen Gefühl konfrontiert zu werden, mit einer so großen, absoluten Farbe und ihrem Versprechen auf Katharsis. Meistens findet sich die wahre Farbe der Trauer in den Abstufungen des Graus.
Vor einigen Monaten starb mein Vater, der mir so viel mehr bedeutete, als ich es an dieser Stelle sagen kann. Es war nicht meine erste Begegnung mit dem Gefühl und der Arbeit der Trauer. Ich schreibe das nicht, um Mitleid zu erwecken. Auch nicht, weil ich glaube, irgendeine Art von Expert*innenperspektive auf Trauer einnehmen zu können. Im Gegenteil, vielmehr sind wir alle Expert*innen dieses Gefühls. Trauer gehört für uns alle zum Leben – egal welche biographischen Zufälle dazu führen, dass wir mal früher, mal später mit ihr konfrontiert werden. Irgendwann müssen wir alle mit dem Verlust eines geliebten Menschen umgehen. Und die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass wir den daraus resultierenden Gefühlen nicht gewachsen sind.
Trauer gehört für uns alle zum Leben – egal welche biographischen Zufälle dazu führen, dass wir mal früher, mal später mit ihr konfrontiert werden. Irgendwann müssen wir alle mit dem Verlust eines geliebten Menschen umgehen. Und die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass wir den daraus resultierenden Gefühlen nicht gewachsen sind.
Ich habe es so weit wie möglich aufgeschoben, diesen Text zu schreiben, nicht nur, weil ich zurzeit einen Terminplan habe, der mir übermenschliche Kräfte abzuverlangen scheint, sondern auch weil mich die Trauer um meinen Vater überfordert. Die Sprache entzieht sich mir, wenn ich darüber schreibe möchte. Sie ist nicht in Reichweite. Sie nickt mir erst aufmunternd zu und verabschiedet sich dann mit einem traurigen Kopfschütteln. Ich mache eine Phase durch, in der ich sehr leicht erschütterbar bin. Eine Phase, in der sich das Verlieren eines schönen Wollschals, den ich lange besessen habe, wie ein Ereignis unerklärlichen Ausmaßes anfühlen kann und Tage frenetischen Suchens nach sich zieht. Eine Phase intensiver Arbeitsmonate, in denen ich anstatt mich um mich zu kümmern, fast jede Woche unterwegs bin und mich daran gewöhnt habe, dass meine extreme Erschöpfung ein Dauerzustand geworden ist. In der ich fast schon zwanghaft Dinge kaufe, die mir früher Freude geschenkt haben, es inzwischen aber nicht mehr tun, ich Angst um mein Leben bekomme, wenn ich Nachrichten lese und an die Zukunft denke, mich zwinge, an viele Dinge nicht zu denken, und kaum Textnachrichten oder Emails beantworte, auch die meiner besten Freundinnen und Freunden und meiner Familie nicht. Eine Phase, in der mir auch bei kleinsten Anlässen immer wieder die Tränen kommen.
In der Hoffnung auf Trost las ich vor kurzem Chimamanda Ngozi Adichies Buch „Notes on Grief“, ein Buch über ihre Trauer um ihren Vater. Ngozi Adichie es ist eine Autorin, die ich unheimlich schätze und deren Bücher mir viel bedeuten. Doch bei jeder Seite, die ich las, wuchsen meine Enttäuschung und meine eigene Trauer, ohne, dass ich sagen konnte, warum. Als Ngozi Adichie von der Nachricht vom Tod ihres Vaters erfährt, bekommt sie nicht enden wollende Weinkrämpfe, schreit, schlägt mit ihren Händen auf den Küchenboden. Ihr Buch ist ein Essay über große Gefühle, über große Wut, über große gemeinsame Lachanfälle, die sie mit ihren Geschwistern hat. Es ist ein sehr schönes Buch, aber eines, das meinem Eindruck nach weniger mit Trauer zu tun hat als damit, wie wir sie uns vorstellen, damit, wie wir wollen, dass sie abläuft. Ich möchte Ngozi Adichies Erfahrung nicht in Zweifel ziehen. Aber ich habe den Eindruck, dass es verführerisch sein kann, zu wissen, wie wir uns fühlen sollen, wenn uns unsere Gefühle überfordern. Dass es verführerisch sein kann, an einer Vorstellung von Trauer in absolutem Schwarz festzuhalten, voll großer Gesten und noch größeren Einsichten.
Diese Vorstellung von Trauer hat sich in einer Reihe lange tradierter kultureller Bilder niedergeschlagen, die natürlich auch unsere realen Trauerprozesse beeinflussen. Aber ich glaube nicht, dass sie die eigentliche Substanz der Trauer umreißt. Besteht Trauer nicht gerade im Umgang mit ihren Unwägbarkeiten? Im Tanz mit der Verdrängung? Oder wie ein Freund von mir kürzlich am Telefon meinte, gerade in dem Wissen, dass es so etwas wie eine Meteorologie der Trauer nicht geben kann? Der Traueralltag ist durch nicht vorhersehbare Pegelstandsveränderungen gekennzeichnet, durch Stimmungsschwankungen, denen man hilflos gegenübersteht. Durch viele kleine Veränderungen des Lebens, die man nicht abschätzen kann und die uns davon abhalten, ein Gespür für unsere inneren Wetterlagen zu bekommen, für die Regenschauer und Gewitterstürme, die dunklen Morgen und lichten Abende.
Eine der größten Herausforderungen von Trauer besteht darin, dass sie uns dazu zwingt, uns in unserem Nicht-Wissen, unserem Nicht-Verstehen einzurichten. Wenn wir nicht verstehen wollen, dass wir den Tod eines geliebten Menschen lange nicht verstehen können, sorgen wir nur dafür, dass wir ihn nie verstehen.
Ein Grund für diesen psychische Instabilität des Trauerns liegt in der Uneindeutigkeit von Verlusten. Das Konzept des „uneindeutigen Verlusts“ geht auf die Psychologin Pauline Boss zurück und beschreibt einen Verlust, bei dem unklar bleibt, was genau man verloren hat. Einige der bekanntesten und am besten erforschten Beispiele sind die Trauer um Menschen mit Demenz, deren Persönlichkeit immer mehr verschwindet, oder die Trauer um Vermisste, von denen man annehmen muss, dass sie tot sind. Uneindeutige Verluste zeichnen sich durch einen Mangel an Informationen, durch ein Paradox von Anwesenheit und Abwesenheit, ein „sowohl als auch“ aus, durch eine Ambivalenz, die dafür sorgt, dass der Trauerprozess ins Stocken gerät oder gänzlich ausbleibt. Wege zu finden, mit der neuen Situation zurechtzukommen, grundlegende Entscheidungen für ein neues Leben zu treffen, weiterzumachen und neu anzufangen – all das wird durch diese Ambivalenz erschwert. In mancher Hinsicht lässt sich das Konzept von Pauline Boss auf jeden größeren Verlust ausweiten. Wenn ein Mensch, den wir lieben, stirbt, wissen wir lange nicht, was wir mit ihm und an ihm verloren haben. Wir können es schlicht nicht wissen, das zeigt sich erst mit der Zeit. In ihrer Essenz ist Trauer ein durch und durch uneindeutiges Gefühl.
Gerade, wenn es um unsere intimsten Verluste geht, sehnen wir uns nach Eindeutigkeit, nach Momenten der Klarheit, des Verstehens. Doch diese Momente sind selten. Große Einsichten haben nicht die Angewohnheit, sich zu offenbaren, wenn man sie braucht. Und wenn sie es tun, tendieren sie nicht dazu, allzu lange nachzuwirken. Es ist nicht nur so, dass wir uns gegen das Wissen um Verlust und Tod wehren oder dass wir diese Phänomene und ihre Bedeutung für unser Leben lange schlicht nicht verstehen können, wir müssen auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass wir sie nie verstehen werden. Eine der größten Herausforderungen von Trauer besteht darin, dass sie uns dazu zwingt, uns in unserem Nicht-Wissen, unserem Nicht-Verstehen einzurichten.
Wenn wir versuchen, unser Leben dem Wunsch nach Eindeutigkeit nach auszurichten, erreichen wir nur das Gegenteil von Verstehen. Die Einsichten, nach denen wir uns sehnen, können sich nur einstellen, indem wir dem Trauern Zeit geben, indem wir jeden Tag aufstehen und einen Kaffee trinken, indem wir zur Arbeit gehen, uns an den Schreibtisch setzen, uns etwas kochen, spazierengehen, uns unsere Irrationalität zugestehen und ein paar duftende Lilien in einer Vase arrangieren. Indem wir Menschen begegnen, die uns ausweichen, weil wir trauern, und mit anderen Menschen sprechen, die uns zu unserer Trauer nichts außer Plattitüden zu sagen haben. Indem wir uns in die Welt trauen, auch wenn wir es nicht möchten, und, mit anderem Worten, am Leben teilnehmen, es nicht aufschieben. Wenn wir nicht verstehen wollen, dass wir den Tod eines geliebten Menschen lange nicht verstehen können, sorgen wir nur dafür, dass wir ihn nie verstehen.
In ihrem wundervollen Trauerbuch „The Year of Magical Thinking“ schreibt Joan Didion, dass Trauer ein Ort sei, den niemand von uns kenne, bis wir ihn erreichten. Wir erwarteten, dass uns ein Verlust untröstlich mache, das wir verrückt vor Trauer würden. Aber wir erwarteten nicht, dass wir buchstäblich verrückt werden. So verrückt wie in ihrem Fall, die mit kühlem Kopf glaubte, ihr verstorbener Ehemann würde seine Schuhe brauchen, wenn er aus dem Krankenhais zurückkäme. So verrückt, wie in meinem Fall, der ich tagelang so verzweifelt wie vergeblich nach einem verlorenen Schal sucht, den Menschen, die er liebt ausweicht, der so viel arbeitet, dass er die Grenzen seiner Kräfte jeden Tag überschreitet und damit, obwohl er es weiß, immer weitermacht.
Die Archäologie des Verlusts findet nie geordnet statt. Mit jedem Spatenstich, mit jedem Freilegen alter Strukturen, kommen Dinge zutage, mit denen man nicht rechnet. Es dauert lange, bis unsere Ausgrabungen ein Ergebnis haben, bis die Trauer erst eine vorübergehende Erleichterung findet, wieder schwerer wird, und dann erneut Erleichterung findet, bis sie irgendwann so ins Leben übergegangen ist, dass sie sich manchmal anfühlt, als wäre sie vorbei.
Auch die Autorin Helen McDonald erzählt in ihrem berührenden Buch „H is for Hawk“ von ihrer Trauer um ihren Vater. Darin beschreibt sie unter anderem, dass sie immer wieder Phasen durchmachte, in denen ihr die Welt auf einmal unwirklich erschien, in der sie ihre selbstverständliche Lebensrealität nicht mehr erkannte. Die Archäologie des Verlusts, so McDonald, findet nie geordnet statt. Mit jedem Spatenstich, mit jedem Freilegen alter Strukturen, kommen Dinge zutage, mit denen man nicht rechne. Wie recht sie hat. Egal, wie wir uns auf den Tod eines geliebten Menschen vorbereiten, egal wie alt wir sind, er rührt tief in uns etwas auf, sorgt für überraschende, manchmal verstörende Gefühle, Erinnerungen und Stimmungen. Eine Zeitlang tauchen wir in eine Welt ab, die unter Wasser zu liegen scheint. Wir wehren uns gegen die Realität unseres neuen Lebens, möchten das Unwiderrufliche widerrufen, wünschen uns die Berührung einer Hand, die für immer kalt ist. Wir können uns schuldig dafür fühlen, noch am Leben zu sein, manchmal möchten wir mit den Toten sterben. Es dauert lange, bis unsere Ausgrabungen ein Ergebnis haben, bis die Trauer erst eine vorübergehende Erleichterung findet, wieder schwerer wird, und dann erneut Erleichterung findet, bis sie irgendwann so ins Leben übergegangen ist, dass sie sich manchmal anfühlt, als wäre sie vorbei.
Doch wie lässt es sich mit Trauer leben? Wie lässt sich das Leben führen, dass wir führen müssen, um durch Trauerphasen zu kommen? Pauline Boss, die so viele Jahre lang unseren Umgang mit uneindeutigen Verlusten erkundet hat, stellte immer wieder fest, dass Menschen überraschend widerstandsfähig sein können. Eine der zentralen Botschaften ihrer Arbeit ist, dass es uns gelingen kann, mit der Ambivalenz von Trauer zu leben. Manchmal, so Boss, lassen sich schlicht keine Lösungen für unsere Probleme finden, weil es diese Lösungen nicht gibt. Manchmal lasse sich Uneindeutigkeit nicht bearbeiten, wegdenken oder wegtherapieren. Manchmal blieben drängende Fragen unbeantwortet, weil sie keine Antwort haben. Unsere Aufgabe bestehe dann darin, die Uneindeutigkeit zu akzeptieren und in dieser Akzeptanz nach neuen Möglichkeiten für uns und unser Leben zu suchen. Für Boss hatte das viel mit der Erarbeitung einer gewissen inneren Freiheit zu tun. Wir gehen mit der Annahme durch das Leben, dass man über alles „hinwegkommen“ müsse. Wenn man trauert, geht in der Regel genau das nicht. Stattdessen müssen wir, um unseren Weg weiterzugehen, genau von dieser Annahme Abschied nehmen.
Eine der für mich treffendsten Beschreibung der ausgedehnten Grauzone des Trauerns hat die französische Rabbinerin Delphine Horvilleur in ihrem schmalen, beeindruckenden Buch „Mit den Toten leben“ gefunden. „Es gehört zum Wesen des Menschen“, schreibt sie dort, „zu glauben, er könne sich den Tod vom Leib schaffen, Schutzwälle und Erzählungen um ihn herum konstruieren, ihn listig fernhalten.“ Doch der Tod findet uns, möchte man hinzufügen, er sitzt beim Abendessen mit uns am Tisch, begleitet uns auf dem Weg zur Arbeit, ins Kino, ins Museum, ins Konzert, fährt mit uns auf Reisen und hört bei jeder Nachricht, die wir schreiben, bei jedem Telefonat, das wir führen, mit. Die Wand zwischen Leben und Tod ist nicht so viel durchlässiger, als wir glauben – und es ist ungeheuer schmerzhaft, das zu erkennen. Es kann kein Leben ohne schwerwiegende Verluste geben.
Ein Mensch zu sein, heißt zu trauern, heißt immer wieder, sich dem Grau der Trauer aussetzen zu müssen, in seine Entrücktheit, seine Irrealität abzutauchen. Trauern besteht nicht darin, dass wir uns erfolgreich von den Toten trennen und das Schwarz, das absolute, alles Licht in sich aufnehmende und alles auslöschende Schwarz irgendwann wieder ablegen. Trauern besteht darin, dass wir der ultimativen Verpflichtung überhaupt nachkommen – anzuerkennen, dass der Tod die Bedingung unseres Lebens ist, der Boden, auf dem wir unser Leben aufbauen.
Ein Mensch zu sein, heißt zu trauern, heißt immer wieder, sich dem Grau der Trauer aussetzen zu müssen, in seine Entrücktheit, seine Irrealität abzutauchen. Trauern besteht nicht darin, dass wir uns erfolgreich von den Toten trennen und das Schwarz, das absolute, alles Licht in sich aufnehmende und alles auslöschende Schwarz irgendwann wieder ablegen. Trauern besteht darin, dass wir der ultimativen Verpflichtung überhaupt nachkommen – anzuerkennen, dass der Tod die Bedingung unseres Lebens ist, der Boden, auf dem wir unser Leben aufbauen. Trauer ist nicht nur eine notwendige Folge der Bindungen, die wir schließen, sie ist auch ihre grundsätzliche Bedingung. Nur, wenn wir unsere Sterblichkeit zur Grundlage unserer Beziehungen machen, können wir lieben – jene Menschen, die von uns gegangen sind, und jene, mit denen wir noch unseren Alltag teilen. Das ist etwas, was wir nur durch den Tod geliebter Menschen lernen können. Indem wir Verlust und Tod trauernd in unser Leben lassen, kann unser Leben auch weitergehen.
Meine Trauer ist noch sehr frisch, mein Tanz mit der Verdrängung noch akut, mein Alltagsgefühl ist immer noch schmerzhaft irreal, von einer Meteorologie meiner Trauer kann noch lange keine Rede sein. Mein Verstehen bleibt zurzeit immer wieder aus, meine Sprache ebenfalls. In diesem Moment des Graus fällt es mir schwer, an all das zu glauben. Doch ich weiß, dass in diesen Gedanken auch so etwas wie Trost liegt. Wenigstens ein bisschen.