Dein Gehirn ist kein Computer – es ist eine Elster
Jeden Freitag erzähle ich dir von Erkenntnissen aus Neurowissenschaft und Psychologie, die du kennen solltest. Heute: über eine Metapher, die du vergessen solltest – und eine, die du kennen solltest.
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Zurück zum harten Alltag deines Gehirns: Was kommt heraus, wenn man 97.367 mit sich selbst multipliziert, und zwar 5.000 mal? Weißt du nicht? Pff. Okay, du könntest das jetzt googeln. Aber sagen wir, du befindest dich im Jahr 1946. Die Erfinder von Google waren noch nicht einmal geboren. Aber seien wir ehrlich: Die Aufgabe im Kopf lösen? Unmöglich.
Arthur Burks wusste am 14. Februar 1946, wie unmöglich diese Aufgabe war. Er und die Mitglieder seiner Forschungsgruppe der University of Pennsylvania hatten die Öffentlichkeit eingeladen, weil sie Großes zu verkünden hatten. Sie wollten der Welt den ENIAC präsentieren, den Electronic Numerical Integrator and Computer. Die erste Maschine, die solch komplexen Berechnungen blitzschnell durchführen konnte. Der ENIAC wog fast 30 Tonnen, brauchte etwa 18.000 Elektronenröhren und 7.200 Dioden, die 150 Kilowatt elektrischer Leistung verbrauchten. Sein Bau dauerte länger als 200.000 Arbeitsstunden. So sah das gute Stück aus:
Als Burks ankündigte, dass ENIAC die Aufgabe gleich lösen würde, sollen sich die Reporter im Saal über ihre Notizblöcke gebeugt haben. "Schauen Sie genau hin, Sie könnten es verpassen", warnte er und drückte einen Knopf. Noch bevor die Reporter aufschauten, war die Aufgabe abgeschlossen und wurde auf einer Lochkarte ausgeführt, die Burks in die Hand gedrückt wurde. Voilà!
Die Wissenschaftler:innen ließen ihre Maschine noch einige andere Aufgaben durchführen und der Saal stand kopf. Am nächsten Tag machte die Nachricht die Runde. Ein Reporter der Times schrieb: "Das Gerät ist so raffiniert, dass seine Schöpfer es aufgegeben haben, nach Problemen zu suchen, die so lange dauern, dass sie nicht gelöst werden können."
Ha, das ist die Idee: Dein Gehirn ist wie ein Computer!
Das war ein Meilenstein der Computerforschung. Aber auch einer für unser Verständnis als Menschen. Der ENIAC wurde anfangs immer wieder mit dem menschlichen Gehirn verglichen. Er sei ein "Robotergehirn" oder eine "Gehirnmaschine". Relativ schnell wurde der Vergleich aber umgedreht. Es entstand der vielleicht einflussreichste Vergleich in er Geschichte der Hirnforschung: Das Gehirn sei wie ein Computer. Spätestens 1958 brachte John von Neumann in seiner Arbeit The computer and the brain diese Idee unter die Leute.
Die Überzeugung: Das Gehirn sei wie eine Rechenmaschine, nur aus Fleisch und Blut. Eine in sich geschlossene informationsverarbeitende Maschine, die im Schädel eingeschlossen ist, wie der ENIAC in seinem verschlossenen Raum eingeschlossen war. Es habe Gigabytes an Arbeitsspeicher und Megahertz an Verarbeitungsgeschwindigkeit.
Ha, die Idee ist gar nicht mal so gut
Die Metapher geht davon aus, der Geist (= The Mind, eine gute deutsche Übersetzung gibt es aber nicht) sei eine Sache, die im Schädel versiegelt ist. Und diese versiegelte Sache bestimme, wie gut Menschen denken können. Und weil der Geist versiegelt sei, arbeite er nach einem simplen Muster: Er bekomme Input von der Welt außen, mache etwas mit diesem Input, und generiere daraus Output.
Mit den Jahren kamen immer neue Metaphern ins Spiel. Eine davon war die Vorstellung, das Gehirn sei wie ein Muskel. Wie den Bizeps könne man ihn trainieren und je nachdem, wie sehr man ihn trainiert, könne man intelligenter werden – oder eben nicht (use it or lose it). Eine neuere Idee ist, das Gehirn sei wie das Internet.
So gut wie alle Metaphern, wie wir uns die Arbeit unseres Gehirns vorzustellen haben, haben etwas gemeinsam: Sie gehen davon aus, dass das Gehirn allein fürs Denken zuständig ist.
Aber stimmt das? Der Wissenschaftler Matthew Cobb schreibt im Guardian (Opens in a new window): "Wenn wir das Gehirn als einen Computer betrachten, der passiv auf Eingaben reagiert und Daten verarbeitet, vergessen wir, dass es ein aktives Organ ist, Teil eines Körpers, der in die Welt eingreift."
Und Frédéric Vallée-Tourangeau, Professor für Psychologie an der Kingston University in Großbritannien, sagt: "Das Denken mit dem Gehirn allein – wie es ein Computer tut – ist nicht gleichbedeutend mit dem Denken mit dem Gehirn, den Augen und den Händen."
Metaphern haben alle blinde Punkte, an denen der Vergleich hinkt. Logisch, sonst wären sie keine Metaphern, sondern ein und dieselbe Sache. Die viel bessere Metapher ist trotzdem vielleicht eine ganz andere.
Ist dein Gehirn wie eine Elster?
Elstern verwenden für ihre Nester eine erstaunliche Vielfalt an Materialien. Praktisch alles, was sie finden können: nicht nur Zweige, Äste und Moos, sondern auch Angelschnur, Plastik, Löffel, Gabeln, Schmuck, Fahrradketten. Unser Gehirn, so könnte man sagen, ist wie eine Elster. Alles, was uns umgibt, ob unser eigener Körper, unsere Umwelt, Technik oder andere Gehirne, wirkt sich auf das Gehirn aus und damit aufs Denken. Und mehr als das: All das ist Teil des Denkens.
Oder wie Anne Murphy Paul in ihrem Buch The Extended Mind schreibt: "Zum einen ist Denken ein Akt des ständigen Zusammenfügens und Wiederzusammensetzens, das auf Ressourcen außerhalb des Gehirns zurückgreift. Zum anderen beeinflusst die Art der Materialien, die zum "Denken" zur Verfügung stehen, die Art und Qualität der Gedanken, die produziert werden können. Und schließlich: Die Fähigkeit, gut zu denken, d. h. intelligent zu sein, ist keine feste Eigenschaft des Individuums, sondern ein sich verändernder Zustand, der vom Zugang zu extra-neuralen Ressourcen und dem Wissen um deren Nutzung abhängt."
Um diese extra-neuralen Ressourcen geht es in den kommenden Wochen. Es geht um Studien und Erkenntnisse, die zeigen: Du denkst nicht nur mit deinem Gehirn. Nächste Woche beginnen wir mit deinem Körper.
Bis dahin! Euer Bent ✌️🧠❤️